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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Knochen des pommerschen Grenadiers

auf den Boden unsrer Kultur zu stellen, weil der Islam die Grundlage seines
Staatsrechts bildet, und dieser dem Beherrscher der Gläubigen schlechthin ver¬
bietet, Andersgläubigen Gleichberechtigung zu gewähren und damit sich in
andrer Form mit seinen christlichen Unterthanen auseinanderzusetzen, als indem
er sie thatsächlich ans seinem Reichsverbande entläßt. Und selbst wenn der
Sultan wollte, er könnte nicht anders; der mohammedanische Fanatismus, ein¬
mal aufgeregt, könnte ihm sonst deu Thron kosten. So ist also grundsätzlich
der Gegensatz der Türkei zum christlichen Europa genau noch so vorhanden, wie
vor dreihundert Jahren, und es kaun, seitdem ihre kriegerische Überlegenheit
geschwunden ist, lediglich noch die Frage sein, in welcher Weise sich ihre Auf¬
lösung vollziehen, aber nicht mehr, ob sie sich vollziehen soll. Unsre Staats¬
männer wissen das natürlich; nur das liebe Publikum vergißt es immer
wieder.

Und an einer solchen ungeheuern Wandlung sollte Deutschland kein
Interesse haben? Es sollte ruhig zusehen, wie etwa Rußland Kleinasien nähme,
England das Euphrat- und Tigrisland, Frankreich Syrien, Italien Albanien
und so fort? Thäte das Deutschland, dann würde es als europäische Großmacht
und vollends als Weltmacht abdanken. Zwar gehört es nicht unmittelbar zu den
Mittelmeermächteu. aber Trieft und Genua sind seine natürlichen Mittelmeer¬
häfen, und es ist längst eine afrikanische Macht, deren sehr ernsthafte und
sehr fühlbare Interessen dort von Jahr zu Jahr wachsen. Schon heute be¬
herrschen unsre schönen Ncichspostdampfer einen guten Teil des großen Durch¬
gangsverkehrs im Mittelmeer, und unsre Flagge kommt sür die Benutzung des
Suezkanals dicht hinter der englischen. Und da sollten wir kein Interesse
daran nehmen, wer dort gebietet, und was dort geschieht? War England etwa
eine Mittelmeermacht. als es Gibraltar und Malta nahm? Aber auch in der
Türkei selbst siud unsre Interessen im ZuuehMen. Zahlreiche Landsleute
leben in ihren Küstenstädten, auch in Jerusalem haben wir eine starke Kolonie und
eine deutsch-evangelische Gemeinde, die fleißigen württembergischen Templer,
die nach taufenden zählen, haben blühende Niederlassungen in Palästina, unsre
evangelische und katholische Mission siud überall thätig bis tief ins Innere
hinein, die zukunftsreichen kleinasiatischen Eisenbahnen, die jetzt schon bis Angora
und Koma reichen, werden größtenteils von deutschen Unternehmern mit deutschem
Kapital gebaut, mit deutschen Beamten verwaltet, und eine noch größere Zunahme
unsers Verkehrs mit dem Südosten ist von der nahe bevorstehenden Öffnung des
Eisernen Thores sicher zu erwarten. Sollen wir uns etwa von fremden Na¬
tionen diese'Möglichkeiten, unsrer Bevölkerung von 52 Millionen Abfluß aus
dem Mutterlande und Raum zur Bethätigung draußen zu schaffen, versperren
lassen? Standen etwa größere Interessen auf dem Spiele, als unsre Flagge
in Ostafrika und Kamerun oder Lüderitzland gehißt wurde? Um deutsche Flaggen
in den Mittelmeerländern zu bisher, dazu ist es noch zu früh, aber uns diese


Die Knochen des pommerschen Grenadiers

auf den Boden unsrer Kultur zu stellen, weil der Islam die Grundlage seines
Staatsrechts bildet, und dieser dem Beherrscher der Gläubigen schlechthin ver¬
bietet, Andersgläubigen Gleichberechtigung zu gewähren und damit sich in
andrer Form mit seinen christlichen Unterthanen auseinanderzusetzen, als indem
er sie thatsächlich ans seinem Reichsverbande entläßt. Und selbst wenn der
Sultan wollte, er könnte nicht anders; der mohammedanische Fanatismus, ein¬
mal aufgeregt, könnte ihm sonst deu Thron kosten. So ist also grundsätzlich
der Gegensatz der Türkei zum christlichen Europa genau noch so vorhanden, wie
vor dreihundert Jahren, und es kaun, seitdem ihre kriegerische Überlegenheit
geschwunden ist, lediglich noch die Frage sein, in welcher Weise sich ihre Auf¬
lösung vollziehen, aber nicht mehr, ob sie sich vollziehen soll. Unsre Staats¬
männer wissen das natürlich; nur das liebe Publikum vergißt es immer
wieder.

