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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und Verbrechen

Verbrecher zu vermindern. Das eine folgt aus dem andern, und keine noch
so krankhafte Anlage zum Verbrechen kann daran etwas ändern.

Nur zweierlei ist unbedenklich einzuräumen. Erstens, daß es nicht gleich-
giltig ist, welcher Religionsgemeinschaft der einzelne angehört, und damit
komme ich auf die verschiednen Religionen zu sprechen, die Sie trotz der
Überschrift Ihres Aufsatzes wiederholt mit der Religion oder Religiosität ver¬
wechseln.

Obwohl nämlich kein Mensch schlechthin ohne Religion ist, gilt doch auch
vou der Religion, was vom Gewissen gilt: die religiöse Anlage will gepflegt,
erzogen sein. Je nach dem werden sich nicht nur das religiöse Leben und die
religiösen Interessen sehr verschieden gestalten, d. h. bald sich durch Wärme
auszeichnen, bald verkümmern. Auch die religiösen Vorstellungen werden sich,
da die Religion zugleich Sache der Erkenntnis ist, verschieden entwickeln und
sich bald zu einer gewissen Höhe erheben, bald auf einer niedrigen Stufe stehen
bleiben. Und die höhern oder niedern religiösen Vorstellungen werden wieder
notwendig auf die sittlichem Vorstellungen zurückwirken. Denn die Religion übt,
wie gezeigt, .nicht nur aus den Gehorsam gegen das Gewissen einen ent¬
scheidenden Einfluß aus, sondern trägt auch zur Schärfung des Gewissens
selbst bei. Aber in beiden Fällen ist doch die Voraussetzung, daß auch die
Vorstellungen von dem Wesen der Religion, von Gott, einer göttlichen Ge¬
rechtigkeit, einem Fortleben nach dem Tode usw. bis zu einem gewissen Grade
erleuchtet sind. Unvollkommue religiöse Vorstellungen können das Gewissen
nur abstumpfen und in seinem Urteil schwankend machen, daher die Thatsache,
daß bei Religionen oder Religionsgesellschaften, die wegen mangelhafter Ent¬
wicklung der religiösen Anlage ans einer tiefen Stufe religiöser Erkenntnis
stehen, auch die sittlichen Vorstellungen im Argen liegen.

Welcher Unterschied in dieser Beziehung schon zwischen Katholizismus
und Protestantismus besteht, obwohl beide nur Bekenntnisse derselben Religion
sind, ist schon angedeutet worden. Weil im Katholizismus wegen unklarer
religiöser Vorstellungen Religion und Gehorsam gegen die Kirche gleich¬
bedeutend sind, gilt auch für erlaubt, was die Diener der Kirche thun. Es
ist nur folgerichtig, wenn sich nach Fern ein Verbrecher damit entschuldigt:
"Die Verbrechen find keine Sünden, denn sie werden auch von Priestern be¬
gangen." Ebenso begreiflich ist es, wenn in Sizilien, wie Sie nach Locatclli
berichten, "das Beispiel mehrerer tausend Mönche, die im Besitz von Reichtum
und Einfluß völlig müßig dahinlebten und die Lebhaftigkeit und glühende
Sinnlichkeit des Südländers hatten, entsittlichend ans die untern Klassen wirkte,
Weil ihnen Verführung, Ehebruch und Blutschande verzeihliche Sünden zu sein
schienen." Wird überdies im Beichtstuhl auch dem ärgsten Verbrecher Absolution
erteilt, sobald er sich den kirchlichen Bußen unterzieht, so muß mau sich über
das Bekenntnis eines andern von Ferri angeführten Verbrechers: "Ja, ich


Religion und Verbrechen

Verbrecher zu vermindern. Das eine folgt aus dem andern, und keine noch
so krankhafte Anlage zum Verbrechen kann daran etwas ändern.

Nur zweierlei ist unbedenklich einzuräumen. Erstens, daß es nicht gleich-
giltig ist, welcher Religionsgemeinschaft der einzelne angehört, und damit
komme ich auf die verschiednen Religionen zu sprechen, die Sie trotz der
Überschrift Ihres Aufsatzes wiederholt mit der Religion oder Religiosität ver¬
wechseln.

Obwohl nämlich kein Mensch schlechthin ohne Religion ist, gilt doch auch
vou der Religion, was vom Gewissen gilt: die religiöse Anlage will gepflegt,
erzogen sein. Je nach dem werden sich nicht nur das religiöse Leben und die
religiösen Interessen sehr verschieden gestalten, d. h. bald sich durch Wärme
auszeichnen, bald verkümmern. Auch die religiösen Vorstellungen werden sich,
da die Religion zugleich Sache der Erkenntnis ist, verschieden entwickeln und
sich bald zu einer gewissen Höhe erheben, bald auf einer niedrigen Stufe stehen
bleiben. Und die höhern oder niedern religiösen Vorstellungen werden wieder
notwendig auf die sittlichem Vorstellungen zurückwirken. Denn die Religion übt,
wie gezeigt, .nicht nur aus den Gehorsam gegen das Gewissen einen ent¬
scheidenden Einfluß aus, sondern trägt auch zur Schärfung des Gewissens
selbst bei. Aber in beiden Fällen ist doch die Voraussetzung, daß auch die
Vorstellungen von dem Wesen der Religion, von Gott, einer göttlichen Ge¬
rechtigkeit, einem Fortleben nach dem Tode usw. bis zu einem gewissen Grade
erleuchtet sind. Unvollkommue religiöse Vorstellungen können das Gewissen
nur abstumpfen und in seinem Urteil schwankend machen, daher die Thatsache,
daß bei Religionen oder Religionsgesellschaften, die wegen mangelhafter Ent¬
wicklung der religiösen Anlage ans einer tiefen Stufe religiöser Erkenntnis
stehen, auch die sittlichen Vorstellungen im Argen liegen.

