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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Erweiterung der Krankenversicherung

Menschen, aber die rechte Freiheit kann sich nur auf der Grundlage eines
heilsamen Zwanges entwickeln, sonst führt sie zur sozialen Mißwirtschaft und
Anarchie. Warum haben denn die Freiheitsschwärmer nicht besser dafür ge¬
sorgt, daß die Not der Arbeiterschaft schon früher auf dem Wege der "freien
Selbsthilfe" aus der Welt geschafft oder doch gelindert worden ist? Auch
hier ließ der Liberalismus die Dinge gehen, wie sie wollten, statt der materiellen
Hilfe gab man den Notleidenden allerlei "ideale Freiheit," d. h. statt Brot
gab man ihnen Steine.

Von allen Berufen bringt der leidenden Menschheit kein zweiter soviel
werkthätige Hilfe wie der ärztliche. Und doch, wie unerquicklich ist bei alledem
unsre ganze heutige Lage, wo wir durch die Verhältnisse gezwungen sind, in
der Hauptsache von den Notgroschen der armen Kranken unser Dasein zu
fristen! Aus Berlin wurde kürzlich berichtet, daß bei den freien Hilfskasfen
durchweg 40 Prozent der ärztlichen Honorarforderuugen nicht einzutreiben seien.
Diese Zahl macht jedes weitere Wort über die Bedürfnisfrage der freien
ärztlichen Hilfe überflüssig. Während die Ärzte -- ähnlich wie die Geist¬
lichen -- als die Helfer und Wohlthäter der Kranken und Bedürftigen da¬
stehen sollten, sind wir heutzutage noch immer dazu verurteilt, aus unsrer
humanen Thätigkeit el" "Geschäft" zu machen und womöglich jeden einzelnen
Krankheitsfall "kaufmännisch auszubeuten." Und nun stelle man sich vor,
unter welchen Entbehrungen sich bedürftige Familien von ihrem geringen Ein¬
kommen eine Summe von 30, 50, 100 Mark und darüber für Arztkosten
abzwacken, ja gewiß nicht selten geradezu vom Munde abdarben müssen!

Das sind peinliche Zustände, die nicht länger geduldet werden sollten.
Die ungleich verteilten Lasten, die den Einzelnen erdrücken, müssen auf die
Schultern der Gesamtheit verteilt und dadurch für jedermann erträglich ge¬
wacht werden.

Die Frage lautet also: Soll die wirtschaftliche Existenz von Millionen
Menschen, die sich selbst in den Tagen der Gesundheit nur mit Mühe und
Not durchkämpfen, noch länger dem Spiel des Schicksals preisgegeben werden,
oder wird unser Staat die Verpflichtung anerkennen, hier einzugreifen und zur
Linderung und Verhütung unverschuldeter Not einen weitern Schritt zu thun?
>zu der Lage dazu ist der Staat jeden Tag, denn es gehört dazu weiter nichts
als der ante Wille. Der Staat ist ja an und für sich eine sozialistische Ein¬
richtung, und die moderne Staatsidee ist ja nichts andres als der Sozialismus.
Wenn auch der Einzelne von Rechts wegen nicht mehr verlangen kann als das
Dasein, so läßt sich doch aus diesem Rechte die soziale Forderung auf ein
menschenwürdiges Dasein ableiten. Dazu gehört aber, daß wenigstens ein
leidlich auskömmliches Maß an materiellen Gütern vorhanden sei, und daß
die "wirtschaftlich schwachen Existenzen" nicht fortwährend der Gefahr ausgesetzt
seien, durch Krankheitsfälle usw. ruinirt werden zu können. Wo die Not an-


Die Erweiterung der Krankenversicherung

Menschen, aber die rechte Freiheit kann sich nur auf der Grundlage eines
heilsamen Zwanges entwickeln, sonst führt sie zur sozialen Mißwirtschaft und
Anarchie. Warum haben denn die Freiheitsschwärmer nicht besser dafür ge¬
sorgt, daß die Not der Arbeiterschaft schon früher auf dem Wege der „freien
Selbsthilfe" aus der Welt geschafft oder doch gelindert worden ist? Auch
hier ließ der Liberalismus die Dinge gehen, wie sie wollten, statt der materiellen
Hilfe gab man den Notleidenden allerlei „ideale Freiheit," d. h. statt Brot
gab man ihnen Steine.

Von allen Berufen bringt der leidenden Menschheit kein zweiter soviel
werkthätige Hilfe wie der ärztliche. Und doch, wie unerquicklich ist bei alledem
unsre ganze heutige Lage, wo wir durch die Verhältnisse gezwungen sind, in
der Hauptsache von den Notgroschen der armen Kranken unser Dasein zu
fristen! Aus Berlin wurde kürzlich berichtet, daß bei den freien Hilfskasfen
durchweg 40 Prozent der ärztlichen Honorarforderuugen nicht einzutreiben seien.
Diese Zahl macht jedes weitere Wort über die Bedürfnisfrage der freien
ärztlichen Hilfe überflüssig. Während die Ärzte — ähnlich wie die Geist¬
lichen — als die Helfer und Wohlthäter der Kranken und Bedürftigen da¬
stehen sollten, sind wir heutzutage noch immer dazu verurteilt, aus unsrer
humanen Thätigkeit el» „Geschäft" zu machen und womöglich jeden einzelnen
Krankheitsfall „kaufmännisch auszubeuten." Und nun stelle man sich vor,
unter welchen Entbehrungen sich bedürftige Familien von ihrem geringen Ein¬
kommen eine Summe von 30, 50, 100 Mark und darüber für Arztkosten
abzwacken, ja gewiß nicht selten geradezu vom Munde abdarben müssen!

