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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und Verbrechen

"regelmäßige Kirchenbesucher" bunt durch einander, und auf Grund dieser
Verwechslung kommen Sie zu dem falschen Schluß, daß sich auch unter
Religiösen und "höchst Religiösen" Verbrecher fänden.

Denn freilich ans Kreisen, die eben nur kirchlich sind und ihren religiösen
Pflichten zu genügen glauben, wenn sie die Pflichten gegen die Kirche erfüllen,
können sehr wohl auch Verbrecher hervorgehen. Warum nicht? Wo schon
der Gehorsam gegen die Kirche für Religion gehalten wird, muß, was Sie
bei Ihrer Verwechslung zweier Begriffe verkennen, das religiöse Leben mehr
und mehr erstarren. Die Gefahr liegt nahe, daß sich sogar ein Gegensatz
zwischen Kirchlichkeit und Religiosität bildet, sodaß eine einseitig kirchliche
Erziehung mehr schadet als nützt und besser unterbliebe. So ist es zu ver¬
stehen, daß nach Ihren Ausführungen in Baiern und in Preußen die katholische
Bevölkerung eine größere Zahl von Verbrechern liefert als die protestantische,
weil der Protestantismus grundsätzlich eine vom Katholizismus grundver-
schiedue Stellung zur Kirche einnimmt. Ähnliche Beobachtungen macht man
in der Schweiz, wo die katholischen Kantone auf einer niedrigern Stufe der
Moral stehen als die protestantischen, und in Irland, wo sich die Orangisten
in sittlicher Beziehung weit über die katholische Bevölkerung erheben. Dem
entspricht ferner, was nach Ihrem Aufsatz Joly von dem Verhältnis der Ver¬
brecherinnen zu den Verbrechern in Frankreich berichtet. Ihre Zahl überwiegt,
weil die Erziehung der Frauen, obwohl viel sorgfältiger als die der Männer,
nicht, wie Joly meint, religiös, sondern rein kirchlich ist. Nicht minder be¬
zeichnend ist ein Vorfall, den Joly aus Artsche anführt, und den Sie wieder¬
erzählen. Zwei Haufen mit Stöcken bewaffneter Burschen, die eben über
einander herfallen wollen, stehen, wie das Ave Maria geläutet wird, sofort
lon ihrem Vorhaben ab, nehmen die Mützen ab, bekreuzigen sich und sagen
ihr her, um sich alsbald uach dem Gebet muss neue zu schlagen. Ganz

natürlich! Der Kirche und ihren Ordnungen mußte die schuldige Achtung
erwiesen werden, aber nachdem das geschehen war, durfte man sich unbedenklich
weiter prügeln und seinem Zorn freien Lauf lassen. Aus dem allen folgt aber
in keiner Weise, daß, wie Sie behaupten, auch Religiöse und "höchst Religiöse"
Verbrecher sein können. Die Kirchlichkeit allein kann keinen Maßstab für die
Religiosität bilden.

Steht es aber so, daß Ihre "irreligiösen" Tugendhelden nicht schlechthin
irreligiös, Ihre "religiösen" Verbrecher nicht religiös sind, ist nicht schon
damit ein gewisser Zusammenhang zwischen Religion und Moral erwiesen?

Sie möchten zwar der Bildung einen nicht geringen Einfluß auf die Moral
zuschreiben. Aber im alten Rom -- welch hohe Bildung, und welche Sitten-
losigkeit! Und heute -- welche Höhe der Bildung, und welch eine erschreckende
Zahl von Verbrechen! Man kann die Bildung, deren Segnungen kein ver¬
nünftiger Mensch bestreitet, vollständig gelten lassen: sittlicher Verrohung zu


Grenzboten III 1896 08
Religion und Verbrechen

„regelmäßige Kirchenbesucher" bunt durch einander, und auf Grund dieser
Verwechslung kommen Sie zu dem falschen Schluß, daß sich auch unter
Religiösen und „höchst Religiösen" Verbrecher fänden.

Denn freilich ans Kreisen, die eben nur kirchlich sind und ihren religiösen
Pflichten zu genügen glauben, wenn sie die Pflichten gegen die Kirche erfüllen,
können sehr wohl auch Verbrecher hervorgehen. Warum nicht? Wo schon
der Gehorsam gegen die Kirche für Religion gehalten wird, muß, was Sie
bei Ihrer Verwechslung zweier Begriffe verkennen, das religiöse Leben mehr
und mehr erstarren. Die Gefahr liegt nahe, daß sich sogar ein Gegensatz
zwischen Kirchlichkeit und Religiosität bildet, sodaß eine einseitig kirchliche
Erziehung mehr schadet als nützt und besser unterbliebe. So ist es zu ver¬
stehen, daß nach Ihren Ausführungen in Baiern und in Preußen die katholische
Bevölkerung eine größere Zahl von Verbrechern liefert als die protestantische,
weil der Protestantismus grundsätzlich eine vom Katholizismus grundver-
schiedue Stellung zur Kirche einnimmt. Ähnliche Beobachtungen macht man
in der Schweiz, wo die katholischen Kantone auf einer niedrigern Stufe der
Moral stehen als die protestantischen, und in Irland, wo sich die Orangisten
in sittlicher Beziehung weit über die katholische Bevölkerung erheben. Dem
entspricht ferner, was nach Ihrem Aufsatz Joly von dem Verhältnis der Ver¬
brecherinnen zu den Verbrechern in Frankreich berichtet. Ihre Zahl überwiegt,
weil die Erziehung der Frauen, obwohl viel sorgfältiger als die der Männer,
nicht, wie Joly meint, religiös, sondern rein kirchlich ist. Nicht minder be¬
zeichnend ist ein Vorfall, den Joly aus Artsche anführt, und den Sie wieder¬
erzählen. Zwei Haufen mit Stöcken bewaffneter Burschen, die eben über
einander herfallen wollen, stehen, wie das Ave Maria geläutet wird, sofort
lon ihrem Vorhaben ab, nehmen die Mützen ab, bekreuzigen sich und sagen
ihr her, um sich alsbald uach dem Gebet muss neue zu schlagen. Ganz

