Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.ist das ethische Element vom ästhetischen kaum zu scheiden. Das Nachdenken Bis hierher haben wir so gesprochen, als wenn sich das sittliche Wesen ") Die Ästhetik verschwindet bei den untern Klassen der nördlichen Länder stellenweise vollständig, wenigstens bei den Männern; von den Frauen suchen auch die allerärmsten sich selbst und ihre Wohnung ein wenig schön zu machen. Grenzboten III 1896 W
ist das ethische Element vom ästhetischen kaum zu scheiden. Das Nachdenken Bis hierher haben wir so gesprochen, als wenn sich das sittliche Wesen ") Die Ästhetik verschwindet bei den untern Klassen der nördlichen Länder stellenweise vollständig, wenigstens bei den Männern; von den Frauen suchen auch die allerärmsten sich selbst und ihre Wohnung ein wenig schön zu machen. Grenzboten III 1896 W
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ist das ethische Element vom ästhetischen kaum zu scheiden. Das Nachdenken
zieht dann aus dem so beharrlich wiederkehrenden Wohlgefallen und Mißfallen
an gewissen entgegengesetzten Verhaltungsarten die Folgerung, daß es Pflicht
sei, die eine zu beobachten und die andre zu meiden, und so erscheint denn
— erst auf dieser hohen Stufe — der kategorische Imperativ, das: du sollst!
Auch dabei tritt der enge Zusammenhang zwischen den beiden Gebieten zu
Tage. Fließen doch alle Pflichten des heranwachsenden jungen Menschen in
der einen zusammen, ans seine Umgebung einen angenehmen Eindruck zu
macheu, und nicht bloß bei den Hellenen wurde das Ziel der Erziehung in
der xtt/i.ox«^«'?/« gesehen, sondern auch jede deutsche Proletariermutter rüffelt
ihren Buben, wenn er ihr durch ein unvorteilhaftes Äußere Schande macht.
Wenn sich die Meinung gebildet hat, das ästhetische Gebiet gehe die Pflicht
gar nichts an, so rührt das daher, daß die meisten der Gegenstände, auf die
sich unsre ästhetischen Urteile beziehn, außerhalb des Bereichs unsers Handelns
und manche, wie der Sternenhimmel, außerhalb des Bereichs alles mensch¬
lichen Handelns liegen, während wir ethische Urteile nur über menschliche
Handlungen füllen und größtenteils über solche, die zu verrichten wir selbst
in die Lage kommen können. Sobald es sich aber um die Erscheinung des
Menschen handelt, ist das Ästhetische nicht mehr moralisch gleichgiltig; aus
Schillers Xenie: Inneres und Äußeres, ließe sich ein ganzer Pflichtenkodex
herausspinnen. Die sich in Werturteilen äußernde Seite der menschlichen
Erkenntniskraft nennt Kant die praktische Verrinnst, wie schon die Scholastiker
das Gewissen, genauer die einzelne Äußerung des Gewissens, äiotÄinöii xrae-
iieum raUonis genannt haben.
Bis hierher haben wir so gesprochen, als wenn sich das sittliche Wesen
des Menschen unabhängig von Einwirkungen andrer moralischer Wesen ent¬
wickelte. Das ist nun zum Glück nicht der Fall. Zum Glück, sagen wir,
weil die moralischen Empfindungen ebenso wie die ästhetischen viel zarter und
schwächer sind als die gröbern leiblichen Empfindungen und Begierden und
gewisse andre, wie die Ehrliebe, die Liebe zum Eigentum und die Lust zu
herrschen, die zwar mit der moralischen Natur des Menschen zusammenhängen,
an sich aber nicht moralisch sind.*) Die aus der sittlichen Natur des Menschen
entspringenden Forderungen geraten mit seinen Interessen so oft in Konflikt,
und Hunger, Frost und Schläge thun so viel weher als Gewissensbisse, daß
sich der Mensch sehr leicht an eine unsittliche Handlungsweise gewöhnt, wenn
er dabei im Leben besser fährt, und daß die Stimme seines Gewissens ver¬
stummt, anstatt sich zum kategorischen Imperativ zu verstärken. Da ist nun
") Die Ästhetik verschwindet bei den untern Klassen der nördlichen Länder stellenweise
vollständig, wenigstens bei den Männern; von den Frauen suchen auch die allerärmsten sich
selbst und ihre Wohnung ein wenig schön zu machen.
Grenzboten III 1896 W
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