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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ballade und Romanze

Da man aber trotz aller Verschiedenheit der Stoffe doch allgemein einen
abenteuerlichen, erschrecklichen Inhalt für die Romanze forderte, so mußte alles
Wunderbare, wovon der Volksaberglaube erzählt, besonders nächtliche Geister¬
erscheinungen, bevorzugt werden. Den Geist der gemordeten Marianne läßt
Gleim dem Gatten nachts erscheinen, sodaß dieser, erschreckt durch das klägliche
Gewinsel, zum Selbstmord getrieben wird. In "Hermin und Gunilde" heißt
es: noch jetzt soll ihr Geist, darf man dem Gerüchte trauen, des Nachts um
den Stein schwürinen. Besser gelang es Hvlty, den grausigen Schrecken dar¬
zustellen, der den treulosen Adelstan überfällt, als ihm der Geist des von ihm
verratnen Röschens nächtlicherweile erscheint. An das Grüßliche streift es,
wenn die Nonne, die den treulosen Ritter meuchlings hat erstechen lassen und
dann sein Herz mit Füßen getreten hat, auch nach dem Tode keine Ruhe findet,
sondern immer von neuem das tückische Herz zerreißt.

Man sieht, die lyrisch-epische Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts in
ihrer ersten Periode zeigt eine bunte Mannichfaltigkeit, sowohl in der Behand¬
lung der innern Form wie im Stoff; sie ist von unsern Dichtern so eigen¬
tümlich gestaltet worden, daß der fremdlündische Begriff eine ganz andre
Bedeutung erhielt, als er in der Heimat gehabt hatte. Besonders beachtens¬
wert ist, daß hier in der Romanze die Neigung zum Wunderbaren, zur Dar¬
stellung von Geistererscheinungen schon gerade so hervortritt wie später in der
Ballade. Echtermeyers Begriffsbestimmung ist also für die erste Periode
sicherlich nicht berechtigt, sie widerspricht dem geschichtlichen Verlauf.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß, nachdem Bürger durch Nach¬
ahmung englischer Vorbilder die Bezeichnung "Ballade" in unsere Litteratur
eingeführt hatte, die Namen "Ballade" und "Romanze" ganz willkürlich neben
einander gebraucht werden, oft sogar von ein und demselben Gedicht. Schon
Bürger war sich keines bestimmten Unterschieds bewußt. Er schreibt über
den Anfang der "Lenore" an Boie: "Ich habe einen herrlichen Romanzenstoff
aus einer uralten Ballade aufgestört" (Briefwechsel herausgegeben von Strodt-
mann I, 101, den 19. April 1773), und bald darauf von dem "Raubgrafen":
"Hier, lieber Repräsentant, empfangen Sie eine Romanze oder, wenn Sie
lieber wollen, eine Ballade" (S. 105, den 22. April 1773). Dazu bemerkt
Voß: "Bürger stand an, ob er Ballade die scherzhafte und Romanze die
rührende Erzählung des Volksliedes nennen sollte, oder umgekehrt. Boie riet
zu letzterm." Später nannte Bürger alle hierhergehörigen Gedichte immer
Balladen (Briefwechsel I, S. 110, 133, 163 usw.). Es scheint also, daß er
die versuchte Scheidung sehr bald aufgegeben hat. Nur eine Verdeckung der
Verlegenheit ist es, wenn er in der Ausgabe von 1789 (II, 3) über die be¬
treffenden Lieder den Titel "Lyrisch-epische Gedichte" setzte. Damit hatte er
auf die Scheidung endgiltig verzichtet. Auch Hölty stellt die Ballade der
Romanze vollkommen gleich, wenn er sagt: "Mir kommt ein Balladensänger


Ballade und Romanze

Da man aber trotz aller Verschiedenheit der Stoffe doch allgemein einen
abenteuerlichen, erschrecklichen Inhalt für die Romanze forderte, so mußte alles
Wunderbare, wovon der Volksaberglaube erzählt, besonders nächtliche Geister¬
erscheinungen, bevorzugt werden. Den Geist der gemordeten Marianne läßt
Gleim dem Gatten nachts erscheinen, sodaß dieser, erschreckt durch das klägliche
Gewinsel, zum Selbstmord getrieben wird. In „Hermin und Gunilde" heißt
es: noch jetzt soll ihr Geist, darf man dem Gerüchte trauen, des Nachts um
den Stein schwürinen. Besser gelang es Hvlty, den grausigen Schrecken dar¬
zustellen, der den treulosen Adelstan überfällt, als ihm der Geist des von ihm
verratnen Röschens nächtlicherweile erscheint. An das Grüßliche streift es,
wenn die Nonne, die den treulosen Ritter meuchlings hat erstechen lassen und
dann sein Herz mit Füßen getreten hat, auch nach dem Tode keine Ruhe findet,
sondern immer von neuem das tückische Herz zerreißt.

Man sieht, die lyrisch-epische Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts in
ihrer ersten Periode zeigt eine bunte Mannichfaltigkeit, sowohl in der Behand¬
lung der innern Form wie im Stoff; sie ist von unsern Dichtern so eigen¬
tümlich gestaltet worden, daß der fremdlündische Begriff eine ganz andre
Bedeutung erhielt, als er in der Heimat gehabt hatte. Besonders beachtens¬
wert ist, daß hier in der Romanze die Neigung zum Wunderbaren, zur Dar¬
stellung von Geistererscheinungen schon gerade so hervortritt wie später in der
Ballade. Echtermeyers Begriffsbestimmung ist also für die erste Periode
sicherlich nicht berechtigt, sie widerspricht dem geschichtlichen Verlauf.

