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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Knochen des xommerschen Grenadiers

s ist etwas schönes um die Selbstbeschränkung. Die deutsche
Politik hat dadurch, daß sie sich streng auf die Interessen des
Reichs beschränkte, allen Bestrebungen auf eine beherrschende Rolle,
wie sie Frankreich mehrmals gespielt hat und gern wieder spielen
möchte, entsagte und der Versuchung, sich überall einzumischen, nur
um das Selbstgefühl zu befriedigen oder den "Schulmeisterzu spielen," widerstand,
gegen alle Voraussetzungen der europäischen Welt den Frieden schon seit einem
Vierteljahrhundert erhalten und das Mißtrauen, das jeder jungen Macht zu
begegnen Pflegt, bei allen verständigen Menschen entwaffnet. In dieser weisen
Selbstbeschränkung hat einmal Fürst Bismarck gesagt, Bulgarien sei ihm nicht
die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert, und er hat dem Orient gegen¬
über stets den Standpunkt festgehalten, daß Deutschland hier den zunächst
interessirten Mächten den Vortritt zu überlassen habe. Aber große Männer
haben nicht selten das Schicksal, daß einzelne Aussprüche, die sie in einem
bestimmten Zeitpunkte und einer bestimmten Lage gegenüber gethan haben, aus
dem Zusammenhange gerissen und, was schlimmer ist, als absolute, für alle
Zeit giltige Wahrheiten hingestellt werden. Nicht viel anders macht es die
Masse der deutschen Presse mit dieser Bismarckischen Bemerkung bei der Be¬
urteilung der türkischen Wirren. Gräßliches ist in Armenien und jetzt wieder
in Konstantinopel geschehen, tausende von Menschen sind von dem fanatisirten
mohammedanischen Pöbel abgeschlachtet worden, und niemand bürgt dafür,
daß sich solche Auftritte uicht wiederholen, niemand dafür, daß sich der einmal
erregte Glaubensfanatismus nicht auch gegen andre Christen und wohl anch
gegen Abendländer richtet. Man wende nicht ein, die Armenier seien selbst
darnu schuld, oder sie seien von geheimen Sendungen einer abendländischen
Macht aufgehetzt worden; auch ziehe mau keinen der immer mißlichen Vergleiche
zwischen dem etwaigen sittlichen Werte der Türken und dem der Armenier,
zumal da die Untugenden einer unterjochten Rasse ganz anders zu sein Pflegen,
als die einer herrschenden. Darüber besteht doch kein Zweifel, daß die un¬
geheure Mehrzahl der unglücklichen Opfer vollständig unschuldig an etwaigen
geheimen politischen Machenschaften gewesen ist. Was da geschehen ist. wohl¬
bemerkt, nicht nur in einem entfernten, schwer zugänglichen Berglande, sondern




Die Knochen des xommerschen Grenadiers

s ist etwas schönes um die Selbstbeschränkung. Die deutsche
Politik hat dadurch, daß sie sich streng auf die Interessen des
Reichs beschränkte, allen Bestrebungen auf eine beherrschende Rolle,
wie sie Frankreich mehrmals gespielt hat und gern wieder spielen
möchte, entsagte und der Versuchung, sich überall einzumischen, nur
um das Selbstgefühl zu befriedigen oder den „Schulmeisterzu spielen," widerstand,
gegen alle Voraussetzungen der europäischen Welt den Frieden schon seit einem
Vierteljahrhundert erhalten und das Mißtrauen, das jeder jungen Macht zu
begegnen Pflegt, bei allen verständigen Menschen entwaffnet. In dieser weisen
Selbstbeschränkung hat einmal Fürst Bismarck gesagt, Bulgarien sei ihm nicht
die Knochen eines pommerschen Grenadiers wert, und er hat dem Orient gegen¬
über stets den Standpunkt festgehalten, daß Deutschland hier den zunächst
interessirten Mächten den Vortritt zu überlassen habe. Aber große Männer
haben nicht selten das Schicksal, daß einzelne Aussprüche, die sie in einem
bestimmten Zeitpunkte und einer bestimmten Lage gegenüber gethan haben, aus
dem Zusammenhange gerissen und, was schlimmer ist, als absolute, für alle
Zeit giltige Wahrheiten hingestellt werden. Nicht viel anders macht es die
Masse der deutschen Presse mit dieser Bismarckischen Bemerkung bei der Be¬
urteilung der türkischen Wirren. Gräßliches ist in Armenien und jetzt wieder
in Konstantinopel geschehen, tausende von Menschen sind von dem fanatisirten
mohammedanischen Pöbel abgeschlachtet worden, und niemand bürgt dafür,
daß sich solche Auftritte uicht wiederholen, niemand dafür, daß sich der einmal
erregte Glaubensfanatismus nicht auch gegen andre Christen und wohl anch
gegen Abendländer richtet. Man wende nicht ein, die Armenier seien selbst
darnu schuld, oder sie seien von geheimen Sendungen einer abendländischen
Macht aufgehetzt worden; auch ziehe mau keinen der immer mißlichen Vergleiche
zwischen dem etwaigen sittlichen Werte der Türken und dem der Armenier,
zumal da die Untugenden einer unterjochten Rasse ganz anders zu sein Pflegen,
als die einer herrschenden. Darüber besteht doch kein Zweifel, daß die un¬
geheure Mehrzahl der unglücklichen Opfer vollständig unschuldig an etwaigen
geheimen politischen Machenschaften gewesen ist. Was da geschehen ist. wohl¬
bemerkt, nicht nur in einem entfernten, schwer zugänglichen Berglande, sondern


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/525>, abgerufen am 01.09.2024.