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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und verbrechen

Aber, entgegnen Sie, es giebt eben auch unter Religiösen und "höchst
Religiösen" Verbrecher. Unter Religiösen? Menschen, die, wie Jolh von den
Einwohnern der Normandie berichtet, nur die religiösen Gebräuche und Zere¬
monien beobachten, werden Sie doch nicht religiös nennen wollen. Machen denn die
das Wesen der Religion aus? Unterscheiden Sie nicht selbst zwischen Religionen,
"die sich, unter Verzicht auf rituelle Formen, auf Moral gründeten," und
solchen, bei denen "der Ritus deu sittlichen Kern verdeckt und verdunkelt hätte,"
und gestehen damit zu, daß Religion mehr ist als Beobachtung religiöser
Formen?

Ebenso wenig dürften alle, die sich zur Kirche halten, ohne weiteres den
Religiösen zuzuzählen sein. So gewiß die Kirche die Hüterin und Pflegerin
der religiösen Güter des Lebens ist, so gewiß wird es auch Religiöse, ja diese
vorzugsweise, nach der Kirche verlangen, und das wird häufig vergessen. Aber
man kann unstreitig auch kirchlich sein und die Kirche besuchen, ohne religiöses
Bedürfnis, aus Gewohnheit, weil es die Sitte, der gute Ton mit sich bringt,
aus Eitelkeit, selbst aus Berechnung, um, wie es in den Vereinigten Staaten
etwas gewöhnliches ist, sich in die Gesellschaft einzuführen, oder, wie es in
Preußen unter der Regierung König Friedrich Wilhelms IV. vorkam, Karriere
zu machen. Und weil das Volk ein instinktives Gefühl dafür hat, daß kirchlich
sein und religiös sein nicht schlechtweg dasselbe ist, und je und je die Beobachtung
machen muß, daß sich kirchliche Personen keineswegs immer durch einen frommen
Lebenswandel auszeichnen, so entsteht die Neigung, alle kirchlich gesinnten -- sehr
mit Unrecht -- für Frömmler und Scheinheilige zu halten. Daß gleichwohl
auch unter Gebildeten Kirche und Religion so oft verwechselt werden, dürfte
eine Nachwirkung des Katholizismus sein. Mit Recht sagen Sie: "In den
romanischen Ländern, wo der Katholizismus herrscht, kann die Religion nicht
in gleichem Grade hemmend auf die Unsittlichkeit wirken, und daran ist nicht
sowohl der herrschende Skeptizismus als die Organisation der Kirche schuld.
Diese ist ein großer, disziplinirter Körper, gegründet auf Gehorsam und
Unterordnung, in dem jeder seine Stellung, sein Verhalten, seine Gedanken
durch eherne Gesetze vorgezeichnet findet." In der That geht nach katholischer
Anschauung die Religion mehr oder weniger in dem Gehorsam gegen die
Kirche auf; für religiös gilt, wer sich den Ordnungen und Satzungen der
Kirche unterwirft. Nur schade, daß Sie im Widerspruch zu Ihrem Urteil über
den Katholizismus selbst dem Irrtum verfallen, kirchlich sein und religiös sein
für dasselbe zu halten. Wie könnten Sie sonst unmittelbar auf den ein¬
leitenden Satz, daß man, besonders auf dem Lande und in wenig zivilistrteu
Ländern, höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern finde, den weitern
Satz folgen lassen: Unter denen, die regelmäßig die Kirche besuchen, sind
Verbrecher ebenso stark vertreten wie unbescholtne Leute, relativ vielleicht uoch
stärker? Offenbar gehen da auch Ihnen "höchst religiöse Menschen" und


Religion und verbrechen

Aber, entgegnen Sie, es giebt eben auch unter Religiösen und „höchst
Religiösen" Verbrecher. Unter Religiösen? Menschen, die, wie Jolh von den
Einwohnern der Normandie berichtet, nur die religiösen Gebräuche und Zere¬
monien beobachten, werden Sie doch nicht religiös nennen wollen. Machen denn die
das Wesen der Religion aus? Unterscheiden Sie nicht selbst zwischen Religionen,
„die sich, unter Verzicht auf rituelle Formen, auf Moral gründeten," und
solchen, bei denen „der Ritus deu sittlichen Kern verdeckt und verdunkelt hätte,"
und gestehen damit zu, daß Religion mehr ist als Beobachtung religiöser
Formen?

