Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die Erweiterung der Krankenversicherung

Frauen und Kinder eine so dringende Forderung, daß sie als der erste und
wichtigste Gegenstand der sozialen Gesetzgebung auf die Tagesordnung gesetzt
werden sollte. Das Flickwerk der "fakultativen" Familienunterstützung genügt
nicht, hier muß ganze Arbeit gemacht werden, und ohne den wohlthätigen
Zwang der Gesetzgebung ist niemals eine gründliche Abhilfe zu erwarten.
Mit der Beteiligung der Familienangehörigen an der Krankenversicherung
würde gewissermaßer das zweite Stockwerk an dem großen Bau unsrer sozialen
Gesetzgebung aufgeführt werden.

Aber damit wäre das ganze Werk immer noch nicht vollendet. Aus der
Steuerstatistik sehen wir, daß etwa dreiviertel aller Erwerbenden (die mit ihren
Angehörigen etwa 36 bis 38 Millionen Köpfe ausmachen werden!) nur ein
Einkommen bis zu 900 oder 1000 Mark haben. Während es nun die Gesetz¬
geber sür nötig gehalten haben, alle Arbeiter mit einem Einkommen bis zu
2000 Mark als "wirtschaftlich schwache Existenzen" in die Krankenversicherung
aufzunehmen, ist für die übrigen Millionen von Kleinbürgern, die sich eben-
salls in der Mehrzahl mit dem äußerst kärglichen Einkommen bis zu 900 Mark
jährlich durchzuschlagen haben, von der Gesetzgebung bisher nicht das Geringste
gethan worden. Und doch ist die Hilfsbcdürftigkeit hier durchweg ebenso groß
wie bei den Arbeitern, sodaß die oft zu hörende Klage dieser kleinen Leute,
daß ihre Lage bei Krankheitsfüllen übler sei als die des Arbeiters, als völlig
berechtigt anerkannt werden muß. Sollte es daher nicht recht und billig sein,
die Wohlthaten der Krankenversicherung nun auch auf diese auszudehnen?
Die "Fortschrittler," die den Grundsatz verfechten, daß in unserm sozialen und
wirtschaftlichen Leben alles "hübsch beim alten" bleiben solle, werden ein¬
wenden, daß das Kleinbürgertum bisher ohne die gesetzliche Krankenversicherung
ausgekommen sei, die staatliche Fürsorge also überflüssig sei. Gewiß haben sich
diese Leute bisher durchgeschlagen, aber es ging, wie es eben ging, kein Mensch
hat sich darum gekümmert, ob alljährlich Hunderttausende von kleinen Familien
durch die Kosten für den Arzt und Apotheke schwer getroffen, ja zum Teil
ruinirt worden sind. Dann könnte man auch die Krankenversicherung der Arbeiter
als überflüssig hinstellen, denn auch die Millionen von Arbeitern haben sich
früher ohne Kranken-, Unfall- oder Jnvaliditätsversicherung durchwürgeu
müssen. Man wird ferner einwenden können, es stehe ja diesen kleinbürger¬
lichen Familien frei, durch private Krankenversicherung sich selbst vor solcher
Not zu schützen. Das ist aber leichter gesagt als gethan. Der Leichtsinn
der Massen ist sehr groß. Die meisten Menschen denken in gesunden Tagen
nur wenig an die Zukunft, ihre Lage kommt ihnen erst dann zum Bewußtsein,
wenn sie mitten in der Not stecken und sie am eignen Leibe spüren. Diesem
Übel kann man nur auf dem Wege der Gesetzgebung beikommen, und mit
schönen Schlagwörtern wie Freiheit und Zwang oder Individualismus und
Kommunismus wird hier uicht das Geringste gebessert. Freiheit wollen alle


Die Erweiterung der Krankenversicherung

Frauen und Kinder eine so dringende Forderung, daß sie als der erste und
wichtigste Gegenstand der sozialen Gesetzgebung auf die Tagesordnung gesetzt
werden sollte. Das Flickwerk der „fakultativen" Familienunterstützung genügt
nicht, hier muß ganze Arbeit gemacht werden, und ohne den wohlthätigen
Zwang der Gesetzgebung ist niemals eine gründliche Abhilfe zu erwarten.
Mit der Beteiligung der Familienangehörigen an der Krankenversicherung
würde gewissermaßer das zweite Stockwerk an dem großen Bau unsrer sozialen
Gesetzgebung aufgeführt werden.

