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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Erweiterung der Krankenversicherung

und es wird selbst von der Neichsregierung dadurch zugestanden, daß sie be¬
strebt gewesen ist, den Versicherungszwang auf immer weitere Berufszweige
auszudehnen. Leider ist nur diese Erweiterung gegenüber der großen und
offenkundiger Not so vieler Hilfsbedürftigen bisher in viel zu geringfügigen
Maße und in viel zu langsamem Tempo von statten gegangen. Ans der
Steuerstatistik wissen wir, daß in Preußen 70 Prozent aller Erwerbenden ein
Einkommen von weniger als 900 Mark haben, von denen sich wieder
50 Prozent mit etwa 500 Mark und darunter jährlich durchzuschlagen haben.
Im Königreich Sachsen hatten im Jahre 1890 90 Prozent ein Einkommen
bis zu 1600 Mark, und von diesen betrug wieder bei 67 Prozent das Ein¬
kommen unter 800 Mark. Nun überlege man, daß das kärgliche Einkommen
aller dieser Leute, die etwa drei Viertel der gesamten Bevölkerung Deutsch¬
lands ausmachen, sür Nahrung, Wohnung, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche,
Licht, Feuerung, Kindererziehung usw. ausreichen soll, und das nicht selten
noch bei einer großen Kinderschar! Flügge hat die niedrigsten Kosten sür die
Nahrung eines Erwachsenen täglich auf 60 Pfennige berechnet. Ist es aber
nicht nach den angeführten Zahlen ganz zweifellos, daß Millionen von Familien
nicht einmal dieses niedrigste Maß erreichen, also wegen ungenügender Er¬
nährung thatsächlich hungern und verkümmern müssen?

Jedenfalls steht sest, daß unser Volk von der ganzen sozialen Gesetzgebung
nichts so sehr als unmittelbare Wohlthat empfindet, wie das Krankenver¬
sicherungsgesetz. Das ist auch leicht zu verstehen. Während für die Alters¬
versicherung Jahrzehnte hindurch Beiträge geleistet werden müssen, ohne daß
die Zahlenden wissen, ob sie jemals in die Lage kommen werden, die Wohl¬
thaten dieses Gesetzes zu genießen, liegt die Sache bei der Krankenversicherung
ganz anders. Krankheiten und Unfälle kommen alle Tage vor, der Nutzen
liegt also sür jedermann auf der Hand und wird vom Volke täglich gesehen
und gefühlt. Daher überall der lebhafte Wunsch, den Segen dieses humanen
Gesetzes immer weitern Kreisen zugänglich zu macheu. Es ist bekannt, daß
gegenwärtig etwa acht Millionen Deutsche der "obligatorischen" Krankenver¬
sicherung unterliegen. Aber die Familienangehörigen der verheirateten Arbeiter
sind immer noch nicht in die Versicherung hineingezogen, und das ist ein
schwerer Übelstand, der so bald als möglich beseitigt werden sollte. Die Not
des Arbeiters ist bei Krankheitsfällen seiner Angehörigen genau dieselbe wie
bei seiner eignen Erkrankung. Sehr richtig schrieb vor einiger Zeit die Leipziger
Zeitung: "Die Beschaffung billiger ärztlicher Hilfe ist für die Angehörigen
dringend notwendig, weil diese ebenso wenig einen Arzt bezahlen können, wie
die arbeitenden Familienmitglieder. Solch ein Arbeiter, der kaum so viel
verdient, daß er seine zahlreichen Kinder ernähren kann, hat keinen Pfennig
übrig, noch einen Arzt für sie zu bezahlen." Der jetzige Zustand der
Krankenversicherung ist also eine Halbheit, und ihre Ausdehnung auf die


Grenzboten III 1896 ,;J
Die Erweiterung der Krankenversicherung

und es wird selbst von der Neichsregierung dadurch zugestanden, daß sie be¬
strebt gewesen ist, den Versicherungszwang auf immer weitere Berufszweige
auszudehnen. Leider ist nur diese Erweiterung gegenüber der großen und
offenkundiger Not so vieler Hilfsbedürftigen bisher in viel zu geringfügigen
Maße und in viel zu langsamem Tempo von statten gegangen. Ans der
Steuerstatistik wissen wir, daß in Preußen 70 Prozent aller Erwerbenden ein
Einkommen von weniger als 900 Mark haben, von denen sich wieder
50 Prozent mit etwa 500 Mark und darunter jährlich durchzuschlagen haben.
Im Königreich Sachsen hatten im Jahre 1890 90 Prozent ein Einkommen
bis zu 1600 Mark, und von diesen betrug wieder bei 67 Prozent das Ein¬
kommen unter 800 Mark. Nun überlege man, daß das kärgliche Einkommen
aller dieser Leute, die etwa drei Viertel der gesamten Bevölkerung Deutsch¬
lands ausmachen, sür Nahrung, Wohnung, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche,
Licht, Feuerung, Kindererziehung usw. ausreichen soll, und das nicht selten
noch bei einer großen Kinderschar! Flügge hat die niedrigsten Kosten sür die
Nahrung eines Erwachsenen täglich auf 60 Pfennige berechnet. Ist es aber
nicht nach den angeführten Zahlen ganz zweifellos, daß Millionen von Familien
nicht einmal dieses niedrigste Maß erreichen, also wegen ungenügender Er¬
nährung thatsächlich hungern und verkümmern müssen?

