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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Atheismus und Lthik

Einflüsse weniger dem religiösen Glauben als seinen berufnen Verkündern und
Erklürern schuld zu geben. Aber den heilsamen Einfluß, den das Christentum
ganz im stillen unter gewöhnlichen Verhältnissen auf die Durchschnittsmenschen
übt, unterschätzt Samson. Darin hat er ja wieder Recht, daß die Himmels¬
freuden ihre Zugkraft und die Höllenqualen ihre Schrecken verloren haben.
Um die Zugkraft der Himmelsfreuden ist es immer schwach bestellt gewesen;
sogar der Bruder Berthold gesteht in einer seiner Predigten, wenn nur die
Höllengefahr nicht wäre in diesem sündhaften Leben, "so wciere mir dise zit
hie uf ertriche lieber ze leben, danne ze himelriche." Der Teufel aber ist schon
seit dem Mittelalter dermaßen dem allgemeinen Gespött verfallen, daß seine
Folterkammer über das vierzehnte Lebensjahr hinaus niemanden mehr schreckt.
Die Vorstellung von einem Jenseits wirkt jedoch auf eine andre Art. Gleich¬
viel, wie das Leben im Jenseits beschaffen sein mag: der Gedanke, daß es ein
Jenseits giebt, daß drüben über uns Gericht gehalten wird, daß wir dort die
Früchte unsrer irdischen Aussaat ernten, dieser Gedanke, das ist gar nicht zu
bestreiten, legt den Leidenschaften Zügel an und hält von Unthaten zurück;
schon der Gedanke, daß drüben alle Welt in unser Inneres schauen, uns durch¬
schauen wird, wirkt sehr kräftig. Andrerseits hält der Gedanke, daß ein gütiger
und gerechter Gott unsre Geschicke lenkt, daß daher das Recht und das Gute
nur vorübergehend unterliegen können, daß sich die Rätsel, die uns hier
peinigen, drüben lösen werden, den Mut aufrecht, sodaß wir nicht verzweifeln
und noch weiterkämpfen, wenn schon aller Kampf vergebens zu sein scheint.
Niemand hat den Sieg des Unrechts über das Recht, das Glück des über¬
mütigen Räubers, der seinen Raub verpraßt und bis ans Ende lustig lebt,
allgemeiner gesehen und bitterer beklagt, als die alttestamentlichen Propheten
und Psalmisten. Aber keinen Augenblick sind sie verzagt; wider alle Wahr¬
scheinlichkeit des Erfolges sind sie ihrem weltgeschichtlichen Berufe treu ge¬
blieben; ihr In es, Domino, spor^öl, von ecmtunäM in astMnurn, ist in die
christliche Liturgie aufgenommen worden und bildet den Schluß des ?6 Dsuin,
und dieses: Ich werde nicht zu Schanden werden in Ewigkeit, hat nicht allein
Luthern sein großes und den Puritanern ihr blutiges Lebenswerk zu Ende zu
führen Kraft gegeben, sondern hilft auch noch täglich huuderttausenden von
kleinen Leuten bei ihrem unscheinbaren und mühseligen Tagewerke ausharren.
Daß auch ein Atheist ein guter Mensch sein könne, bezweifeln wir nicht im
geringsten. Wir sind sogar überzeugt, daß der Durchschnitt der atheistischen
Gebildeten sittlich nicht tiefer steht als die heutige Geistlichkeit aller Konfessionen,
und bedeutend höher als der Klerus in allen den Zeiten, wo er die Herrschaft
hatte. Wir sind sogar noch weit liberaler als Samson. Dieser spricht sowohl
den wissenschaftlichen Materialisten wie den Sozialdemokraten die Sittlichkeit
ab, wenigstens hält er die Sittlichkeit sür gefährdet durch ihre Lehren, die
aufs äußerste zu bekämpfen er für eine heilige Pflicht hält. Wir dagegen ver-


Atheismus und Lthik

Einflüsse weniger dem religiösen Glauben als seinen berufnen Verkündern und
Erklürern schuld zu geben. Aber den heilsamen Einfluß, den das Christentum
ganz im stillen unter gewöhnlichen Verhältnissen auf die Durchschnittsmenschen
übt, unterschätzt Samson. Darin hat er ja wieder Recht, daß die Himmels¬
freuden ihre Zugkraft und die Höllenqualen ihre Schrecken verloren haben.
