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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Erweiterung der Krankenversicherung
Ld. Trilling von

iisre Zeit ist ernst, und die allgemeine Unzufriedenheit mit den
gegenwärtigen Verhältnissen greift von Jahr zu Jahr um sich.
Es kommt uns immer mehr zum Bewußtsein, daß diese Gährung
als Anzeichen einer schweren Erkrankung zu gelten hat, von der
unser ganzer Volkskörper ergriffen ist. Es drängt sich aber auch
immer mehr die Erkenntnis ans, daß hier nnr eine gründliche Kur Hilfe
bringen kann, daß nur durchgreifende sozialreformatvrische Maßregeln imstande
sein werden, die drohende Gefahr einer Revolution zu beschwören. Leider wird
diese Gefahr noch immer nicht so gewürdigt, wie sie es verdient.

In der Kette der notwendigen Reformen bildet aber die Verstaatlichung
des Heilwcsens, oder was im ganzen dasselbe sagen will, die Unentgeltlichkeit
der ärztlichen Hilfe für alle wirtschaftlich Schwachen ein so wichtiges Glied,
daß sie als eine dringende Forderung unsrer Zeit hingestellt und mit allen
Kräften angestrebt werden muß. Ja wenn wir uus die einzelnen Reformpläne,
die zur Linderung und Verhütung der Not unsers Volkes empfohlen werden,
näher ansehen, so müssen wir uns sagen, daß der weitere Ausbau der sozial¬
politischen Schutzgesetzgebung vielleicht die erste Stelle beanspruchen darf. Und
wie man seinerzeit das soziale Reformwerk ganz richtig mit der Kranken¬
versicherung begonnen hat, so wird man auch bei der Weiterführung der
Neformpolitik zunächst an diesem Punkte den Hebel zur Besserung der all¬
gemeinen Notlage ansetzen müssen. Nun wird ja heutzutage schon viel von
der "gewaltigen" Ausdehnung der Krankenversicherung gesprochen, und es soll
auch nicht bestritten werden, daß der heutige Zustand einen großen Fortschritt
bedeutet gegen früher, wo man die Millionen der jetzt versicherten Arbeiter
bei Krankheit und Erwerbsunfähigkeit der "Selbsthilfe," d. h. ihrem wirt¬
schaftlichen Elend und Ruin überließ. Aber wir haben damit noch lange nicht
das Ziel erreicht. Wenn wir mit Hilfe der Statistik die Verhältnisse näher
prüfen, werden wir sogar bekennen müssen, daß unsre ganze Krankenversicherung
zur Zeit noch immer ein mangelhaftes Stückmerk ist. Darüber sind auch alle
litiker -- soviel ich ans ihren Schriften habe sehen können -- einig,




Die Erweiterung der Krankenversicherung
Ld. Trilling von

iisre Zeit ist ernst, und die allgemeine Unzufriedenheit mit den
gegenwärtigen Verhältnissen greift von Jahr zu Jahr um sich.
Es kommt uns immer mehr zum Bewußtsein, daß diese Gährung
als Anzeichen einer schweren Erkrankung zu gelten hat, von der
unser ganzer Volkskörper ergriffen ist. Es drängt sich aber auch
immer mehr die Erkenntnis ans, daß hier nnr eine gründliche Kur Hilfe
bringen kann, daß nur durchgreifende sozialreformatvrische Maßregeln imstande
sein werden, die drohende Gefahr einer Revolution zu beschwören. Leider wird
diese Gefahr noch immer nicht so gewürdigt, wie sie es verdient.

