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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Religion und Verbrechen
Offres Schreiben an Herrn Lesare Tombroso in Turin

Hochgeehrter Herr Professor,

erzeihen Sie, wenn es ein evangelischer Geistlicher, also einer
von den aus mmorum Zsntium, wagt, sich auf diesem Wege mit
Ihnen in Verbindung zu setzen. Veranlassung dazu giebt mir
Ihr in der "Zukunft" veröffentlichter Aufsatz über "Religion und
Verbrechen," der bei manchem beachtenswerten, das er enthalt,
in mehr als einer Hinsicht einer Berichtigung bedarf.

Es handelt sich um die Frage, welchen Einfluß die Religion auf die Zahl
der Verbrechen ausübt. Bisher war ich der Meinung, daß ein religiöser
Mensch unmöglich ein Verbrecher sein könne, und dachte, jeder andre müßte
ebenso urteilen. Religion und Verbrechen -- kann es einen größer" Gegensatz
geben? Schließt uicht das eine notwendig das andre aus? Da muß ich min
zu meiner Verwunderung bald von dieser, bald von jener Seite hören: Lieber
Freund, du irrst. Deine Ansicht ist lediglich eine Voraussetzung. Erfahrungs¬
gemäß verhält sich die Sache beinahe umgekehrt: gerade religiöse Menschen
sind die schlimmsten und gefährlichsten, und die Religion dient nur zu oft als
Deckmantel, verbrecherische Gesinnungen zu verbergen.

Das behaupten Sie nun in Ihrem Aufsatz allerdings nicht. Sie rühmen
den religiösen Eifer, dem es zuzuschreiben sei, "daß in gewissen protestantischen
Gegenden, wie in Genf und London, die Zahl der Verbrecher abnehme, weil
er die unedlem Triebe bändige und aufhebe und durch energischen Kampf
Laster und unsittliche Neigungen besiege." Sie bezeichnen das religiöse Leben
als die Macht, die "in England unter fanatischen (!) Naturen, die sich unter den
verschiedensten Bezeichnungen eifrig bestrebten, menschliche Seelen vom Unter¬
gang zu retten, unzählige Anhänger fände." Aber, sagen Sie, man darf sich
auch entgegengesetzten Beobachtungen nicht verschließen. "So weit die freilich
sehr spärliche Statistik reicht, kommen da, wo der Atheismus verbreitet ist,
weniger Verbrechen vor, als eswris xg-ribus unter Protestanten und Katholiken,
was sich vielleicht aus einer höhern Kultur erklärt, dn in Europa der
Atheismus zum größten Teil unter Gebildeten zu finden ist." Nicht minder
ist es Thatsache, "daß wilde Völker, wie die Alfuru und die Scalata, die keine
Religion oder höchstens einen Gespensterglauben haben, von peinlicher Ehrlichkeit




Religion und Verbrechen
Offres Schreiben an Herrn Lesare Tombroso in Turin

Hochgeehrter Herr Professor,

erzeihen Sie, wenn es ein evangelischer Geistlicher, also einer
von den aus mmorum Zsntium, wagt, sich auf diesem Wege mit
Ihnen in Verbindung zu setzen. Veranlassung dazu giebt mir
Ihr in der „Zukunft" veröffentlichter Aufsatz über „Religion und
Verbrechen," der bei manchem beachtenswerten, das er enthalt,
in mehr als einer Hinsicht einer Berichtigung bedarf.

Es handelt sich um die Frage, welchen Einfluß die Religion auf die Zahl
der Verbrechen ausübt. Bisher war ich der Meinung, daß ein religiöser
Mensch unmöglich ein Verbrecher sein könne, und dachte, jeder andre müßte
ebenso urteilen. Religion und Verbrechen — kann es einen größer» Gegensatz
geben? Schließt uicht das eine notwendig das andre aus? Da muß ich min
zu meiner Verwunderung bald von dieser, bald von jener Seite hören: Lieber
Freund, du irrst. Deine Ansicht ist lediglich eine Voraussetzung. Erfahrungs¬
gemäß verhält sich die Sache beinahe umgekehrt: gerade religiöse Menschen
sind die schlimmsten und gefährlichsten, und die Religion dient nur zu oft als
Deckmantel, verbrecherische Gesinnungen zu verbergen.

