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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und verbrechen

gemacht haben, was er ist, oder genauer gesagt: gezwungen haben, die Ver-
brecherlaufbahu zu betreten. Er ist ein beklagenswerter Kranker, mindestens
ein in einem abnormen Zustande befindlicher Mensch, der auch wie ein Kranker
zu behandeln ist und in irgend eine Heilanstalt, nicht ins Zuchthaus
gehört. Seine krankhaften, vielleicht angeerbten Anlagen bringen es mit sich,
daß er nur etwas natürliches und selbstverständliches zu thun glaubt, wenn
er ein Verbrechen begeht, wie ihm auch die Strafe, die seiner wartet, als
etwas unverdientes erscheint und er sich höchstens damit tröstet, daß auch
ehrliche Arbeit nicht vor Unfällen sicher ist. Auf alle Fälle, so schließt man,
kann bei einem Menschen, der dnrch seine ganze Anlage zum Verbrecher
vorherbestimmt ist und ein Verbrecher werden mußte, die Religion so wenig
wie irgend eine andre Macht das Verbrechen verhüten.

Das klingt alles sehr einleuchtend, zumal da die Lehre an das Mitleid
appellirt und einer falschen Humanität, die auch den Verbrecher möglichst ent¬
schuldigen, die Strafe" möglichst mildern, die Zuchthäuser möglichst behaglich
einrichten möchte, auf halbem Weg entgegenkommt. Aber ganz davon zu
schweigen, daß nach dieser Lehre die gefährlichsten Verbrecher, die sich die
meisten und größten Verbrechen zu schulde" kommen lassen, besser fahren
würden, als die kleinen, z. B. Gelegenheitsdiebe, da ihnen eine gesteigerte
krankhafte Anlage als mildernder Umstand zur'Seite stünde, sie also auf
eine gelindere Beurteilung Anspruch hätten, ganz davon zu schweigen, daß,
wer vorherbestimmte Verbrecher für möglich hält, die Willensfreiheit, die zur
Natur des Menschen gehört, leugne" muß: schon die Voraussetzung, daß es
Menschen gebe, die besonders veranlagt zum Verbrecher wären, unterliegt
gerechten Bedenken. Kein Mensch ist ohne religiöse Anlage, wie keiner ohne
Gewissen ist. Aber eine verbrecherische Anlage dürfte sich kaum sicher nachweisen
lassen. Wenn, wie die Statistik festgestellt hat, in den romanischen Ländern,
namentlich in Italien und Spanien, mehr Verbrechen als in germanischen vor¬
kommen, so ist diese Thatsache schwerlich auf eine spezifische Anlage der
romanischen Völker zum Verbreche", sonder" auf eine ausschließlich kirchliche, das
religiöse Leben beeinträchtigende Erziehung zurückzuführen, wie sie dem Katholi-
zismus eigen ist. Aber auch angenommen, daß sich Menschen mit einer aus-
gesprochnen Neigung zum Verbrechen, z. B. zum Diebstahl (Kleptomanie),
fänden, kann nicht anch die ausgesprochenste, fast unwiderstehliche Neigung
besiegt werden? Und wenn irgend etwas dem Menschen hilft, verbrecherische
Neigungen im Keime zu unterdrücken, ist es nicht die Religion, die Furcht
vor Gott, die zwar die Anlage selbst vielleicht nicht ausrottet, aber die Stimme
des Gewissens lauter schlage" und so die Neigung nicht zur That werden läßt?
Kein Zweifel: was wiederum kein Strafmittel zu leisten vermag, leistet die
Religion. Wie sie auf die Moral überhaupt einen bestimmenden Einfluß ausübt,
trägt sie auch wesentlich dazu bei, das Verbrechen zu verhüten, die Zahl der


Religion und verbrechen

gemacht haben, was er ist, oder genauer gesagt: gezwungen haben, die Ver-
brecherlaufbahu zu betreten. Er ist ein beklagenswerter Kranker, mindestens
ein in einem abnormen Zustande befindlicher Mensch, der auch wie ein Kranker
zu behandeln ist und in irgend eine Heilanstalt, nicht ins Zuchthaus
gehört. Seine krankhaften, vielleicht angeerbten Anlagen bringen es mit sich,
daß er nur etwas natürliches und selbstverständliches zu thun glaubt, wenn
er ein Verbrechen begeht, wie ihm auch die Strafe, die seiner wartet, als
etwas unverdientes erscheint und er sich höchstens damit tröstet, daß auch
ehrliche Arbeit nicht vor Unfällen sicher ist. Auf alle Fälle, so schließt man,
kann bei einem Menschen, der dnrch seine ganze Anlage zum Verbrecher
vorherbestimmt ist und ein Verbrecher werden mußte, die Religion so wenig
wie irgend eine andre Macht das Verbrechen verhüten.