Und an einer solchen ungeheuern Wandlung sollte Deutschland kein
Interesse haben? Es sollte ruhig zusehen, wie etwa Rußland Kleinasien nähme,
England das Euphrat- und Tigrisland, Frankreich Syrien, Italien Albanien
und so fort? Thäte das Deutschland, dann würde es als europäische Großmacht
und vollends als Weltmacht abdanken. Zwar gehört es nicht unmittelbar zu den
Mittelmeermächteu. aber Trieft und Genua sind seine natürlichen Mittelmeer¬
häfen, und es ist längst eine afrikanische Macht, deren sehr ernsthafte und
sehr fühlbare Interessen dort von Jahr zu Jahr wachsen. Schon heute be¬
herrschen unsre schönen Ncichspostdampfer einen guten Teil des großen Durch¬
gangsverkehrs im Mittelmeer, und unsre Flagge kommt sür die Benutzung des
Suezkanals dicht hinter der englischen. Und da sollten wir kein Interesse
daran nehmen, wer dort gebietet, und was dort geschieht? War England etwa
eine Mittelmeermacht. als es Gibraltar und Malta nahm? Aber auch in der
Türkei selbst siud unsre Interessen im ZuuehMen. Zahlreiche Landsleute
leben in ihren Küstenstädten, auch in Jerusalem haben wir eine starke Kolonie und
eine deutsch-evangelische Gemeinde, die fleißigen württembergischen Templer,
die nach taufenden zählen, haben blühende Niederlassungen in Palästina, unsre
evangelische und katholische Mission siud überall thätig bis tief ins Innere
hinein, die zukunftsreichen kleinasiatischen Eisenbahnen, die jetzt schon bis Angora
und Koma reichen, werden größtenteils von deutschen Unternehmern mit deutschem
Kapital gebaut, mit deutschen Beamten verwaltet, und eine noch größere Zunahme
unsers Verkehrs mit dem Südosten ist von der nahe bevorstehenden Öffnung des
Eisernen Thores sicher zu erwarten. Sollen wir uns etwa von fremden Na¬
tionen diese'Möglichkeiten, unsrer Bevölkerung von 52 Millionen Abfluß aus
dem Mutterlande und Raum zur Bethätigung draußen zu schaffen, versperren
lassen? Standen etwa größere Interessen auf dem Spiele, als unsre Flagge
in Ostafrika und Kamerun oder Lüderitzland gehißt wurde? Um deutsche Flaggen
in den Mittelmeerländern zu bisher, dazu ist es noch zu früh, aber uns diese


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[0527] Die Knochen des pommerschen Grenadiers auf den Boden unsrer Kultur zu stellen, weil der Islam die Grundlage seines Staatsrechts bildet, und dieser dem Beherrscher der Gläubigen schlechthin ver¬ bietet, Andersgläubigen Gleichberechtigung zu gewähren und damit sich in andrer Form mit seinen christlichen Unterthanen auseinanderzusetzen, als indem er sie thatsächlich ans seinem Reichsverbande entläßt. Und selbst wenn der Sultan wollte, er könnte nicht anders; der mohammedanische Fanatismus, ein¬ mal aufgeregt, könnte ihm sonst deu Thron kosten. So ist also grundsätzlich der Gegensatz der Türkei zum christlichen Europa genau noch so vorhanden, wie vor dreihundert Jahren, und es kaun, seitdem ihre kriegerische Überlegenheit geschwunden ist, lediglich noch die Frage sein, in welcher Weise sich ihre Auf¬ lösung vollziehen, aber nicht mehr, ob sie sich vollziehen soll. Unsre Staats¬ männer wissen das natürlich; nur das liebe Publikum vergißt es immer wieder. Und an einer solchen ungeheuern Wandlung sollte Deutschland kein Interesse haben? Es sollte ruhig zusehen, wie etwa Rußland Kleinasien nähme, England das Euphrat- und Tigrisland, Frankreich Syrien, Italien Albanien und so fort? Thäte das Deutschland, dann würde es als europäische Großmacht und vollends als Weltmacht abdanken. Zwar gehört es nicht unmittelbar zu den Mittelmeermächteu. aber Trieft und Genua sind seine natürlichen Mittelmeer¬ häfen, und es ist längst eine afrikanische Macht, deren sehr ernsthafte und sehr fühlbare Interessen dort von Jahr zu Jahr wachsen. Schon heute be¬ herrschen unsre schönen Ncichspostdampfer einen guten Teil des großen Durch¬ gangsverkehrs im Mittelmeer, und unsre Flagge kommt sür die Benutzung des Suezkanals dicht hinter der englischen. Und da sollten wir kein Interesse daran nehmen, wer dort gebietet, und was dort geschieht? War England etwa eine Mittelmeermacht. als es Gibraltar und Malta nahm? Aber auch in der Türkei selbst siud unsre Interessen im ZuuehMen. Zahlreiche Landsleute leben in ihren Küstenstädten, auch in Jerusalem haben wir eine starke Kolonie und eine deutsch-evangelische Gemeinde, die fleißigen württembergischen Templer, die nach taufenden zählen, haben blühende Niederlassungen in Palästina, unsre evangelische und katholische Mission siud überall thätig bis tief ins Innere hinein, die zukunftsreichen kleinasiatischen Eisenbahnen, die jetzt schon bis Angora und Koma reichen, werden größtenteils von deutschen Unternehmern mit deutschem Kapital gebaut, mit deutschen Beamten verwaltet, und eine noch größere Zunahme unsers Verkehrs mit dem Südosten ist von der nahe bevorstehenden Öffnung des Eisernen Thores sicher zu erwarten. Sollen wir uns etwa von fremden Na¬ tionen diese'Möglichkeiten, unsrer Bevölkerung von 52 Millionen Abfluß aus dem Mutterlande und Raum zur Bethätigung draußen zu schaffen, versperren lassen? Standen etwa größere Interessen auf dem Spiele, als unsre Flagge in Ostafrika und Kamerun oder Lüderitzland gehißt wurde? Um deutsche Flaggen in den Mittelmeerländern zu bisher, dazu ist es noch zu früh, aber uns diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/527>, abgerufen am 01.09.2024.