Das behaupten Sie nun in Ihrem Aufsatz allerdings nicht. Sie rühmen
den religiösen Eifer, dem es zuzuschreiben sei, „daß in gewissen protestantischen
Gegenden, wie in Genf und London, die Zahl der Verbrecher abnehme, weil
er die unedlem Triebe bändige und aufhebe und durch energischen Kampf
Laster und unsittliche Neigungen besiege." Sie bezeichnen das religiöse Leben
als die Macht, die „in England unter fanatischen (!) Naturen, die sich unter den
verschiedensten Bezeichnungen eifrig bestrebten, menschliche Seelen vom Unter¬
gang zu retten, unzählige Anhänger fände." Aber, sagen Sie, man darf sich
auch entgegengesetzten Beobachtungen nicht verschließen. „So weit die freilich
sehr spärliche Statistik reicht, kommen da, wo der Atheismus verbreitet ist,
weniger Verbrechen vor, als eswris xg-ribus unter Protestanten und Katholiken,
was sich vielleicht aus einer höhern Kultur erklärt, dn in Europa der
Atheismus zum größten Teil unter Gebildeten zu finden ist." Nicht minder
ist es Thatsache, „daß wilde Völker, wie die Alfuru und die Scalata, die keine
Religion oder höchstens einen Gespensterglauben haben, von peinlicher Ehrlichkeit


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[0541] [Abbildung] Religion und Verbrechen Offres Schreiben an Herrn Lesare Tombroso in Turin Hochgeehrter Herr Professor, erzeihen Sie, wenn es ein evangelischer Geistlicher, also einer von den aus mmorum Zsntium, wagt, sich auf diesem Wege mit Ihnen in Verbindung zu setzen. Veranlassung dazu giebt mir Ihr in der „Zukunft" veröffentlichter Aufsatz über „Religion und Verbrechen," der bei manchem beachtenswerten, das er enthalt, in mehr als einer Hinsicht einer Berichtigung bedarf. Es handelt sich um die Frage, welchen Einfluß die Religion auf die Zahl der Verbrechen ausübt. Bisher war ich der Meinung, daß ein religiöser Mensch unmöglich ein Verbrecher sein könne, und dachte, jeder andre müßte ebenso urteilen. Religion und Verbrechen — kann es einen größer» Gegensatz geben? Schließt uicht das eine notwendig das andre aus? Da muß ich min zu meiner Verwunderung bald von dieser, bald von jener Seite hören: Lieber Freund, du irrst. Deine Ansicht ist lediglich eine Voraussetzung. Erfahrungs¬ gemäß verhält sich die Sache beinahe umgekehrt: gerade religiöse Menschen sind die schlimmsten und gefährlichsten, und die Religion dient nur zu oft als Deckmantel, verbrecherische Gesinnungen zu verbergen. Das behaupten Sie nun in Ihrem Aufsatz allerdings nicht. Sie rühmen den religiösen Eifer, dem es zuzuschreiben sei, „daß in gewissen protestantischen Gegenden, wie in Genf und London, die Zahl der Verbrecher abnehme, weil er die unedlem Triebe bändige und aufhebe und durch energischen Kampf Laster und unsittliche Neigungen besiege." Sie bezeichnen das religiöse Leben als die Macht, die „in England unter fanatischen (!) Naturen, die sich unter den verschiedensten Bezeichnungen eifrig bestrebten, menschliche Seelen vom Unter¬ gang zu retten, unzählige Anhänger fände." Aber, sagen Sie, man darf sich auch entgegengesetzten Beobachtungen nicht verschließen. „So weit die freilich sehr spärliche Statistik reicht, kommen da, wo der Atheismus verbreitet ist, weniger Verbrechen vor, als eswris xg-ribus unter Protestanten und Katholiken, was sich vielleicht aus einer höhern Kultur erklärt, dn in Europa der Atheismus zum größten Teil unter Gebildeten zu finden ist." Nicht minder ist es Thatsache, „daß wilde Völker, wie die Alfuru und die Scalata, die keine Religion oder höchstens einen Gespensterglauben haben, von peinlicher Ehrlichkeit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/541>, abgerufen am 01.09.2024.