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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Knochen des pommerschen Grenadiers

auch auf europäischen Voden, in Konstantinopel, unter den Augen der Bot¬
schafter, unter den Kanonen ihrer Kriegsschiffe, das ist ohne alle Frage eine
Schande für unser Jahrhundert, und eine Schande für das ganze christliche
Europa, also auch für uns. Das auszusprechen, offen und allgemein, das
wäre die Pflicht auch der deutschen Presse. Statt dessen benimmt sie sich meist,
als ob der Grundsatz der Nichtintervention für alle Zeiten die Summe der
politischen Weisheit sei, oder als ob sie die Verpflichtung hätte, in ihren Äuße¬
rungen so vorsichtig wie eine Negierung zu sein! Nun wird kein vernünftiger
Mensch von unsrer Regierung verlangen, daß sie einen Kreuzzug gegen den Groß-
türkeu, wie unsre Vorfahren sagten, anfangen oder auch nur veranlassen solle,
oder, um modern zu sprechen, daß sie den Anstoß zum Einschreiten der Gro߬
mächte geben solle; aber zwischen solcher "Gefühlspolitik" des rohen, hei߬
blütigen Mittelalters und der kurzsichtigen "Realpolitik" unsrer Zeitungen am
Ausgange des kulturstolzen, kühl verstandesmäßigen neunzehnten Jahrhunderts
giebt es manchen Mittelweg. Wir sind auch überzeugt, daß Deutschland den
Sultan, der deutschen Offizieren und Beamten so viel verdankt, über seine
Anschauungen durchaus nicht im Zweifel gelassen hat und daß es, wenn es
zum thätigen Einschreiten kommen sollte, nicht dahinten bleiben wird mit der
kühlen Erklärung: Das geht uns nichts an, deutsche Interessen sind nicht
gefährdet.

Wäre das denn überhaupt richtig? Seit Jahrzehnten dringt die abendländisch¬
christliche Kultur in immer breitern Strömen in den siechen Leib dieses alternden
Türkcnreiches ein, um die herrlichen Länder, von denen einst unsre eigne Kultur
ausgegangen ist, aus der barbarischen Verwahrlosung zu reißen, in die sie das
in vieler Beziehung brave und tüchtige, aber für jede höhere Kultur nun ein¬
mal völlig unzugängliche Türkenvolk seit fünf Jahrhunderten versetzt hat. Schon
haben sich die meisten europäischen Najahvölker, die Serben, Griechen, Rumänen
und Bulgaren von der türkischen Herrschaft befreit und selbständige Staaten
gebildet, die in ihrer Mischung von altererbter Barbarei und allermodernsten
Zivilisationsflitter auf uns nicht immer einen angenehmen Eindruck machen
mögen, aber doch auf dem Boden unsrer Kultur stehen. Chpern und Ägypten
sind so gut wie englisch, Tunis französisch, wie Algier schon seit 1830, Bos¬
nien österreichisch. Kurz, eine ganze Reihe von wertvollen Ländern hat die
Türkei seit dem Anfange dieses Jahrhunderts schon verloren, und das, was
ihr geblieben ist, das ist von allen Seiten von der europäischen Kultur um¬
faßt. Kein Zweifel, die Tage der Türkenherrschast neigen sich ihrem Ende zu, und
dieses Ende wäre schon da, wenn nicht die Eifersucht der Mittelmeermächte bis
jetzt jede Vereinbarung über das Schicksal des Osmanenreichs verhindert hätte.
Trotz aller Diplvinatenkunststücke und aller großherrlichen Verheißungen ist die
Aufnahme der Türkei in die Gemeinschaft der europäischen Staaten insofern
eine leere Form geblieben, als der türkische Staat ganz außer stände ist, sich


Die Knochen des pommerschen Grenadiers

auch auf europäischen Voden, in Konstantinopel, unter den Augen der Bot¬
schafter, unter den Kanonen ihrer Kriegsschiffe, das ist ohne alle Frage eine
Schande für unser Jahrhundert, und eine Schande für das ganze christliche
Europa, also auch für uns. Das auszusprechen, offen und allgemein, das
wäre die Pflicht auch der deutschen Presse. Statt dessen benimmt sie sich meist,
als ob der Grundsatz der Nichtintervention für alle Zeiten die Summe der
politischen Weisheit sei, oder als ob sie die Verpflichtung hätte, in ihren Äuße¬
rungen so vorsichtig wie eine Negierung zu sein! Nun wird kein vernünftiger
Mensch von unsrer Regierung verlangen, daß sie einen Kreuzzug gegen den Groß-
türkeu, wie unsre Vorfahren sagten, anfangen oder auch nur veranlassen solle,
oder, um modern zu sprechen, daß sie den Anstoß zum Einschreiten der Gro߬
mächte geben solle; aber zwischen solcher „Gefühlspolitik" des rohen, hei߬
blütigen Mittelalters und der kurzsichtigen „Realpolitik" unsrer Zeitungen am
Ausgange des kulturstolzen, kühl verstandesmäßigen neunzehnten Jahrhunderts
giebt es manchen Mittelweg. Wir sind auch überzeugt, daß Deutschland den
Sultan, der deutschen Offizieren und Beamten so viel verdankt, über seine
Anschauungen durchaus nicht im Zweifel gelassen hat und daß es, wenn es
zum thätigen Einschreiten kommen sollte, nicht dahinten bleiben wird mit der
kühlen Erklärung: Das geht uns nichts an, deutsche Interessen sind nicht
gefährdet.