In der Kette der notwendigen Reformen bildet aber die Verstaatlichung
des Heilwcsens, oder was im ganzen dasselbe sagen will, die Unentgeltlichkeit
der ärztlichen Hilfe für alle wirtschaftlich Schwachen ein so wichtiges Glied,
daß sie als eine dringende Forderung unsrer Zeit hingestellt und mit allen
Kräften angestrebt werden muß. Ja wenn wir uus die einzelnen Reformpläne,
die zur Linderung und Verhütung der Not unsers Volkes empfohlen werden,
näher ansehen, so müssen wir uns sagen, daß der weitere Ausbau der sozial¬
politischen Schutzgesetzgebung vielleicht die erste Stelle beanspruchen darf. Und
wie man seinerzeit das soziale Reformwerk ganz richtig mit der Kranken¬
versicherung begonnen hat, so wird man auch bei der Weiterführung der
Neformpolitik zunächst an diesem Punkte den Hebel zur Besserung der all¬
gemeinen Notlage ansetzen müssen. Nun wird ja heutzutage schon viel von
der „gewaltigen" Ausdehnung der Krankenversicherung gesprochen, und es soll
auch nicht bestritten werden, daß der heutige Zustand einen großen Fortschritt
bedeutet gegen früher, wo man die Millionen der jetzt versicherten Arbeiter
bei Krankheit und Erwerbsunfähigkeit der „Selbsthilfe," d. h. ihrem wirt¬
schaftlichen Elend und Ruin überließ. Aber wir haben damit noch lange nicht
das Ziel erreicht. Wenn wir mit Hilfe der Statistik die Verhältnisse näher
prüfen, werden wir sogar bekennen müssen, daß unsre ganze Krankenversicherung
zur Zeit noch immer ein mangelhaftes Stückmerk ist. Darüber sind auch alle
litiker — soviel ich ans ihren Schriften habe sehen können — einig,


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[0496] [Abbildung] Die Erweiterung der Krankenversicherung Ld. Trilling von iisre Zeit ist ernst, und die allgemeine Unzufriedenheit mit den gegenwärtigen Verhältnissen greift von Jahr zu Jahr um sich. Es kommt uns immer mehr zum Bewußtsein, daß diese Gährung als Anzeichen einer schweren Erkrankung zu gelten hat, von der unser ganzer Volkskörper ergriffen ist. Es drängt sich aber auch immer mehr die Erkenntnis ans, daß hier nnr eine gründliche Kur Hilfe bringen kann, daß nur durchgreifende sozialreformatvrische Maßregeln imstande sein werden, die drohende Gefahr einer Revolution zu beschwören. Leider wird diese Gefahr noch immer nicht so gewürdigt, wie sie es verdient. In der Kette der notwendigen Reformen bildet aber die Verstaatlichung des Heilwcsens, oder was im ganzen dasselbe sagen will, die Unentgeltlichkeit der ärztlichen Hilfe für alle wirtschaftlich Schwachen ein so wichtiges Glied, daß sie als eine dringende Forderung unsrer Zeit hingestellt und mit allen Kräften angestrebt werden muß. Ja wenn wir uus die einzelnen Reformpläne, die zur Linderung und Verhütung der Not unsers Volkes empfohlen werden, näher ansehen, so müssen wir uns sagen, daß der weitere Ausbau der sozial¬ politischen Schutzgesetzgebung vielleicht die erste Stelle beanspruchen darf. Und wie man seinerzeit das soziale Reformwerk ganz richtig mit der Kranken¬ versicherung begonnen hat, so wird man auch bei der Weiterführung der Neformpolitik zunächst an diesem Punkte den Hebel zur Besserung der all¬ gemeinen Notlage ansetzen müssen. Nun wird ja heutzutage schon viel von der „gewaltigen" Ausdehnung der Krankenversicherung gesprochen, und es soll auch nicht bestritten werden, daß der heutige Zustand einen großen Fortschritt bedeutet gegen früher, wo man die Millionen der jetzt versicherten Arbeiter bei Krankheit und Erwerbsunfähigkeit der „Selbsthilfe," d. h. ihrem wirt¬ schaftlichen Elend und Ruin überließ. Aber wir haben damit noch lange nicht das Ziel erreicht. Wenn wir mit Hilfe der Statistik die Verhältnisse näher prüfen, werden wir sogar bekennen müssen, daß unsre ganze Krankenversicherung zur Zeit noch immer ein mangelhaftes Stückmerk ist. Darüber sind auch alle litiker — soviel ich ans ihren Schriften habe sehen können — einig,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/496>, abgerufen am 29.11.2024.