Aber damit wäre das ganze Werk immer noch nicht vollendet. Aus der
Steuerstatistik sehen wir, daß etwa dreiviertel aller Erwerbenden (die mit ihren
Angehörigen etwa 36 bis 38 Millionen Köpfe ausmachen werden!) nur ein
Einkommen bis zu 900 oder 1000 Mark haben. Während es nun die Gesetz¬
geber sür nötig gehalten haben, alle Arbeiter mit einem Einkommen bis zu
2000 Mark als „wirtschaftlich schwache Existenzen" in die Krankenversicherung
aufzunehmen, ist für die übrigen Millionen von Kleinbürgern, die sich eben-
salls in der Mehrzahl mit dem äußerst kärglichen Einkommen bis zu 900 Mark
jährlich durchzuschlagen haben, von der Gesetzgebung bisher nicht das Geringste
gethan worden. Und doch ist die Hilfsbcdürftigkeit hier durchweg ebenso groß
wie bei den Arbeitern, sodaß die oft zu hörende Klage dieser kleinen Leute,
daß ihre Lage bei Krankheitsfüllen übler sei als die des Arbeiters, als völlig
berechtigt anerkannt werden muß. Sollte es daher nicht recht und billig sein,
die Wohlthaten der Krankenversicherung nun auch auf diese auszudehnen?
Die „Fortschrittler," die den Grundsatz verfechten, daß in unserm sozialen und
wirtschaftlichen Leben alles „hübsch beim alten" bleiben solle, werden ein¬
wenden, daß das Kleinbürgertum bisher ohne die gesetzliche Krankenversicherung
ausgekommen sei, die staatliche Fürsorge also überflüssig sei. Gewiß haben sich
diese Leute bisher durchgeschlagen, aber es ging, wie es eben ging, kein Mensch
hat sich darum gekümmert, ob alljährlich Hunderttausende von kleinen Familien
durch die Kosten für den Arzt und Apotheke schwer getroffen, ja zum Teil
ruinirt worden sind. Dann könnte man auch die Krankenversicherung der Arbeiter
als überflüssig hinstellen, denn auch die Millionen von Arbeitern haben sich
früher ohne Kranken-, Unfall- oder Jnvaliditätsversicherung durchwürgeu
müssen. Man wird ferner einwenden können, es stehe ja diesen kleinbürger¬
lichen Familien frei, durch private Krankenversicherung sich selbst vor solcher
Not zu schützen. Das ist aber leichter gesagt als gethan. Der Leichtsinn
der Massen ist sehr groß. Die meisten Menschen denken in gesunden Tagen
nur wenig an die Zukunft, ihre Lage kommt ihnen erst dann zum Bewußtsein,
wenn sie mitten in der Not stecken und sie am eignen Leibe spüren. Diesem
Übel kann man nur auf dem Wege der Gesetzgebung beikommen, und mit
schönen Schlagwörtern wie Freiheit und Zwang oder Individualismus und
Kommunismus wird hier uicht das Geringste gebessert. Freiheit wollen alle


