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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und verbrechen

steuern, Verbrechen zu verhüten, ist sie außer stände. Wohl aber dürfte
gerade die Gegenwart dafür sprechen, daß der Verfall der Moral mit einem
Niedergang des religiösen Lebens Hand in Hand geht, wie es in Rom um
die sittlichen Zustände am schlechtesten bestellt war, als sich die Augurn, wenn
sie einander begegneten, ins Gesicht lachten.

Denn der praktische Materialismus mit seiner Gewinn- und Genußsucht,
der in unsern Tagen alle Schichten der Bevölkerung beherrscht, und auf dessen
Rechnung die unzähligen Meineide, Raubmorde, Fälschungen und Unter¬
schlagungen kommen, ist wesentlich aus dem theoretischen Materialismus her¬
vorgegangen. Dieser theoretische Materialismus, der, eine Frucht der Natur¬
wissenschaften, die Lehre verkündete, daß der Glaube an Gott, an das Walten
eines Geistes überhaupt vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht bestehen
könne, und diese Lehre durch tausend volkstümliche Schriften verbreitete, legte
den Grund zu dem praktischen Materialismus und der Fülle von Verbrechen,
die ihm gefolgt sind. Denn er vermochte zwar die Religion, die, wie bemerkt,
ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, nicht völlig aus dem Herzen
des Volkes zu reißen, und auch unsre Zeit ist darum nicht schlechthin ohne
Religion. Aber wenn man täglich in die Menge hineinrief: "Es ist kein
Gott!" so konnte es nicht ausbleiben, daß die Religion Schaden litt, die reli¬
giösen Interessen hinter andern Interessen zurücktraten. Und weil der Nieder¬
gang des religiösen Lebens so allgemein ist, ist auch die Immoralität so all¬
gemein, daß in dieser Beziehung selbst der sonst durchgreifende Unterschied
zwischen den verschiednen Bekenntnissen zur Zeit mehr oder weniger verwischt
ist, und sich in Preußen, wie Sie mit Recht bemerken, in den letzten Jahren
die Zahl der Verbrecher unter Katholiken und Protestanten beinahe das Gleich¬
gewicht gehalten hat. Anders ausgedrückt: Es ist nicht so, daß abnehmende
Religiosität und zunehmende Sittenlosigkeit unabhängig als zwei verschiedne,
sich gegenseitig nicht berührende Erscheinungen neben einander hergingen und
nur zufällig in einer Zeit zusammentrafen. Sondern wie der praktische
Materialismus nachweisbar eine Folge des theoretischen ist, so ist der Verfall
der Moral in unsern Tagen eine Folge des Niedergangs des religiösen
Lebens. Und zwar die notwendige Folge. Es besteht ein notwendiger
Zusammenhang zwischen Religion und Moral, sodaß je nach dem höher"
oder niedern Maß von Religiosität auch die Moralität größer oder geringer ist.

Denn alle Sittlichkeit beruht im letzten Grund auf dem Gehorsam gegen
den kategorischen Imperativ, die Forderungen des Gewissens. Darum kann
die Bildung nicht sittlich bessernd wirken, weil sie auf den Gehorsam gegen
das Gewissen schlechterdings keinen Einfluß ausübt. Ganz anders die
Religion.

Oder weist nicht der Ursprung des Gewissens, das genau so wie die
Religion ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, auf eine höhere Macht


Religion und verbrechen

steuern, Verbrechen zu verhüten, ist sie außer stände. Wohl aber dürfte
gerade die Gegenwart dafür sprechen, daß der Verfall der Moral mit einem
Niedergang des religiösen Lebens Hand in Hand geht, wie es in Rom um
die sittlichen Zustände am schlechtesten bestellt war, als sich die Augurn, wenn
sie einander begegneten, ins Gesicht lachten.

Denn der praktische Materialismus mit seiner Gewinn- und Genußsucht,
der in unsern Tagen alle Schichten der Bevölkerung beherrscht, und auf dessen
Rechnung die unzähligen Meineide, Raubmorde, Fälschungen und Unter¬
schlagungen kommen, ist wesentlich aus dem theoretischen Materialismus her¬
vorgegangen. Dieser theoretische Materialismus, der, eine Frucht der Natur¬
wissenschaften, die Lehre verkündete, daß der Glaube an Gott, an das Walten
eines Geistes überhaupt vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht bestehen
könne, und diese Lehre durch tausend volkstümliche Schriften verbreitete, legte
den Grund zu dem praktischen Materialismus und der Fülle von Verbrechen,
die ihm gefolgt sind. Denn er vermochte zwar die Religion, die, wie bemerkt,
ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, nicht völlig aus dem Herzen
des Volkes zu reißen, und auch unsre Zeit ist darum nicht schlechthin ohne
Religion. Aber wenn man täglich in die Menge hineinrief: „Es ist kein
Gott!" so konnte es nicht ausbleiben, daß die Religion Schaden litt, die reli¬
giösen Interessen hinter andern Interessen zurücktraten. Und weil der Nieder¬
gang des religiösen Lebens so allgemein ist, ist auch die Immoralität so all¬
gemein, daß in dieser Beziehung selbst der sonst durchgreifende Unterschied
zwischen den verschiednen Bekenntnissen zur Zeit mehr oder weniger verwischt
ist, und sich in Preußen, wie Sie mit Recht bemerken, in den letzten Jahren
die Zahl der Verbrecher unter Katholiken und Protestanten beinahe das Gleich¬
gewicht gehalten hat. Anders ausgedrückt: Es ist nicht so, daß abnehmende
Religiosität und zunehmende Sittenlosigkeit unabhängig als zwei verschiedne,
sich gegenseitig nicht berührende Erscheinungen neben einander hergingen und
nur zufällig in einer Zeit zusammentrafen. Sondern wie der praktische
Materialismus nachweisbar eine Folge des theoretischen ist, so ist der Verfall
der Moral in unsern Tagen eine Folge des Niedergangs des religiösen
Lebens. Und zwar die notwendige Folge. Es besteht ein notwendiger
Zusammenhang zwischen Religion und Moral, sodaß je nach dem höher»
oder niedern Maß von Religiosität auch die Moralität größer oder geringer ist.