Es ist daher nicht zu verwundern, daß, nachdem Bürger durch Nach¬
ahmung englischer Vorbilder die Bezeichnung „Ballade" in unsere Litteratur
eingeführt hatte, die Namen „Ballade" und „Romanze" ganz willkürlich neben
einander gebraucht werden, oft sogar von ein und demselben Gedicht. Schon
Bürger war sich keines bestimmten Unterschieds bewußt. Er schreibt über
den Anfang der „Lenore" an Boie: „Ich habe einen herrlichen Romanzenstoff
aus einer uralten Ballade aufgestört" (Briefwechsel herausgegeben von Strodt-
mann I, 101, den 19. April 1773), und bald darauf von dem „Raubgrafen":
„Hier, lieber Repräsentant, empfangen Sie eine Romanze oder, wenn Sie
lieber wollen, eine Ballade" (S. 105, den 22. April 1773). Dazu bemerkt
Voß: „Bürger stand an, ob er Ballade die scherzhafte und Romanze die
rührende Erzählung des Volksliedes nennen sollte, oder umgekehrt. Boie riet
zu letzterm." Später nannte Bürger alle hierhergehörigen Gedichte immer
Balladen (Briefwechsel I, S. 110, 133, 163 usw.). Es scheint also, daß er
die versuchte Scheidung sehr bald aufgegeben hat. Nur eine Verdeckung der
Verlegenheit ist es, wenn er in der Ausgabe von 1789 (II, 3) über die be¬
treffenden Lieder den Titel „Lyrisch-epische Gedichte" setzte. Damit hatte er
auf die Scheidung endgiltig verzichtet. Auch Hölty stellt die Ballade der
Romanze vollkommen gleich, wenn er sagt: „Mir kommt ein Balladensänger


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[0522] Ballade und Romanze Da man aber trotz aller Verschiedenheit der Stoffe doch allgemein einen abenteuerlichen, erschrecklichen Inhalt für die Romanze forderte, so mußte alles Wunderbare, wovon der Volksaberglaube erzählt, besonders nächtliche Geister¬ erscheinungen, bevorzugt werden. Den Geist der gemordeten Marianne läßt Gleim dem Gatten nachts erscheinen, sodaß dieser, erschreckt durch das klägliche Gewinsel, zum Selbstmord getrieben wird. In „Hermin und Gunilde" heißt es: noch jetzt soll ihr Geist, darf man dem Gerüchte trauen, des Nachts um den Stein schwürinen. Besser gelang es Hvlty, den grausigen Schrecken dar¬ zustellen, der den treulosen Adelstan überfällt, als ihm der Geist des von ihm verratnen Röschens nächtlicherweile erscheint. An das Grüßliche streift es, wenn die Nonne, die den treulosen Ritter meuchlings hat erstechen lassen und dann sein Herz mit Füßen getreten hat, auch nach dem Tode keine Ruhe findet, sondern immer von neuem das tückische Herz zerreißt. Man sieht, die lyrisch-epische Dichtung des achtzehnten Jahrhunderts in ihrer ersten Periode zeigt eine bunte Mannichfaltigkeit, sowohl in der Behand¬ lung der innern Form wie im Stoff; sie ist von unsern Dichtern so eigen¬ tümlich gestaltet worden, daß der fremdlündische Begriff eine ganz andre Bedeutung erhielt, als er in der Heimat gehabt hatte. Besonders beachtens¬ wert ist, daß hier in der Romanze die Neigung zum Wunderbaren, zur Dar¬ stellung von Geistererscheinungen schon gerade so hervortritt wie später in der Ballade. Echtermeyers Begriffsbestimmung ist also für die erste Periode sicherlich nicht berechtigt, sie widerspricht dem geschichtlichen Verlauf. Es ist daher nicht zu verwundern, daß, nachdem Bürger durch Nach¬ ahmung englischer Vorbilder die Bezeichnung „Ballade" in unsere Litteratur eingeführt hatte, die Namen „Ballade" und „Romanze" ganz willkürlich neben einander gebraucht werden, oft sogar von ein und demselben Gedicht. Schon Bürger war sich keines bestimmten Unterschieds bewußt. Er schreibt über den Anfang der „Lenore" an Boie: „Ich habe einen herrlichen Romanzenstoff aus einer uralten Ballade aufgestört" (Briefwechsel herausgegeben von Strodt- mann I, 101, den 19. April 1773), und bald darauf von dem „Raubgrafen": „Hier, lieber Repräsentant, empfangen Sie eine Romanze oder, wenn Sie lieber wollen, eine Ballade" (S. 105, den 22. April 1773). Dazu bemerkt Voß: „Bürger stand an, ob er Ballade die scherzhafte und Romanze die rührende Erzählung des Volksliedes nennen sollte, oder umgekehrt. Boie riet zu letzterm." Später nannte Bürger alle hierhergehörigen Gedichte immer Balladen (Briefwechsel I, S. 110, 133, 163 usw.). Es scheint also, daß er die versuchte Scheidung sehr bald aufgegeben hat. Nur eine Verdeckung der Verlegenheit ist es, wenn er in der Ausgabe von 1789 (II, 3) über die be¬ treffenden Lieder den Titel „Lyrisch-epische Gedichte" setzte. Damit hatte er auf die Scheidung endgiltig verzichtet. Auch Hölty stellt die Ballade der Romanze vollkommen gleich, wenn er sagt: „Mir kommt ein Balladensänger

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/522>, abgerufen am 06.10.2024.