natürlich! Der Kirche und ihren Ordnungen mußte die schuldige Achtung
erwiesen werden, aber nachdem das geschehen war, durfte man sich unbedenklich
weiter prügeln und seinem Zorn freien Lauf lassen. Aus dem allen folgt aber
in keiner Weise, daß, wie Sie behaupten, auch Religiöse und „höchst Religiöse"
Verbrecher sein können. Die Kirchlichkeit allein kann keinen Maßstab für die
Religiosität bilden.

Steht es aber so, daß Ihre „irreligiösen" Tugendhelden nicht schlechthin
irreligiös, Ihre „religiösen" Verbrecher nicht religiös sind, ist nicht schon
damit ein gewisser Zusammenhang zwischen Religion und Moral erwiesen?

Sie möchten zwar der Bildung einen nicht geringen Einfluß auf die Moral
zuschreiben. Aber im alten Rom — welch hohe Bildung, und welche Sitten-
losigkeit! Und heute — welche Höhe der Bildung, und welch eine erschreckende
Zahl von Verbrechen! Man kann die Bildung, deren Segnungen kein ver¬
nünftiger Mensch bestreitet, vollständig gelten lassen: sittlicher Verrohung zu


Grenzboten III 1896 08
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[0545] Religion und Verbrechen „regelmäßige Kirchenbesucher" bunt durch einander, und auf Grund dieser Verwechslung kommen Sie zu dem falschen Schluß, daß sich auch unter Religiösen und „höchst Religiösen" Verbrecher fänden. Denn freilich ans Kreisen, die eben nur kirchlich sind und ihren religiösen Pflichten zu genügen glauben, wenn sie die Pflichten gegen die Kirche erfüllen, können sehr wohl auch Verbrecher hervorgehen. Warum nicht? Wo schon der Gehorsam gegen die Kirche für Religion gehalten wird, muß, was Sie bei Ihrer Verwechslung zweier Begriffe verkennen, das religiöse Leben mehr und mehr erstarren. Die Gefahr liegt nahe, daß sich sogar ein Gegensatz zwischen Kirchlichkeit und Religiosität bildet, sodaß eine einseitig kirchliche Erziehung mehr schadet als nützt und besser unterbliebe. So ist es zu ver¬ stehen, daß nach Ihren Ausführungen in Baiern und in Preußen die katholische Bevölkerung eine größere Zahl von Verbrechern liefert als die protestantische, weil der Protestantismus grundsätzlich eine vom Katholizismus grundver- schiedue Stellung zur Kirche einnimmt. Ähnliche Beobachtungen macht man in der Schweiz, wo die katholischen Kantone auf einer niedrigern Stufe der Moral stehen als die protestantischen, und in Irland, wo sich die Orangisten in sittlicher Beziehung weit über die katholische Bevölkerung erheben. Dem entspricht ferner, was nach Ihrem Aufsatz Joly von dem Verhältnis der Ver¬ brecherinnen zu den Verbrechern in Frankreich berichtet. Ihre Zahl überwiegt, weil die Erziehung der Frauen, obwohl viel sorgfältiger als die der Männer, nicht, wie Joly meint, religiös, sondern rein kirchlich ist. Nicht minder be¬ zeichnend ist ein Vorfall, den Joly aus Artsche anführt, und den Sie wieder¬ erzählen. Zwei Haufen mit Stöcken bewaffneter Burschen, die eben über einander herfallen wollen, stehen, wie das Ave Maria geläutet wird, sofort lon ihrem Vorhaben ab, nehmen die Mützen ab, bekreuzigen sich und sagen ihr her, um sich alsbald uach dem Gebet muss neue zu schlagen. Ganz natürlich! Der Kirche und ihren Ordnungen mußte die schuldige Achtung erwiesen werden, aber nachdem das geschehen war, durfte man sich unbedenklich weiter prügeln und seinem Zorn freien Lauf lassen. Aus dem allen folgt aber in keiner Weise, daß, wie Sie behaupten, auch Religiöse und „höchst Religiöse" Verbrecher sein können. Die Kirchlichkeit allein kann keinen Maßstab für die Religiosität bilden. Steht es aber so, daß Ihre „irreligiösen" Tugendhelden nicht schlechthin irreligiös, Ihre „religiösen" Verbrecher nicht religiös sind, ist nicht schon damit ein gewisser Zusammenhang zwischen Religion und Moral erwiesen? Sie möchten zwar der Bildung einen nicht geringen Einfluß auf die Moral zuschreiben. Aber im alten Rom — welch hohe Bildung, und welche Sitten- losigkeit! Und heute — welche Höhe der Bildung, und welch eine erschreckende Zahl von Verbrechen! Man kann die Bildung, deren Segnungen kein ver¬ nünftiger Mensch bestreitet, vollständig gelten lassen: sittlicher Verrohung zu Grenzboten III 1896 08

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/545>, abgerufen am 01.09.2024.