Menschenalter von 1860 bis 1890 den sinkenden Liberalismus (Kapitalismus) im Bunde mit der litterarischen Decadence, so wird für das, in dem wir leben, der Sozialismus wohl als die herrschende Macht anzusehen sein, und ihm dürfte auf dem Gebiete der Litteratur ein sich mehr und mehr veredelnder Naturalismus entsprechen. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß die Decadence in Deutschland jetzt in der Hauptsache überwunden ist, und zwar durch das mehr und mehr angewachsene Sozialgefühl, das heute eine Macht ist, mit der jeder im Reiche zu rechnen hat. Mögen die völlige Gesundung und die not¬ wendige Umformung der Gesellschaft nun auch noch so langsam vor sich gehen, ausbleiben können sie nicht; denn die klaren Köpfe und die besten Herzen sind dafür, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Die Litteratur aber hat die Verbindung mit dem Leben wiedergewonnen, und sie wird ihr nicht wieder verloren gehen, wenn man auch immer noch versucht, jeden erfolgreichen Poeten zum Dalai-Lama aufzuschwindeln, und manches schöne Talent durch gro߬ städtische Sensation zu Grunde richtet. Mehr als jede frühere Zeit fordert die unsrige, daß der Künstler vor allem ein Manu sei -- man fängt auch allmählich an, das zu begreifen. Und so darf man der Zukunft jetzt ohne allzugroße Hoffnungen, aber doch mit einem bestimmten Vertrauen entgegen sehen: der neue Goethe steht schwerlich vor der Thür, aber der alte lebt noch, und es sind ihm Dichter nachgefolgt und werden ihm auch künftig Dichter nachfolgen, die ihm, wenn sie sich vor ihm gebeugt haben, frei ins Auge zu blicken wagen dürfen.
Betrachtungen eines Hchulvater-
^ MM°> PKn den Zeitungen wurde neulich ein Erkenntnis des preußischen Obcr- verwaltungsgerichts, betreffend das Züchtigungsrecht der Lehrer, mit¬ geteilt. Hierin wurde den Lehrern sehr weitgehende Befugnisse ein¬ geräumt. Die Lehrer, so hieß es dort, seien berechtigt, schmerzhafte Züchtigungen an den Kindern vorzunehmen. Und da jede empfind¬ liche körperliche Züchtigung Blutunterlcmfungen, blaue Flecken und Striemen zurückzulassen pflege, so könne das Hervortreten solcher Wirkungen der Züchtigung nicht dazu berechtigen, den Lehrer zur Verantwortung zu ziehen. Nur wenn Gesundheit und Leben des Schülers "nachweislich" gefährdet seien, könne die Schulzucht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens werden.
Dies Erkenntnis ist in der Presse mehrfach sehr abfällig beurteilt worden, und es ist bestritten worden, daß wirklich in der Praxis von den Gerichten nach solchen Grundsätzen verfahren werde. Die Mitteilung wird aber anch manchen
Betrachtungen eines Schulvaters
Menschenalter von 1860 bis 1890 den sinkenden Liberalismus (Kapitalismus) im Bunde mit der litterarischen Decadence, so wird für das, in dem wir leben, der Sozialismus wohl als die herrschende Macht anzusehen sein, und ihm dürfte auf dem Gebiete der Litteratur ein sich mehr und mehr veredelnder Naturalismus entsprechen. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß die Decadence in Deutschland jetzt in der Hauptsache überwunden ist, und zwar durch das mehr und mehr angewachsene Sozialgefühl, das heute eine Macht ist, mit der jeder im Reiche zu rechnen hat. Mögen die völlige Gesundung und die not¬ wendige Umformung der Gesellschaft nun auch noch so langsam vor sich gehen, ausbleiben können sie nicht; denn die klaren Köpfe und die besten Herzen sind dafür, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Die Litteratur aber hat die Verbindung mit dem Leben wiedergewonnen, und sie wird ihr nicht wieder verloren gehen, wenn man auch immer noch versucht, jeden erfolgreichen Poeten zum Dalai-Lama aufzuschwindeln, und manches schöne Talent durch gro߬ städtische Sensation zu Grunde richtet. Mehr als jede frühere Zeit fordert die unsrige, daß der Künstler vor allem ein Manu sei — man fängt auch allmählich an, das zu begreifen. Und so darf man der Zukunft jetzt ohne allzugroße Hoffnungen, aber doch mit einem bestimmten Vertrauen entgegen sehen: der neue Goethe steht schwerlich vor der Thür, aber der alte lebt noch, und es sind ihm Dichter nachgefolgt und werden ihm auch künftig Dichter nachfolgen, die ihm, wenn sie sich vor ihm gebeugt haben, frei ins Auge zu blicken wagen dürfen.