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0498" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223440"/>
          <fw type="header" place="top"> Die Erweiterung der Krankenversicherung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1406" prev="#ID_1405"> Frauen und Kinder eine so dringende Forderung, daß sie als der erste und<lb/>
wichtigste Gegenstand der sozialen Gesetzgebung auf die Tagesordnung gesetzt<lb/>
werden sollte. Das Flickwerk der &#x201E;fakultativen" Familienunterstützung genügt<lb/>
nicht, hier muß ganze Arbeit gemacht werden, und ohne den wohlthätigen<lb/>
Zwang der Gesetzgebung ist niemals eine gründliche Abhilfe zu erwarten.<lb/>
Mit der Beteiligung der Familienangehörigen an der Krankenversicherung<lb/>
würde gewissermaßer das zweite Stockwerk an dem großen Bau unsrer sozialen<lb/>
Gesetzgebung aufgeführt werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1407" next="#ID_1408"> Aber damit wäre das ganze Werk immer noch nicht vollendet. Aus der<lb/>
Steuerstatistik sehen wir, daß etwa dreiviertel aller Erwerbenden (die mit ihren<lb/>
Angehörigen etwa 36 bis 38 Millionen Köpfe ausmachen werden!) nur ein<lb/>
Einkommen bis zu 900 oder 1000 Mark haben. Während es nun die Gesetz¬<lb/>
geber sür nötig gehalten haben, alle Arbeiter mit einem Einkommen bis zu<lb/>
2000 Mark als &#x201E;wirtschaftlich schwache Existenzen" in die Krankenversicherung<lb/>
aufzunehmen, ist für die übrigen Millionen von Kleinbürgern, die sich eben-<lb/>
salls in der Mehrzahl mit dem äußerst kärglichen Einkommen bis zu 900 Mark<lb/>
jährlich durchzuschlagen haben, von der Gesetzgebung bisher nicht das Geringste<lb/>
gethan worden. Und doch ist die Hilfsbcdürftigkeit hier durchweg ebenso groß<lb/>
wie bei den Arbeitern, sodaß die oft zu hörende Klage dieser kleinen Leute,<lb/>
daß ihre Lage bei Krankheitsfüllen übler sei als die des Arbeiters, als völlig<lb/>
berechtigt anerkannt werden muß. Sollte es daher nicht recht und billig sein,<lb/>
die Wohlthaten der Krankenversicherung nun auch auf diese auszudehnen?<lb/>
Die &#x201E;Fortschrittler," die den Grundsatz verfechten, daß in unserm sozialen und<lb/>
wirtschaftlichen Leben alles &#x201E;hübsch beim alten" bleiben solle, werden ein¬<lb/>
wenden, daß das Kleinbürgertum bisher ohne die gesetzliche Krankenversicherung<lb/>
ausgekommen sei, die staatliche Fürsorge also überflüssig sei. Gewiß haben sich<lb/>
diese Leute bisher durchgeschlagen, aber es ging, wie es eben ging, kein Mensch<lb/>
hat sich darum gekümmert, ob alljährlich Hunderttausende von kleinen Familien<lb/>
durch die Kosten für den Arzt und Apotheke schwer getroffen, ja zum Teil<lb/>
ruinirt worden sind. Dann könnte man auch die Krankenversicherung der Arbeiter<lb/>
als überflüssig hinstellen, denn auch die Millionen von Arbeitern haben sich<lb/>
früher ohne Kranken-, Unfall- oder Jnvaliditätsversicherung durchwürgeu<lb/>
müssen. Man wird ferner einwenden können, es stehe ja diesen kleinbürger¬<lb/>
lichen Familien frei, durch private Krankenversicherung sich selbst vor solcher<lb/>
Not zu schützen. Das ist aber leichter gesagt als gethan. Der Leichtsinn<lb/>
der Massen ist sehr groß. Die meisten Menschen denken in gesunden Tagen<lb/>
nur wenig an die Zukunft, ihre Lage kommt ihnen erst dann zum Bewußtsein,<lb/>
wenn sie mitten in der Not stecken und sie am eignen Leibe spüren. Diesem<lb/>
Übel kann man nur auf dem Wege der Gesetzgebung beikommen, und mit<lb/>