Denn alle Sittlichkeit beruht im letzten Grund auf dem Gehorsam gegen
den kategorischen Imperativ, die Forderungen des Gewissens. Darum kann
die Bildung nicht sittlich bessernd wirken, weil sie auf den Gehorsam gegen
das Gewissen schlechterdings keinen Einfluß ausübt. Ganz anders die
Religion.

Oder weist nicht der Ursprung des Gewissens, das genau so wie die
Religion ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, auf eine höhere Macht


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[0546] Religion und verbrechen steuern, Verbrechen zu verhüten, ist sie außer stände. Wohl aber dürfte gerade die Gegenwart dafür sprechen, daß der Verfall der Moral mit einem Niedergang des religiösen Lebens Hand in Hand geht, wie es in Rom um die sittlichen Zustände am schlechtesten bestellt war, als sich die Augurn, wenn sie einander begegneten, ins Gesicht lachten. Denn der praktische Materialismus mit seiner Gewinn- und Genußsucht, der in unsern Tagen alle Schichten der Bevölkerung beherrscht, und auf dessen Rechnung die unzähligen Meineide, Raubmorde, Fälschungen und Unter¬ schlagungen kommen, ist wesentlich aus dem theoretischen Materialismus her¬ vorgegangen. Dieser theoretische Materialismus, der, eine Frucht der Natur¬ wissenschaften, die Lehre verkündete, daß der Glaube an Gott, an das Walten eines Geistes überhaupt vor dem Richterstuhl der Vernunft nicht bestehen könne, und diese Lehre durch tausend volkstümliche Schriften verbreitete, legte den Grund zu dem praktischen Materialismus und der Fülle von Verbrechen, die ihm gefolgt sind. Denn er vermochte zwar die Religion, die, wie bemerkt, ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, nicht völlig aus dem Herzen des Volkes zu reißen, und auch unsre Zeit ist darum nicht schlechthin ohne Religion. Aber wenn man täglich in die Menge hineinrief: „Es ist kein Gott!" so konnte es nicht ausbleiben, daß die Religion Schaden litt, die reli¬ giösen Interessen hinter andern Interessen zurücktraten. Und weil der Nieder¬ gang des religiösen Lebens so allgemein ist, ist auch die Immoralität so all¬ gemein, daß in dieser Beziehung selbst der sonst durchgreifende Unterschied zwischen den verschiednen Bekenntnissen zur Zeit mehr oder weniger verwischt ist, und sich in Preußen, wie Sie mit Recht bemerken, in den letzten Jahren die Zahl der Verbrecher unter Katholiken und Protestanten beinahe das Gleich¬ gewicht gehalten hat. Anders ausgedrückt: Es ist nicht so, daß abnehmende Religiosität und zunehmende Sittenlosigkeit unabhängig als zwei verschiedne, sich gegenseitig nicht berührende Erscheinungen neben einander hergingen und nur zufällig in einer Zeit zusammentrafen. Sondern wie der praktische Materialismus nachweisbar eine Folge des theoretischen ist, so ist der Verfall der Moral in unsern Tagen eine Folge des Niedergangs des religiösen Lebens. Und zwar die notwendige Folge. Es besteht ein notwendiger Zusammenhang zwischen Religion und Moral, sodaß je nach dem höher» oder niedern Maß von Religiosität auch die Moralität größer oder geringer ist. Denn alle Sittlichkeit beruht im letzten Grund auf dem Gehorsam gegen den kategorischen Imperativ, die Forderungen des Gewissens. Darum kann die Bildung nicht sittlich bessernd wirken, weil sie auf den Gehorsam gegen das Gewissen schlechterdings keinen Einfluß ausübt. Ganz anders die Religion. Oder weist nicht der Ursprung des Gewissens, das genau so wie die Religion ein unveräußerliches Erbteil des Menschen ist, auf eine höhere Macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/546>, abgerufen am 01.09.2024.