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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Llhik

dabei ein edler Mensch bleiben, aber wenn er fortfahren wollte, für irgend
ein ideales Ziel zu kämpfen, das es innerhalb seiner Weltanschauung gar nicht
geben kann, so wäre er ein Don Quixote.

Auch den Inhalt der Sittlichkeit bestimmt der religiöse Glaube zu einem
großen Teile. Nur ein Beispiel. Als einen Beweis für die mitunter unsitt¬
liche Wirkung der Religion führt Samson an, daß bei den Polynesien der
Kindermord, den sie verüben, um der Übervölkerung vorzubeugen, religiös
bemäntelt und zu einer frommen That erhoben werde. Ja steht denn das so
ohne weiteres fest, daß der Kindermord etwas an sich unsittliches sei? Das
natürliche Sittengesetz gebietet Wohlwollen gegen den Nächsten. Daß durch
Übervölkerung das Wohlbefinden vermindert und unter Umständen -- auf
einer von der übrigen Welt abgesperrten Insel unbedingt -- das entsetzlichste
Elend erzeugt, kann nicht bestritten werden. Darum fordert die Nächstenliebe
ganz entschieden, daß der Übervölkerung vorgebeugt werde. Das könnte dnrch
einen hohen Grad von Selbstüberwindung der Männer geschehen. Da dieser
Grad nun schon bei hochgebildeten Christen selten, bei einem Naturvolke gar
nicht erreichbar ist, so bleiben als Mittel gegen zukünftiges Elend nur die
xroenr^lo Ävorws und der Kindermord übrig. Die erste schädigt die Mutter,
der zweite scheint demnach vorzuziehn zu sein, besonders da der Schmerz der
Tötung, der einem noch nicht zum vollen Bewußtsein erwachten Wesen zugefügt
wird, gar nicht in Betracht kommt gegenüber den Leiden, die der Erwachsene
in einem übervölkerten Lande zu erdulden hätte. Die Polynesier sind also
im Recht, wenn sie den Kindermord für eine Pflicht ansehn, der die religiöse
Weihe zu erteilen eine Naturreligion gar keinen Anstand zu nehmen braucht.
Der Christ hält den Kindermord für Sünde, nur aus Gründen seines Glaubens.
Er glaubt, daß das Gebot: du sollst nicht töten, von Gott selbst erlassen sei
und daher unter allen Umständen gelte, die nicht ausdrücklich als Ausnahmen
hervorgehoben werden, wie der Krieg und die Bestrafung der Verbrecher;
freilich werden diese Ausnahmen nur im Alten, nicht im Neuen Testament
gemacht. Der Christ glaubt ferner, daß die Leiden, die der Lauf der Natur
"ut sich bringt, von Gott zum Heile der Menschen geordnet seien, und hält
sich daher nicht für berechtigt, solche Leiden durch gewaltsame Eingriffe in den
Lauf der Natur abzuwehren. Endlich hegt der Christ bei unverschuldeten
Leiden, mögen sie noch so unausbleiblich scheinen, die Hoffnung, daß sie Gott
auf sein Gebet abwenden werde. Ganz allein aus diesen Gründen des positiven
Christenglaubens, nicht aus irgend einem Grunde der natürlichen Sittlichkeit,
ist der Kindermord zu politischen und volkswirtschaftlichen Zwecken verwerflich.
Samson nimmt eben ganz naiv Bestandteile der christlichen Moral in seine
natürliche Moral auf. Ein bei den Herren Philosophen sehr beliebtes Ver¬
fahren! Sie nehmen den christlichen Katechismus -- selbstverständlich in einer
vom Kultusminister npprobirten Ausgabe -- zur Hand, spinnen alle Moral-


Atheismus und Llhik

dabei ein edler Mensch bleiben, aber wenn er fortfahren wollte, für irgend
ein ideales Ziel zu kämpfen, das es innerhalb seiner Weltanschauung gar nicht
geben kann, so wäre er ein Don Quixote.