Um die Zugkraft der Himmelsfreuden ist es immer schwach bestellt gewesen;
sogar der Bruder Berthold gesteht in einer seiner Predigten, wenn nur die
Höllengefahr nicht wäre in diesem sündhaften Leben, „so wciere mir dise zit
hie uf ertriche lieber ze leben, danne ze himelriche." Der Teufel aber ist schon
seit dem Mittelalter dermaßen dem allgemeinen Gespött verfallen, daß seine
Folterkammer über das vierzehnte Lebensjahr hinaus niemanden mehr schreckt.
Die Vorstellung von einem Jenseits wirkt jedoch auf eine andre Art. Gleich¬
viel, wie das Leben im Jenseits beschaffen sein mag: der Gedanke, daß es ein
Jenseits giebt, daß drüben über uns Gericht gehalten wird, daß wir dort die
Früchte unsrer irdischen Aussaat ernten, dieser Gedanke, das ist gar nicht zu
bestreiten, legt den Leidenschaften Zügel an und hält von Unthaten zurück;
schon der Gedanke, daß drüben alle Welt in unser Inneres schauen, uns durch¬
schauen wird, wirkt sehr kräftig. Andrerseits hält der Gedanke, daß ein gütiger
und gerechter Gott unsre Geschicke lenkt, daß daher das Recht und das Gute
nur vorübergehend unterliegen können, daß sich die Rätsel, die uns hier
peinigen, drüben lösen werden, den Mut aufrecht, sodaß wir nicht verzweifeln
und noch weiterkämpfen, wenn schon aller Kampf vergebens zu sein scheint.
Niemand hat den Sieg des Unrechts über das Recht, das Glück des über¬
mütigen Räubers, der seinen Raub verpraßt und bis ans Ende lustig lebt,
allgemeiner gesehen und bitterer beklagt, als die alttestamentlichen Propheten
und Psalmisten. Aber keinen Augenblick sind sie verzagt; wider alle Wahr¬
scheinlichkeit des Erfolges sind sie ihrem weltgeschichtlichen Berufe treu ge¬
blieben; ihr In es, Domino, spor^öl, von ecmtunäM in astMnurn, ist in die
christliche Liturgie aufgenommen worden und bildet den Schluß des ?6 Dsuin,
und dieses: Ich werde nicht zu Schanden werden in Ewigkeit, hat nicht allein
Luthern sein großes und den Puritanern ihr blutiges Lebenswerk zu Ende zu
führen Kraft gegeben, sondern hilft auch noch täglich huuderttausenden von
kleinen Leuten bei ihrem unscheinbaren und mühseligen Tagewerke ausharren.