Wäre das denn überhaupt richtig? Seit Jahrzehnten dringt die abendländisch¬
christliche Kultur in immer breitern Strömen in den siechen Leib dieses alternden
Türkcnreiches ein, um die herrlichen Länder, von denen einst unsre eigne Kultur
ausgegangen ist, aus der barbarischen Verwahrlosung zu reißen, in die sie das
in vieler Beziehung brave und tüchtige, aber für jede höhere Kultur nun ein¬
mal völlig unzugängliche Türkenvolk seit fünf Jahrhunderten versetzt hat. Schon
haben sich die meisten europäischen Najahvölker, die Serben, Griechen, Rumänen
und Bulgaren von der türkischen Herrschaft befreit und selbständige Staaten
gebildet, die in ihrer Mischung von altererbter Barbarei und allermodernsten
Zivilisationsflitter auf uns nicht immer einen angenehmen Eindruck machen
mögen, aber doch auf dem Boden unsrer Kultur stehen. Chpern und Ägypten
sind so gut wie englisch, Tunis französisch, wie Algier schon seit 1830, Bos¬
nien österreichisch. Kurz, eine ganze Reihe von wertvollen Ländern hat die
Türkei seit dem Anfange dieses Jahrhunderts schon verloren, und das, was
ihr geblieben ist, das ist von allen Seiten von der europäischen Kultur um¬
faßt. Kein Zweifel, die Tage der Türkenherrschast neigen sich ihrem Ende zu, und
dieses Ende wäre schon da, wenn nicht die Eifersucht der Mittelmeermächte bis
jetzt jede Vereinbarung über das Schicksal des Osmanenreichs verhindert hätte.
Trotz aller Diplvinatenkunststücke und aller großherrlichen Verheißungen ist die
Aufnahme der Türkei in die Gemeinschaft der europäischen Staaten insofern
eine leere Form geblieben, als der türkische Staat ganz außer stände ist, sich


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[0526] Die Knochen des pommerschen Grenadiers auch auf europäischen Voden, in Konstantinopel, unter den Augen der Bot¬ schafter, unter den Kanonen ihrer Kriegsschiffe, das ist ohne alle Frage eine Schande für unser Jahrhundert, und eine Schande für das ganze christliche Europa, also auch für uns. Das auszusprechen, offen und allgemein, das wäre die Pflicht auch der deutschen Presse. Statt dessen benimmt sie sich meist, als ob der Grundsatz der Nichtintervention für alle Zeiten die Summe der politischen Weisheit sei, oder als ob sie die Verpflichtung hätte, in ihren Äuße¬ rungen so vorsichtig wie eine Negierung zu sein! Nun wird kein vernünftiger Mensch von unsrer Regierung verlangen, daß sie einen Kreuzzug gegen den Groß- türkeu, wie unsre Vorfahren sagten, anfangen oder auch nur veranlassen solle, oder, um modern zu sprechen, daß sie den Anstoß zum Einschreiten der Gro߬ mächte geben solle; aber zwischen solcher „Gefühlspolitik" des rohen, hei߬ blütigen Mittelalters und der kurzsichtigen „Realpolitik" unsrer Zeitungen am Ausgange des kulturstolzen, kühl verstandesmäßigen neunzehnten Jahrhunderts giebt es manchen Mittelweg. Wir sind auch überzeugt, daß Deutschland den Sultan, der deutschen Offizieren und Beamten so viel verdankt, über seine Anschauungen durchaus nicht im Zweifel gelassen hat und daß es, wenn es zum thätigen Einschreiten kommen sollte, nicht dahinten bleiben wird mit der kühlen Erklärung: Das geht uns nichts an, deutsche Interessen sind nicht gefährdet. Wäre das denn überhaupt richtig? Seit Jahrzehnten dringt die abendländisch¬ christliche Kultur in immer breitern Strömen in den siechen Leib dieses alternden Türkcnreiches ein, um die herrlichen Länder, von denen einst unsre eigne Kultur ausgegangen ist, aus der barbarischen Verwahrlosung zu reißen, in die sie das in vieler Beziehung brave und tüchtige, aber für jede höhere Kultur nun ein¬ mal völlig unzugängliche Türkenvolk seit fünf Jahrhunderten versetzt hat. Schon haben sich die meisten europäischen Najahvölker, die Serben, Griechen, Rumänen und Bulgaren von der türkischen Herrschaft befreit und selbständige Staaten gebildet, die in ihrer Mischung von altererbter Barbarei und allermodernsten Zivilisationsflitter auf uns nicht immer einen angenehmen Eindruck machen mögen, aber doch auf dem Boden unsrer Kultur stehen. Chpern und Ägypten sind so gut wie englisch, Tunis französisch, wie Algier schon seit 1830, Bos¬ nien österreichisch. Kurz, eine ganze Reihe von wertvollen Ländern hat die Türkei seit dem Anfange dieses Jahrhunderts schon verloren, und das, was ihr geblieben ist, das ist von allen Seiten von der europäischen Kultur um¬ faßt. Kein Zweifel, die Tage der Türkenherrschast neigen sich ihrem Ende zu, und dieses Ende wäre schon da, wenn nicht die Eifersucht der Mittelmeermächte bis jetzt jede Vereinbarung über das Schicksal des Osmanenreichs verhindert hätte. Trotz aller Diplvinatenkunststücke und aller großherrlichen Verheißungen ist die Aufnahme der Türkei in die Gemeinschaft der europäischen Staaten insofern eine leere Form geblieben, als der türkische Staat ganz außer stände ist, sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/526>, abgerufen am 23.11.2024.