Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Atheismus und Ethik am Kreuze sterben läßt; seinen Triumph im Jenseits oder am Ende der Welt¬ Atheismus und Ethik am Kreuze sterben läßt; seinen Triumph im Jenseits oder am Ende der Welt¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0510" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223452"/> <fw type="header" place="top"> Atheismus und Ethik</fw><lb/> <p xml:id="ID_1435" prev="#ID_1434" next="#ID_1436"> am Kreuze sterben läßt; seinen Triumph im Jenseits oder am Ende der Welt¬<lb/> geschichte aber kann uns die Wirklichkeit nicht lehren, der muß eben geglaubt<lb/> werden. Glaubt mau an ihn, so hat es einen Sinn, an seiner Vorbereitung<lb/> zu arbeiten. Samson glaubt zu sehen, „daß alle Entwicklungsvorgänge, gleichsam<lb/> wie asymptotische Kurven, den Ausdruck eines Bestrebens darstellen, sich einer<lb/> gewissen Richtung anzunähern, die auf ein sittliches Ideal hinweist." Das<lb/> scheint dem einen so, dem andern scheint es anders, dem scheinen die Linien<lb/> wirr und ziellos durcheinander zu laufen. Nehmen wir eine recht dicke Linie<lb/> heraus. Die Entwicklung der politischen Kämpfe in der Kulturwelt hat im<lb/> letzten Jahrhundert insofern eine ganz entschiedne Richtung eingeschlagen, als<lb/> sie augenscheinlich auf Verminderung der Gewaltthätigkeiten abzielt. Liegt<lb/> aber darin ein sittlicher Fortschritt? Ist die Abnahme der Gewaltthätigkeiten<lb/> eine Wirkung wachsender Nächstenliebe? Nicht im mindesten! Die Ursache<lb/> dieser Änderung ist vielmehr folgende. Ehedem war in ewigen Raub- und<lb/> Eroberungskriegen und in blutigen Parteikämpfen gerade das Leben der Vor¬<lb/> nehmeren am meisten bedroht, sodaß der Sprößling edler Geschlechter von<lb/> Jugend auf mit der Aussicht.auf ein gewaltsames Ende vertraut war; der<lb/> alte Germane hielt es geradezu für eine Schande, an Krankheit oder Alters¬<lb/> schwäche auf seinem Bette zu sterben. Nachdem die Hilfsmittel der modernen<lb/> Technik eine durchgreifende Staatsordnung möglich gemacht haben, die blutige<lb/> Parteikämpfe verhindert, während gleichzeitig dieselbe Technik den Ausbruch<lb/> von Kriegen erschwert, ist den Angehörigen der herrschenden Stande ein langes<lb/> Leben gesichert und der Gedanke an ein gewaltsames Ende fern gerückt; mau<lb/> könnte beiucchc sagen, die Wahrscheinlichkeit eines unnatürlichen Todes für sie<lb/> sei auf Null gesunken, wenn nicht neuerdings das „Abstürzen" und das<lb/> Duelliren Mode geworden wären. So sind sie des Gedankens an einen gewalt¬<lb/> samen Tod entwöhnt, und andrerseits ist ihnen ihr Leben durch die Fülle von<lb/> Gütern und Bequemlichkeiten, die der technische Fortschritt bescheert, so viel<lb/> angenehmer und wertvoller geworden, daß ihnen der Gedanke an ein gewalt¬<lb/> sames Abreißen der „schönen freundlichen Gewohnheit des Daseins und<lb/> Wirkens" oder Genießens entsetzlich erscheint. Daher haben sie längst die<lb/> Tendenz des wohlgeordneten Staates, gewaltsame Zusammenstöße zu hindern,<lb/> zu der ihrigen gemacht. Aber der Haß der Parteien gegeneinander und der<lb/> Und der minder erfolgreichen Gruppen ans die glücklicheren ist nicht weniger<lb/> giftig als ehedem, und die Mittel, mit denen heute die Parteikämpfe geführt<lb/> werden: Lüge, Verleumdung, Ränke, Klatsch, Phrasen, endloses Gewäsch, sind<lb/> doch wahrhaftig nicht schöner als die ehemaligen Kämpfe Brust an Brust! Es<lb/> ist also nichts mit der sittlichen Weltordnung innerhalb des atheistischen<lb/> Glaubensgebiets. Für den Atheisten giebt es keine Hoffnung, außer der auf<lb/> rein persönliche Vorteile und Erfolge, wie sie ja der Naturlauf mit sich bringt;<lb/> auf alles, was darüber hinaufreicht, muß er verzichten. Er kann, er wird ja</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0510]