schönen Schlagwörtern wie Freiheit und Zwang oder Individualismus und<lb/>
Kommunismus wird hier uicht das Geringste gebessert.  Freiheit wollen alle</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0498] Die Erweiterung der Krankenversicherung Frauen und Kinder eine so dringende Forderung, daß sie als der erste und wichtigste Gegenstand der sozialen Gesetzgebung auf die Tagesordnung gesetzt werden sollte. Das Flickwerk der „fakultativen" Familienunterstützung genügt nicht, hier muß ganze Arbeit gemacht werden, und ohne den wohlthätigen Zwang der Gesetzgebung ist niemals eine gründliche Abhilfe zu erwarten. Mit der Beteiligung der Familienangehörigen an der Krankenversicherung würde gewissermaßer das zweite Stockwerk an dem großen Bau unsrer sozialen Gesetzgebung aufgeführt werden. Aber damit wäre das ganze Werk immer noch nicht vollendet. Aus der Steuerstatistik sehen wir, daß etwa dreiviertel aller Erwerbenden (die mit ihren Angehörigen etwa 36 bis 38 Millionen Köpfe ausmachen werden!) nur ein Einkommen bis zu 900 oder 1000 Mark haben. Während es nun die Gesetz¬ geber sür nötig gehalten haben, alle Arbeiter mit einem Einkommen bis zu 2000 Mark als „wirtschaftlich schwache Existenzen" in die Krankenversicherung aufzunehmen, ist für die übrigen Millionen von Kleinbürgern, die sich eben- salls in der Mehrzahl mit dem äußerst kärglichen Einkommen bis zu 900 Mark jährlich durchzuschlagen haben, von der Gesetzgebung bisher nicht das Geringste gethan worden. Und doch ist die Hilfsbcdürftigkeit hier durchweg ebenso groß wie bei den Arbeitern, sodaß die oft zu hörende Klage dieser kleinen Leute, daß ihre Lage bei Krankheitsfüllen übler sei als die des Arbeiters, als völlig berechtigt anerkannt werden muß. Sollte es daher nicht recht und billig sein, die Wohlthaten der Krankenversicherung nun auch auf diese auszudehnen? Die „Fortschrittler," die den Grundsatz verfechten, daß in unserm sozialen und wirtschaftlichen Leben alles „hübsch beim alten" bleiben solle, werden ein¬ wenden, daß das Kleinbürgertum bisher ohne die gesetzliche Krankenversicherung ausgekommen sei, die staatliche Fürsorge also überflüssig sei. Gewiß haben sich diese Leute bisher durchgeschlagen, aber es ging, wie es eben ging, kein Mensch hat sich darum gekümmert, ob alljährlich Hunderttausende von kleinen Familien durch die Kosten für den Arzt und Apotheke schwer getroffen, ja zum Teil ruinirt worden sind. Dann könnte man auch die Krankenversicherung der Arbeiter als überflüssig hinstellen, denn auch die Millionen von Arbeitern haben sich früher ohne Kranken-, Unfall- oder Jnvaliditätsversicherung durchwürgeu müssen. Man wird ferner einwenden können, es stehe ja diesen kleinbürger¬ lichen Familien frei, durch private Krankenversicherung sich selbst vor solcher Not zu schützen. Das ist aber leichter gesagt als gethan. Der Leichtsinn der Massen ist sehr groß. Die meisten Menschen denken in gesunden Tagen nur wenig an die Zukunft, ihre Lage kommt ihnen erst dann zum Bewußtsein, wenn sie mitten in der Not stecken und sie am eignen Leibe spüren. Diesem Übel kann man nur auf dem Wege der Gesetzgebung beikommen, und mit schönen Schlagwörtern wie Freiheit und Zwang oder Individualismus und Kommunismus wird hier uicht das Geringste gebessert. Freiheit wollen alle

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/498
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/498>, abgerufen am 01.09.2024.