Daß auch ein Atheist ein guter Mensch sein könne, bezweifeln wir nicht im
geringsten. Wir sind sogar überzeugt, daß der Durchschnitt der atheistischen
Gebildeten sittlich nicht tiefer steht als die heutige Geistlichkeit aller Konfessionen,
und bedeutend höher als der Klerus in allen den Zeiten, wo er die Herrschaft
hatte. Wir sind sogar noch weit liberaler als Samson. Dieser spricht sowohl
den wissenschaftlichen Materialisten wie den Sozialdemokraten die Sittlichkeit
ab, wenigstens hält er die Sittlichkeit sür gefährdet durch ihre Lehren, die
aufs äußerste zu bekämpfen er für eine heilige Pflicht hält. Wir dagegen ver-


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[0508] Atheismus und Lthik Einflüsse weniger dem religiösen Glauben als seinen berufnen Verkündern und Erklürern schuld zu geben. Aber den heilsamen Einfluß, den das Christentum ganz im stillen unter gewöhnlichen Verhältnissen auf die Durchschnittsmenschen übt, unterschätzt Samson. Darin hat er ja wieder Recht, daß die Himmels¬ freuden ihre Zugkraft und die Höllenqualen ihre Schrecken verloren haben. Um die Zugkraft der Himmelsfreuden ist es immer schwach bestellt gewesen; sogar der Bruder Berthold gesteht in einer seiner Predigten, wenn nur die Höllengefahr nicht wäre in diesem sündhaften Leben, „so wciere mir dise zit hie uf ertriche lieber ze leben, danne ze himelriche." Der Teufel aber ist schon seit dem Mittelalter dermaßen dem allgemeinen Gespött verfallen, daß seine Folterkammer über das vierzehnte Lebensjahr hinaus niemanden mehr schreckt. Die Vorstellung von einem Jenseits wirkt jedoch auf eine andre Art. Gleich¬ viel, wie das Leben im Jenseits beschaffen sein mag: der Gedanke, daß es ein Jenseits giebt, daß drüben über uns Gericht gehalten wird, daß wir dort die Früchte unsrer irdischen Aussaat ernten, dieser Gedanke, das ist gar nicht zu bestreiten, legt den Leidenschaften Zügel an und hält von Unthaten zurück; schon der Gedanke, daß drüben alle Welt in unser Inneres schauen, uns durch¬ schauen wird, wirkt sehr kräftig. Andrerseits hält der Gedanke, daß ein gütiger und gerechter Gott unsre Geschicke lenkt, daß daher das Recht und das Gute nur vorübergehend unterliegen können, daß sich die Rätsel, die uns hier peinigen, drüben lösen werden, den Mut aufrecht, sodaß wir nicht verzweifeln und noch weiterkämpfen, wenn schon aller Kampf vergebens zu sein scheint. Niemand hat den Sieg des Unrechts über das Recht, das Glück des über¬ mütigen Räubers, der seinen Raub verpraßt und bis ans Ende lustig lebt, allgemeiner gesehen und bitterer beklagt, als die alttestamentlichen Propheten und Psalmisten. Aber keinen Augenblick sind sie verzagt; wider alle Wahr¬ scheinlichkeit des Erfolges sind sie ihrem weltgeschichtlichen Berufe treu ge¬ blieben; ihr In es, Domino, spor^öl, von ecmtunäM in astMnurn, ist in die christliche Liturgie aufgenommen worden und bildet den Schluß des ?6 Dsuin, und dieses: Ich werde nicht zu Schanden werden in Ewigkeit, hat nicht allein Luthern sein großes und den Puritanern ihr blutiges Lebenswerk zu Ende zu führen Kraft gegeben, sondern hilft auch noch täglich huuderttausenden von kleinen Leuten bei ihrem unscheinbaren und mühseligen Tagewerke ausharren. Daß auch ein Atheist ein guter Mensch sein könne, bezweifeln wir nicht im geringsten. Wir sind sogar überzeugt, daß der Durchschnitt der atheistischen Gebildeten sittlich nicht tiefer steht als die heutige Geistlichkeit aller Konfessionen, und bedeutend höher als der Klerus in allen den Zeiten, wo er die Herrschaft hatte. Wir sind sogar noch weit liberaler als Samson. Dieser spricht sowohl den wissenschaftlichen Materialisten wie den Sozialdemokraten die Sittlichkeit ab, wenigstens hält er die Sittlichkeit sür gefährdet durch ihre Lehren, die aufs äußerste zu bekämpfen er für eine heilige Pflicht hält. Wir dagegen ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/508>, abgerufen am 01.09.2024.