Betrachtungen eines Hchulvater-
^ MM°> PKn den Zeitungen wurde neulich ein Erkenntnis des preußischen Obcr- verwaltungsgerichts, betreffend das Züchtigungsrecht der Lehrer, mit¬ geteilt. Hierin wurde den Lehrern sehr weitgehende Befugnisse ein¬ geräumt. Die Lehrer, so hieß es dort, seien berechtigt, schmerzhafte Züchtigungen an den Kindern vorzunehmen. Und da jede empfind¬ liche körperliche Züchtigung Blutunterlcmfungen, blaue Flecken und Striemen zurückzulassen pflege, so könne das Hervortreten solcher Wirkungen der Züchtigung nicht dazu berechtigen, den Lehrer zur Verantwortung zu ziehen. Nur wenn Gesundheit und Leben des Schülers „nachweislich" gefährdet seien, könne die Schulzucht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens werden.
Dies Erkenntnis ist in der Presse mehrfach sehr abfällig beurteilt worden, und es ist bestritten worden, daß wirklich in der Praxis von den Gerichten nach solchen Grundsätzen verfahren werde. Die Mitteilung wird aber anch manchen
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[0478]
Betrachtungen eines Schulvaters
Menschenalter von 1860 bis 1890 den sinkenden Liberalismus (Kapitalismus)
im Bunde mit der litterarischen Decadence, so wird für das, in dem wir leben,
der Sozialismus wohl als die herrschende Macht anzusehen sein, und ihm
dürfte auf dem Gebiete der Litteratur ein sich mehr und mehr veredelnder
Naturalismus entsprechen. Jedenfalls bin ich der Ansicht, daß die Decadence
in Deutschland jetzt in der Hauptsache überwunden ist, und zwar durch das
mehr und mehr angewachsene Sozialgefühl, das heute eine Macht ist, mit der
jeder im Reiche zu rechnen hat. Mögen die völlige Gesundung und die not¬
wendige Umformung der Gesellschaft nun auch noch so langsam vor sich gehen,
ausbleiben können sie nicht; denn die klaren Köpfe und die besten Herzen sind
dafür, und wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg. Die Litteratur aber hat
die Verbindung mit dem Leben wiedergewonnen, und sie wird ihr nicht wieder
verloren gehen, wenn man auch immer noch versucht, jeden erfolgreichen Poeten
zum Dalai-Lama aufzuschwindeln, und manches schöne Talent durch gro߬
städtische Sensation zu Grunde richtet. Mehr als jede frühere Zeit fordert
die unsrige, daß der Künstler vor allem ein Manu sei — man fängt auch
allmählich an, das zu begreifen. Und so darf man der Zukunft jetzt ohne
allzugroße Hoffnungen, aber doch mit einem bestimmten Vertrauen entgegen
sehen: der neue Goethe steht schwerlich vor der Thür, aber der alte lebt noch,
und es sind ihm Dichter nachgefolgt und werden ihm auch künftig Dichter
nachfolgen, die ihm, wenn sie sich vor ihm gebeugt haben, frei ins Auge zu
blicken wagen dürfen.
Betrachtungen eines Hchulvater-
^ MM°>
PKn den Zeitungen wurde neulich ein Erkenntnis des preußischen Obcr-
verwaltungsgerichts, betreffend das Züchtigungsrecht der Lehrer, mit¬
geteilt. Hierin wurde den Lehrern sehr weitgehende Befugnisse ein¬
geräumt. Die Lehrer, so hieß es dort, seien berechtigt, schmerzhafte
Züchtigungen an den Kindern vorzunehmen. Und da jede empfind¬
liche körperliche Züchtigung Blutunterlcmfungen, blaue Flecken und
Striemen zurückzulassen pflege, so könne das Hervortreten solcher Wirkungen der
Züchtigung nicht dazu berechtigen, den Lehrer zur Verantwortung zu ziehen. Nur
wenn Gesundheit und Leben des Schülers „nachweislich" gefährdet seien, könne
die Schulzucht Gegenstand eines gerichtlichen Verfahrens werden.
Dies Erkenntnis ist in der Presse mehrfach sehr abfällig beurteilt worden,
und es ist bestritten worden, daß wirklich in der Praxis von den Gerichten nach
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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/478>, abgerufen am 23.02.2025.
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