Das klingt alles sehr einleuchtend, zumal da die Lehre an das Mitleid
appellirt und einer falschen Humanität, die auch den Verbrecher möglichst ent¬
schuldigen, die Strafe» möglichst mildern, die Zuchthäuser möglichst behaglich
einrichten möchte, auf halbem Weg entgegenkommt. Aber ganz davon zu
schweigen, daß nach dieser Lehre die gefährlichsten Verbrecher, die sich die
meisten und größten Verbrechen zu schulde» kommen lassen, besser fahren
würden, als die kleinen, z. B. Gelegenheitsdiebe, da ihnen eine gesteigerte
krankhafte Anlage als mildernder Umstand zur'Seite stünde, sie also auf
eine gelindere Beurteilung Anspruch hätten, ganz davon zu schweigen, daß,
wer vorherbestimmte Verbrecher für möglich hält, die Willensfreiheit, die zur
Natur des Menschen gehört, leugne» muß: schon die Voraussetzung, daß es
Menschen gebe, die besonders veranlagt zum Verbrecher wären, unterliegt
gerechten Bedenken. Kein Mensch ist ohne religiöse Anlage, wie keiner ohne
Gewissen ist. Aber eine verbrecherische Anlage dürfte sich kaum sicher nachweisen
lassen. Wenn, wie die Statistik festgestellt hat, in den romanischen Ländern,
namentlich in Italien und Spanien, mehr Verbrechen als in germanischen vor¬
kommen, so ist diese Thatsache schwerlich auf eine spezifische Anlage der
romanischen Völker zum Verbreche», sonder» auf eine ausschließlich kirchliche, das
religiöse Leben beeinträchtigende Erziehung zurückzuführen, wie sie dem Katholi-
zismus eigen ist. Aber auch angenommen, daß sich Menschen mit einer aus-
gesprochnen Neigung zum Verbrechen, z. B. zum Diebstahl (Kleptomanie),
fänden, kann nicht anch die ausgesprochenste, fast unwiderstehliche Neigung
besiegt werden? Und wenn irgend etwas dem Menschen hilft, verbrecherische
Neigungen im Keime zu unterdrücken, ist es nicht die Religion, die Furcht
vor Gott, die zwar die Anlage selbst vielleicht nicht ausrottet, aber die Stimme
des Gewissens lauter schlage» und so die Neigung nicht zur That werden läßt?
Kein Zweifel: was wiederum kein Strafmittel zu leisten vermag, leistet die
Religion. Wie sie auf die Moral überhaupt einen bestimmenden Einfluß ausübt,
trägt sie auch wesentlich dazu bei, das Verbrechen zu verhüten, die Zahl der


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[0548] Religion und verbrechen gemacht haben, was er ist, oder genauer gesagt: gezwungen haben, die Ver- brecherlaufbahu zu betreten. Er ist ein beklagenswerter Kranker, mindestens ein in einem abnormen Zustande befindlicher Mensch, der auch wie ein Kranker zu behandeln ist und in irgend eine Heilanstalt, nicht ins Zuchthaus gehört. Seine krankhaften, vielleicht angeerbten Anlagen bringen es mit sich, daß er nur etwas natürliches und selbstverständliches zu thun glaubt, wenn er ein Verbrechen begeht, wie ihm auch die Strafe, die seiner wartet, als etwas unverdientes erscheint und er sich höchstens damit tröstet, daß auch ehrliche Arbeit nicht vor Unfällen sicher ist. Auf alle Fälle, so schließt man, kann bei einem Menschen, der dnrch seine ganze Anlage zum Verbrecher vorherbestimmt ist und ein Verbrecher werden mußte, die Religion so wenig wie irgend eine andre Macht das Verbrechen verhüten. Das klingt alles sehr einleuchtend, zumal da die Lehre an das Mitleid appellirt und einer falschen Humanität, die auch den Verbrecher möglichst ent¬ schuldigen, die Strafe» möglichst mildern, die Zuchthäuser möglichst behaglich einrichten möchte, auf halbem Weg entgegenkommt. Aber ganz davon zu schweigen, daß nach dieser Lehre die gefährlichsten Verbrecher, die sich die meisten und größten Verbrechen zu schulde» kommen lassen, besser fahren würden, als die kleinen, z. B. Gelegenheitsdiebe, da ihnen eine gesteigerte krankhafte Anlage als mildernder Umstand zur'Seite stünde, sie also auf eine gelindere Beurteilung Anspruch hätten, ganz davon zu schweigen, daß, wer vorherbestimmte Verbrecher für möglich hält, die Willensfreiheit, die zur Natur des Menschen gehört, leugne» muß: schon die Voraussetzung, daß es Menschen gebe, die besonders veranlagt zum Verbrecher wären, unterliegt gerechten Bedenken. Kein Mensch ist ohne religiöse Anlage, wie keiner ohne Gewissen ist. Aber eine verbrecherische Anlage dürfte sich kaum sicher nachweisen lassen. Wenn, wie die Statistik festgestellt hat, in den romanischen Ländern, namentlich in Italien und Spanien, mehr Verbrechen als in germanischen vor¬ kommen, so ist diese Thatsache schwerlich auf eine spezifische Anlage der romanischen Völker zum Verbreche», sonder» auf eine ausschließlich kirchliche, das religiöse Leben beeinträchtigende Erziehung zurückzuführen, wie sie dem Katholi- zismus eigen ist. Aber auch angenommen, daß sich Menschen mit einer aus- gesprochnen Neigung zum Verbrechen, z. B. zum Diebstahl (Kleptomanie), fänden, kann nicht anch die ausgesprochenste, fast unwiderstehliche Neigung besiegt werden? Und wenn irgend etwas dem Menschen hilft, verbrecherische Neigungen im Keime zu unterdrücken, ist es nicht die Religion, die Furcht vor Gott, die zwar die Anlage selbst vielleicht nicht ausrottet, aber die Stimme des Gewissens lauter schlage» und so die Neigung nicht zur That werden läßt? Kein Zweifel: was wiederum kein Strafmittel zu leisten vermag, leistet die Religion. Wie sie auf die Moral überhaupt einen bestimmenden Einfluß ausübt, trägt sie auch wesentlich dazu bei, das Verbrechen zu verhüten, die Zahl der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/548>, abgerufen am 01.09.2024.