Jedenfalls steht sest, daß unser Volk von der ganzen sozialen Gesetzgebung
nichts so sehr als unmittelbare Wohlthat empfindet, wie das Krankenver¬
sicherungsgesetz. Das ist auch leicht zu verstehen. Während für die Alters¬
versicherung Jahrzehnte hindurch Beiträge geleistet werden müssen, ohne daß
die Zahlenden wissen, ob sie jemals in die Lage kommen werden, die Wohl¬
thaten dieses Gesetzes zu genießen, liegt die Sache bei der Krankenversicherung
ganz anders. Krankheiten und Unfälle kommen alle Tage vor, der Nutzen
liegt also sür jedermann auf der Hand und wird vom Volke täglich gesehen
und gefühlt. Daher überall der lebhafte Wunsch, den Segen dieses humanen
Gesetzes immer weitern Kreisen zugänglich zu macheu. Es ist bekannt, daß
gegenwärtig etwa acht Millionen Deutsche der „obligatorischen" Krankenver¬
sicherung unterliegen. Aber die Familienangehörigen der verheirateten Arbeiter
sind immer noch nicht in die Versicherung hineingezogen, und das ist ein
schwerer Übelstand, der so bald als möglich beseitigt werden sollte. Die Not
des Arbeiters ist bei Krankheitsfällen seiner Angehörigen genau dieselbe wie
bei seiner eignen Erkrankung. Sehr richtig schrieb vor einiger Zeit die Leipziger
Zeitung: „Die Beschaffung billiger ärztlicher Hilfe ist für die Angehörigen
dringend notwendig, weil diese ebenso wenig einen Arzt bezahlen können, wie
die arbeitenden Familienmitglieder. Solch ein Arbeiter, der kaum so viel
verdient, daß er seine zahlreichen Kinder ernähren kann, hat keinen Pfennig
übrig, noch einen Arzt für sie zu bezahlen." Der jetzige Zustand der
Krankenversicherung ist also eine Halbheit, und ihre Ausdehnung auf die


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[0497] Die Erweiterung der Krankenversicherung und es wird selbst von der Neichsregierung dadurch zugestanden, daß sie be¬ strebt gewesen ist, den Versicherungszwang auf immer weitere Berufszweige auszudehnen. Leider ist nur diese Erweiterung gegenüber der großen und offenkundiger Not so vieler Hilfsbedürftigen bisher in viel zu geringfügigen Maße und in viel zu langsamem Tempo von statten gegangen. Ans der Steuerstatistik wissen wir, daß in Preußen 70 Prozent aller Erwerbenden ein Einkommen von weniger als 900 Mark haben, von denen sich wieder 50 Prozent mit etwa 500 Mark und darunter jährlich durchzuschlagen haben. Im Königreich Sachsen hatten im Jahre 1890 90 Prozent ein Einkommen bis zu 1600 Mark, und von diesen betrug wieder bei 67 Prozent das Ein¬ kommen unter 800 Mark. Nun überlege man, daß das kärgliche Einkommen aller dieser Leute, die etwa drei Viertel der gesamten Bevölkerung Deutsch¬ lands ausmachen, sür Nahrung, Wohnung, Kleidung, Schuhwerk, Wäsche, Licht, Feuerung, Kindererziehung usw. ausreichen soll, und das nicht selten noch bei einer großen Kinderschar! Flügge hat die niedrigsten Kosten sür die Nahrung eines Erwachsenen täglich auf 60 Pfennige berechnet. Ist es aber nicht nach den angeführten Zahlen ganz zweifellos, daß Millionen von Familien nicht einmal dieses niedrigste Maß erreichen, also wegen ungenügender Er¬ nährung thatsächlich hungern und verkümmern müssen? Jedenfalls steht sest, daß unser Volk von der ganzen sozialen Gesetzgebung nichts so sehr als unmittelbare Wohlthat empfindet, wie das Krankenver¬ sicherungsgesetz. Das ist auch leicht zu verstehen. Während für die Alters¬ versicherung Jahrzehnte hindurch Beiträge geleistet werden müssen, ohne daß die Zahlenden wissen, ob sie jemals in die Lage kommen werden, die Wohl¬ thaten dieses Gesetzes zu genießen, liegt die Sache bei der Krankenversicherung ganz anders. Krankheiten und Unfälle kommen alle Tage vor, der Nutzen liegt also sür jedermann auf der Hand und wird vom Volke täglich gesehen und gefühlt. Daher überall der lebhafte Wunsch, den Segen dieses humanen Gesetzes immer weitern Kreisen zugänglich zu macheu. Es ist bekannt, daß gegenwärtig etwa acht Millionen Deutsche der „obligatorischen" Krankenver¬ sicherung unterliegen. Aber die Familienangehörigen der verheirateten Arbeiter sind immer noch nicht in die Versicherung hineingezogen, und das ist ein schwerer Übelstand, der so bald als möglich beseitigt werden sollte. Die Not des Arbeiters ist bei Krankheitsfällen seiner Angehörigen genau dieselbe wie bei seiner eignen Erkrankung. Sehr richtig schrieb vor einiger Zeit die Leipziger Zeitung: „Die Beschaffung billiger ärztlicher Hilfe ist für die Angehörigen dringend notwendig, weil diese ebenso wenig einen Arzt bezahlen können, wie die arbeitenden Familienmitglieder. Solch ein Arbeiter, der kaum so viel verdient, daß er seine zahlreichen Kinder ernähren kann, hat keinen Pfennig übrig, noch einen Arzt für sie zu bezahlen." Der jetzige Zustand der Krankenversicherung ist also eine Halbheit, und ihre Ausdehnung auf die Grenzboten III 1896 ,;J

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/497>, abgerufen am 01.09.2024.