Das sind peinliche Zustände, die nicht länger geduldet werden sollten.
Die ungleich verteilten Lasten, die den Einzelnen erdrücken, müssen auf die
Schultern der Gesamtheit verteilt und dadurch für jedermann erträglich ge¬
wacht werden.

Die Frage lautet also: Soll die wirtschaftliche Existenz von Millionen
Menschen, die sich selbst in den Tagen der Gesundheit nur mit Mühe und
Not durchkämpfen, noch länger dem Spiel des Schicksals preisgegeben werden,
oder wird unser Staat die Verpflichtung anerkennen, hier einzugreifen und zur
Linderung und Verhütung unverschuldeter Not einen weitern Schritt zu thun?
>zu der Lage dazu ist der Staat jeden Tag, denn es gehört dazu weiter nichts
als der ante Wille. Der Staat ist ja an und für sich eine sozialistische Ein¬
richtung, und die moderne Staatsidee ist ja nichts andres als der Sozialismus.
Wenn auch der Einzelne von Rechts wegen nicht mehr verlangen kann als das
Dasein, so läßt sich doch aus diesem Rechte die soziale Forderung auf ein
menschenwürdiges Dasein ableiten. Dazu gehört aber, daß wenigstens ein
leidlich auskömmliches Maß an materiellen Gütern vorhanden sei, und daß
die „wirtschaftlich schwachen Existenzen" nicht fortwährend der Gefahr ausgesetzt
seien, durch Krankheitsfälle usw. ruinirt werden zu können. Wo die Not an-


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[0499] Die Erweiterung der Krankenversicherung Menschen, aber die rechte Freiheit kann sich nur auf der Grundlage eines heilsamen Zwanges entwickeln, sonst führt sie zur sozialen Mißwirtschaft und Anarchie. Warum haben denn die Freiheitsschwärmer nicht besser dafür ge¬ sorgt, daß die Not der Arbeiterschaft schon früher auf dem Wege der „freien Selbsthilfe" aus der Welt geschafft oder doch gelindert worden ist? Auch hier ließ der Liberalismus die Dinge gehen, wie sie wollten, statt der materiellen Hilfe gab man den Notleidenden allerlei „ideale Freiheit," d. h. statt Brot gab man ihnen Steine. Von allen Berufen bringt der leidenden Menschheit kein zweiter soviel werkthätige Hilfe wie der ärztliche. Und doch, wie unerquicklich ist bei alledem unsre ganze heutige Lage, wo wir durch die Verhältnisse gezwungen sind, in der Hauptsache von den Notgroschen der armen Kranken unser Dasein zu fristen! Aus Berlin wurde kürzlich berichtet, daß bei den freien Hilfskasfen durchweg 40 Prozent der ärztlichen Honorarforderuugen nicht einzutreiben seien. Diese Zahl macht jedes weitere Wort über die Bedürfnisfrage der freien ärztlichen Hilfe überflüssig. Während die Ärzte — ähnlich wie die Geist¬ lichen — als die Helfer und Wohlthäter der Kranken und Bedürftigen da¬ stehen sollten, sind wir heutzutage noch immer dazu verurteilt, aus unsrer humanen Thätigkeit el» „Geschäft" zu machen und womöglich jeden einzelnen Krankheitsfall „kaufmännisch auszubeuten." Und nun stelle man sich vor, unter welchen Entbehrungen sich bedürftige Familien von ihrem geringen Ein¬ kommen eine Summe von 30, 50, 100 Mark und darüber für Arztkosten abzwacken, ja gewiß nicht selten geradezu vom Munde abdarben müssen! Das sind peinliche Zustände, die nicht länger geduldet werden sollten. Die ungleich verteilten Lasten, die den Einzelnen erdrücken, müssen auf die Schultern der Gesamtheit verteilt und dadurch für jedermann erträglich ge¬ wacht werden. Die Frage lautet also: Soll die wirtschaftliche Existenz von Millionen Menschen, die sich selbst in den Tagen der Gesundheit nur mit Mühe und Not durchkämpfen, noch länger dem Spiel des Schicksals preisgegeben werden, oder wird unser Staat die Verpflichtung anerkennen, hier einzugreifen und zur Linderung und Verhütung unverschuldeter Not einen weitern Schritt zu thun? >zu der Lage dazu ist der Staat jeden Tag, denn es gehört dazu weiter nichts als der ante Wille. Der Staat ist ja an und für sich eine sozialistische Ein¬ richtung, und die moderne Staatsidee ist ja nichts andres als der Sozialismus. Wenn auch der Einzelne von Rechts wegen nicht mehr verlangen kann als das Dasein, so läßt sich doch aus diesem Rechte die soziale Forderung auf ein menschenwürdiges Dasein ableiten. Dazu gehört aber, daß wenigstens ein leidlich auskömmliches Maß an materiellen Gütern vorhanden sei, und daß die „wirtschaftlich schwachen Existenzen" nicht fortwährend der Gefahr ausgesetzt seien, durch Krankheitsfälle usw. ruinirt werden zu können. Wo die Not an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/499>, abgerufen am 01.09.2024.