Ebenso wenig dürften alle, die sich zur Kirche halten, ohne weiteres den
Religiösen zuzuzählen sein. So gewiß die Kirche die Hüterin und Pflegerin
der religiösen Güter des Lebens ist, so gewiß wird es auch Religiöse, ja diese
vorzugsweise, nach der Kirche verlangen, und das wird häufig vergessen. Aber
man kann unstreitig auch kirchlich sein und die Kirche besuchen, ohne religiöses
Bedürfnis, aus Gewohnheit, weil es die Sitte, der gute Ton mit sich bringt,
aus Eitelkeit, selbst aus Berechnung, um, wie es in den Vereinigten Staaten
etwas gewöhnliches ist, sich in die Gesellschaft einzuführen, oder, wie es in
Preußen unter der Regierung König Friedrich Wilhelms IV. vorkam, Karriere
zu machen. Und weil das Volk ein instinktives Gefühl dafür hat, daß kirchlich
sein und religiös sein nicht schlechtweg dasselbe ist, und je und je die Beobachtung
machen muß, daß sich kirchliche Personen keineswegs immer durch einen frommen
Lebenswandel auszeichnen, so entsteht die Neigung, alle kirchlich gesinnten — sehr
mit Unrecht — für Frömmler und Scheinheilige zu halten. Daß gleichwohl
auch unter Gebildeten Kirche und Religion so oft verwechselt werden, dürfte
eine Nachwirkung des Katholizismus sein. Mit Recht sagen Sie: „In den
romanischen Ländern, wo der Katholizismus herrscht, kann die Religion nicht
in gleichem Grade hemmend auf die Unsittlichkeit wirken, und daran ist nicht
sowohl der herrschende Skeptizismus als die Organisation der Kirche schuld.
Diese ist ein großer, disziplinirter Körper, gegründet auf Gehorsam und
Unterordnung, in dem jeder seine Stellung, sein Verhalten, seine Gedanken
durch eherne Gesetze vorgezeichnet findet." In der That geht nach katholischer
Anschauung die Religion mehr oder weniger in dem Gehorsam gegen die
Kirche auf; für religiös gilt, wer sich den Ordnungen und Satzungen der
Kirche unterwirft. Nur schade, daß Sie im Widerspruch zu Ihrem Urteil über
den Katholizismus selbst dem Irrtum verfallen, kirchlich sein und religiös sein
für dasselbe zu halten. Wie könnten Sie sonst unmittelbar auf den ein¬
leitenden Satz, daß man, besonders auf dem Lande und in wenig zivilistrteu
Ländern, höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern finde, den weitern
Satz folgen lassen: Unter denen, die regelmäßig die Kirche besuchen, sind
Verbrecher ebenso stark vertreten wie unbescholtne Leute, relativ vielleicht uoch
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[0544] Religion und verbrechen Aber, entgegnen Sie, es giebt eben auch unter Religiösen und „höchst Religiösen" Verbrecher. Unter Religiösen? Menschen, die, wie Jolh von den Einwohnern der Normandie berichtet, nur die religiösen Gebräuche und Zere¬ monien beobachten, werden Sie doch nicht religiös nennen wollen. Machen denn die das Wesen der Religion aus? Unterscheiden Sie nicht selbst zwischen Religionen, „die sich, unter Verzicht auf rituelle Formen, auf Moral gründeten," und solchen, bei denen „der Ritus deu sittlichen Kern verdeckt und verdunkelt hätte," und gestehen damit zu, daß Religion mehr ist als Beobachtung religiöser Formen? Ebenso wenig dürften alle, die sich zur Kirche halten, ohne weiteres den Religiösen zuzuzählen sein. So gewiß die Kirche die Hüterin und Pflegerin der religiösen Güter des Lebens ist, so gewiß wird es auch Religiöse, ja diese vorzugsweise, nach der Kirche verlangen, und das wird häufig vergessen. Aber man kann unstreitig auch kirchlich sein und die Kirche besuchen, ohne religiöses Bedürfnis, aus Gewohnheit, weil es die Sitte, der gute Ton mit sich bringt, aus Eitelkeit, selbst aus Berechnung, um, wie es in den Vereinigten Staaten etwas gewöhnliches ist, sich in die Gesellschaft einzuführen, oder, wie es in Preußen unter der Regierung König Friedrich Wilhelms IV. vorkam, Karriere zu machen. Und weil das Volk ein instinktives Gefühl dafür hat, daß kirchlich sein und religiös sein nicht schlechtweg dasselbe ist, und je und je die Beobachtung machen muß, daß sich kirchliche Personen keineswegs immer durch einen frommen Lebenswandel auszeichnen, so entsteht die Neigung, alle kirchlich gesinnten — sehr mit Unrecht — für Frömmler und Scheinheilige zu halten. Daß gleichwohl auch unter Gebildeten Kirche und Religion so oft verwechselt werden, dürfte eine Nachwirkung des Katholizismus sein. Mit Recht sagen Sie: „In den romanischen Ländern, wo der Katholizismus herrscht, kann die Religion nicht in gleichem Grade hemmend auf die Unsittlichkeit wirken, und daran ist nicht sowohl der herrschende Skeptizismus als die Organisation der Kirche schuld. Diese ist ein großer, disziplinirter Körper, gegründet auf Gehorsam und Unterordnung, in dem jeder seine Stellung, sein Verhalten, seine Gedanken durch eherne Gesetze vorgezeichnet findet." In der That geht nach katholischer Anschauung die Religion mehr oder weniger in dem Gehorsam gegen die Kirche auf; für religiös gilt, wer sich den Ordnungen und Satzungen der Kirche unterwirft. Nur schade, daß Sie im Widerspruch zu Ihrem Urteil über den Katholizismus selbst dem Irrtum verfallen, kirchlich sein und religiös sein für dasselbe zu halten. Wie könnten Sie sonst unmittelbar auf den ein¬ leitenden Satz, daß man, besonders auf dem Lande und in wenig zivilistrteu Ländern, höchst religiöse Menschen unter den Verbrechern finde, den weitern Satz folgen lassen: Unter denen, die regelmäßig die Kirche besuchen, sind Verbrecher ebenso stark vertreten wie unbescholtne Leute, relativ vielleicht uoch stärker? Offenbar gehen da auch Ihnen „höchst religiöse Menschen" und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/544>, abgerufen am 01.09.2024.