Welcher Unterschied in dieser Beziehung schon zwischen Katholizismus
und Protestantismus besteht, obwohl beide nur Bekenntnisse derselben Religion
sind, ist schon angedeutet worden. Weil im Katholizismus wegen unklarer
religiöser Vorstellungen Religion und Gehorsam gegen die Kirche gleich¬
bedeutend sind, gilt auch für erlaubt, was die Diener der Kirche thun. Es
ist nur folgerichtig, wenn sich nach Fern ein Verbrecher damit entschuldigt:
„Die Verbrechen find keine Sünden, denn sie werden auch von Priestern be¬
gangen." Ebenso begreiflich ist es, wenn in Sizilien, wie Sie nach Locatclli
berichten, „das Beispiel mehrerer tausend Mönche, die im Besitz von Reichtum
und Einfluß völlig müßig dahinlebten und die Lebhaftigkeit und glühende
Sinnlichkeit des Südländers hatten, entsittlichend ans die untern Klassen wirkte,
Weil ihnen Verführung, Ehebruch und Blutschande verzeihliche Sünden zu sein
schienen." Wird überdies im Beichtstuhl auch dem ärgsten Verbrecher Absolution
erteilt, sobald er sich den kirchlichen Bußen unterzieht, so muß mau sich über
das Bekenntnis eines andern von Ferri angeführten Verbrechers: „Ja, ich


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[0549] Religion und Verbrechen Verbrecher zu vermindern. Das eine folgt aus dem andern, und keine noch so krankhafte Anlage zum Verbrechen kann daran etwas ändern. Nur zweierlei ist unbedenklich einzuräumen. Erstens, daß es nicht gleich- giltig ist, welcher Religionsgemeinschaft der einzelne angehört, und damit komme ich auf die verschiednen Religionen zu sprechen, die Sie trotz der Überschrift Ihres Aufsatzes wiederholt mit der Religion oder Religiosität ver¬ wechseln. Obwohl nämlich kein Mensch schlechthin ohne Religion ist, gilt doch auch vou der Religion, was vom Gewissen gilt: die religiöse Anlage will gepflegt, erzogen sein. Je nach dem werden sich nicht nur das religiöse Leben und die religiösen Interessen sehr verschieden gestalten, d. h. bald sich durch Wärme auszeichnen, bald verkümmern. Auch die religiösen Vorstellungen werden sich, da die Religion zugleich Sache der Erkenntnis ist, verschieden entwickeln und sich bald zu einer gewissen Höhe erheben, bald auf einer niedrigen Stufe stehen bleiben. Und die höhern oder niedern religiösen Vorstellungen werden wieder notwendig auf die sittlichem Vorstellungen zurückwirken. Denn die Religion übt, wie gezeigt, .nicht nur aus den Gehorsam gegen das Gewissen einen ent¬ scheidenden Einfluß aus, sondern trägt auch zur Schärfung des Gewissens selbst bei. Aber in beiden Fällen ist doch die Voraussetzung, daß auch die Vorstellungen von dem Wesen der Religion, von Gott, einer göttlichen Ge¬ rechtigkeit, einem Fortleben nach dem Tode usw. bis zu einem gewissen Grade erleuchtet sind. Unvollkommue religiöse Vorstellungen können das Gewissen nur abstumpfen und in seinem Urteil schwankend machen, daher die Thatsache, daß bei Religionen oder Religionsgesellschaften, die wegen mangelhafter Ent¬ wicklung der religiösen Anlage ans einer tiefen Stufe religiöser Erkenntnis stehen, auch die sittlichen Vorstellungen im Argen liegen. Welcher Unterschied in dieser Beziehung schon zwischen Katholizismus und Protestantismus besteht, obwohl beide nur Bekenntnisse derselben Religion sind, ist schon angedeutet worden. Weil im Katholizismus wegen unklarer religiöser Vorstellungen Religion und Gehorsam gegen die Kirche gleich¬ bedeutend sind, gilt auch für erlaubt, was die Diener der Kirche thun. Es ist nur folgerichtig, wenn sich nach Fern ein Verbrecher damit entschuldigt: „Die Verbrechen find keine Sünden, denn sie werden auch von Priestern be¬ gangen." Ebenso begreiflich ist es, wenn in Sizilien, wie Sie nach Locatclli berichten, „das Beispiel mehrerer tausend Mönche, die im Besitz von Reichtum und Einfluß völlig müßig dahinlebten und die Lebhaftigkeit und glühende Sinnlichkeit des Südländers hatten, entsittlichend ans die untern Klassen wirkte, Weil ihnen Verführung, Ehebruch und Blutschande verzeihliche Sünden zu sein schienen." Wird überdies im Beichtstuhl auch dem ärgsten Verbrecher Absolution erteilt, sobald er sich den kirchlichen Bußen unterzieht, so muß mau sich über das Bekenntnis eines andern von Ferri angeführten Verbrechers: „Ja, ich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/549>, abgerufen am 01.09.2024.