Auch den Inhalt der Sittlichkeit bestimmt der religiöse Glaube zu einem
großen Teile. Nur ein Beispiel. Als einen Beweis für die mitunter unsitt¬
liche Wirkung der Religion führt Samson an, daß bei den Polynesien der
Kindermord, den sie verüben, um der Übervölkerung vorzubeugen, religiös
bemäntelt und zu einer frommen That erhoben werde. Ja steht denn das so
ohne weiteres fest, daß der Kindermord etwas an sich unsittliches sei? Das
natürliche Sittengesetz gebietet Wohlwollen gegen den Nächsten. Daß durch
Übervölkerung das Wohlbefinden vermindert und unter Umständen — auf
einer von der übrigen Welt abgesperrten Insel unbedingt — das entsetzlichste
Elend erzeugt, kann nicht bestritten werden. Darum fordert die Nächstenliebe
ganz entschieden, daß der Übervölkerung vorgebeugt werde. Das könnte dnrch
einen hohen Grad von Selbstüberwindung der Männer geschehen. Da dieser
Grad nun schon bei hochgebildeten Christen selten, bei einem Naturvolke gar
nicht erreichbar ist, so bleiben als Mittel gegen zukünftiges Elend nur die
xroenr^lo Ävorws und der Kindermord übrig. Die erste schädigt die Mutter,
der zweite scheint demnach vorzuziehn zu sein, besonders da der Schmerz der
Tötung, der einem noch nicht zum vollen Bewußtsein erwachten Wesen zugefügt
wird, gar nicht in Betracht kommt gegenüber den Leiden, die der Erwachsene
in einem übervölkerten Lande zu erdulden hätte. Die Polynesier sind also
im Recht, wenn sie den Kindermord für eine Pflicht ansehn, der die religiöse
Weihe zu erteilen eine Naturreligion gar keinen Anstand zu nehmen braucht.
Der Christ hält den Kindermord für Sünde, nur aus Gründen seines Glaubens.
Er glaubt, daß das Gebot: du sollst nicht töten, von Gott selbst erlassen sei
und daher unter allen Umständen gelte, die nicht ausdrücklich als Ausnahmen
hervorgehoben werden, wie der Krieg und die Bestrafung der Verbrecher;
freilich werden diese Ausnahmen nur im Alten, nicht im Neuen Testament
gemacht. Der Christ glaubt ferner, daß die Leiden, die der Lauf der Natur
»ut sich bringt, von Gott zum Heile der Menschen geordnet seien, und hält
sich daher nicht für berechtigt, solche Leiden durch gewaltsame Eingriffe in den
Lauf der Natur abzuwehren. Endlich hegt der Christ bei unverschuldeten
Leiden, mögen sie noch so unausbleiblich scheinen, die Hoffnung, daß sie Gott
auf sein Gebet abwenden werde. Ganz allein aus diesen Gründen des positiven
Christenglaubens, nicht aus irgend einem Grunde der natürlichen Sittlichkeit,
ist der Kindermord zu politischen und volkswirtschaftlichen Zwecken verwerflich.
Samson nimmt eben ganz naiv Bestandteile der christlichen Moral in seine
natürliche Moral auf. Ein bei den Herren Philosophen sehr beliebtes Ver¬
fahren! Sie nehmen den christlichen Katechismus — selbstverständlich in einer
vom Kultusminister npprobirten Ausgabe — zur Hand, spinnen alle Moral-


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[0511] Atheismus und Llhik dabei ein edler Mensch bleiben, aber wenn er fortfahren wollte, für irgend ein ideales Ziel zu kämpfen, das es innerhalb seiner Weltanschauung gar nicht geben kann, so wäre er ein Don Quixote. Auch den Inhalt der Sittlichkeit bestimmt der religiöse Glaube zu einem großen Teile. Nur ein Beispiel. Als einen Beweis für die mitunter unsitt¬ liche Wirkung der Religion führt Samson an, daß bei den Polynesien der Kindermord, den sie verüben, um der Übervölkerung vorzubeugen, religiös bemäntelt und zu einer frommen That erhoben werde. Ja steht denn das so ohne weiteres fest, daß der Kindermord etwas an sich unsittliches sei? Das natürliche Sittengesetz gebietet Wohlwollen gegen den Nächsten. Daß durch Übervölkerung das Wohlbefinden vermindert und unter Umständen — auf einer von der übrigen Welt abgesperrten Insel unbedingt — das entsetzlichste Elend erzeugt, kann nicht bestritten werden. Darum fordert die Nächstenliebe ganz entschieden, daß der Übervölkerung vorgebeugt werde. Das könnte dnrch einen hohen Grad von Selbstüberwindung der Männer geschehen. Da dieser Grad nun schon bei hochgebildeten Christen selten, bei einem Naturvolke gar nicht erreichbar ist, so bleiben als Mittel gegen zukünftiges Elend nur die xroenr^lo Ävorws und der Kindermord übrig. Die erste schädigt die Mutter, der zweite scheint demnach vorzuziehn zu sein, besonders da der Schmerz der Tötung, der einem noch nicht zum vollen Bewußtsein erwachten Wesen zugefügt wird, gar nicht in Betracht kommt gegenüber den Leiden, die der Erwachsene in einem übervölkerten Lande zu erdulden hätte. Die Polynesier sind also im Recht, wenn sie den Kindermord für eine Pflicht ansehn, der die religiöse Weihe zu erteilen eine Naturreligion gar keinen Anstand zu nehmen braucht. Der Christ hält den Kindermord für Sünde, nur aus Gründen seines Glaubens. Er glaubt, daß das Gebot: du sollst nicht töten, von Gott selbst erlassen sei und daher unter allen Umständen gelte, die nicht ausdrücklich als Ausnahmen hervorgehoben werden, wie der Krieg und die Bestrafung der Verbrecher; freilich werden diese Ausnahmen nur im Alten, nicht im Neuen Testament gemacht. Der Christ glaubt ferner, daß die Leiden, die der Lauf der Natur »ut sich bringt, von Gott zum Heile der Menschen geordnet seien, und hält sich daher nicht für berechtigt, solche Leiden durch gewaltsame Eingriffe in den Lauf der Natur abzuwehren. Endlich hegt der Christ bei unverschuldeten Leiden, mögen sie noch so unausbleiblich scheinen, die Hoffnung, daß sie Gott auf sein Gebet abwenden werde. Ganz allein aus diesen Gründen des positiven Christenglaubens, nicht aus irgend einem Grunde der natürlichen Sittlichkeit, ist der Kindermord zu politischen und volkswirtschaftlichen Zwecken verwerflich. Samson nimmt eben ganz naiv Bestandteile der christlichen Moral in seine natürliche Moral auf. Ein bei den Herren Philosophen sehr beliebtes Ver¬ fahren! Sie nehmen den christlichen Katechismus — selbstverständlich in einer vom Kultusminister npprobirten Ausgabe — zur Hand, spinnen alle Moral-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/511>, abgerufen am 01.09.2024.