Atheismus und Ethik
am Kreuze sterben läßt; seinen Triumph im Jenseits oder am Ende der Welt¬
geschichte aber kann uns die Wirklichkeit nicht lehren, der muß eben geglaubt
werden. Glaubt mau an ihn, so hat es einen Sinn, an seiner Vorbereitung
zu arbeiten. Samson glaubt zu sehen, „daß alle Entwicklungsvorgänge, gleichsam
wie asymptotische Kurven, den Ausdruck eines Bestrebens darstellen, sich einer
gewissen Richtung anzunähern, die auf ein sittliches Ideal hinweist." Das
scheint dem einen so, dem andern scheint es anders, dem scheinen die Linien
wirr und ziellos durcheinander zu laufen. Nehmen wir eine recht dicke Linie
heraus. Die Entwicklung der politischen Kämpfe in der Kulturwelt hat im
letzten Jahrhundert insofern eine ganz entschiedne Richtung eingeschlagen, als
sie augenscheinlich auf Verminderung der Gewaltthätigkeiten abzielt. Liegt
aber darin ein sittlicher Fortschritt? Ist die Abnahme der Gewaltthätigkeiten
eine Wirkung wachsender Nächstenliebe? Nicht im mindesten! Die Ursache
dieser Änderung ist vielmehr folgende. Ehedem war in ewigen Raub- und
Eroberungskriegen und in blutigen Parteikämpfen gerade das Leben der Vor¬
nehmeren am meisten bedroht, sodaß der Sprößling edler Geschlechter von
Jugend auf mit der Aussicht.auf ein gewaltsames Ende vertraut war; der
alte Germane hielt es geradezu für eine Schande, an Krankheit oder Alters¬
schwäche auf seinem Bette zu sterben. Nachdem die Hilfsmittel der modernen
Technik eine durchgreifende Staatsordnung möglich gemacht haben, die blutige
Parteikämpfe verhindert, während gleichzeitig dieselbe Technik den Ausbruch
von Kriegen erschwert, ist den Angehörigen der herrschenden Stande ein langes
Leben gesichert und der Gedanke an ein gewaltsames Ende fern gerückt; mau
könnte beiucchc sagen, die Wahrscheinlichkeit eines unnatürlichen Todes für sie
sei auf Null gesunken, wenn nicht neuerdings das „Abstürzen" und das
Duelliren Mode geworden wären. So sind sie des Gedankens an einen gewalt¬
samen Tod entwöhnt, und andrerseits ist ihnen ihr Leben durch die Fülle von
Gütern und Bequemlichkeiten, die der technische Fortschritt bescheert, so viel
angenehmer und wertvoller geworden, daß ihnen der Gedanke an ein gewalt¬
sames Abreißen der „schönen freundlichen Gewohnheit des Daseins und
Wirkens" oder Genießens entsetzlich erscheint. Daher haben sie längst die
Tendenz des wohlgeordneten Staates, gewaltsame Zusammenstöße zu hindern,
zu der ihrigen gemacht. Aber der Haß der Parteien gegeneinander und der
Und der minder erfolgreichen Gruppen ans die glücklicheren ist nicht weniger
giftig als ehedem, und die Mittel, mit denen heute die Parteikämpfe geführt
werden: Lüge, Verleumdung, Ränke, Klatsch, Phrasen, endloses Gewäsch, sind
doch wahrhaftig nicht schöner als die ehemaligen Kämpfe Brust an Brust! Es
ist also nichts mit der sittlichen Weltordnung innerhalb des atheistischen
Glaubensgebiets. Für den Atheisten giebt es keine Hoffnung, außer der auf
rein persönliche Vorteile und Erfolge, wie sie ja der Naturlauf mit sich bringt;
auf alles, was darüber hinaufreicht, muß er verzichten. Er kann, er wird ja
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