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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

gewesen. Es fehlt auch nicht an großen Hoffnungen und Fragen, die den
Einzelnen beglücken und ihm die schöne Sicherheit des Glücks gewähren:
Worin kann denn jene Überwindung des Naturalismus, von der die ganze
Welt, Dichter und Schauspieler fabeln, eigentlich bestehen? In der Rückkehr
zu den Träumereien der Symbolisten, zu den künstlich hoch gesteigerten Be-
dürfnissen überfeiner Menschen, die nur uoch im Reiche der Schönheit, wie
es die Vergangenheit enthielt, leben können, weil sie nicht stark genug sind,
den Anblick des vollen, ganzen Lebens zu ertragen? Nein, sondern in dem
freien, unpedantischen, selbstherrlichen Gebrauch der Kunstmittel des Naturalis¬
mus und der wirklichen Darstellung jener Menschenschicksale, die für die Ent¬
wicklung unsers Geschlechts Bedeutung haben und unser Dasein rechtfertigen.
Wir wollen den ungeheuern Kämpfen, die eine werdende Welt im Busen des
bedrängten Individuums entfesselt, mit freiem Herrenblick anwohnen! Wir
wollen die Fülle des Lebens, wie sie in dem Einzelnen lacht und Feste feiert,
mich in dem Kunstwerk genießen. Wir wollen weder Schönfärberei im Sinne
der alten Epigonen, noch Schwarzseherei nach der Art der Pessimisten: in der
Kunst feiert die Menschheit ihre ewigen Feste vor einem dunkeln Hintergrunde.
Wir wollen keine Vergröberung des Menschen, wie sie die Franzosen bieten,
indem sie jeden als mechanisches Produkt großer äußerer Massenwirkungen
hinstellen. Wir wollen keine ungeheuerliche Deutung der Natur, um des
romantischen Bedürfnisses verkappter Epigonen willen. Wir wollen keine
Psychologischen Haarspalter, die uns ein anatomisches Produkt als Kunstwerk
aufschwatzen --" kurz, wir wollen wirkliche Kunstwerke, wir wollen große
künstlerische Persönlichkeiten, meint Weigand. Aber wenn diese großen Per¬
sönlichkeiten nun ausbleiben? Da müssen wir uns eben doch an die Dichter
der Vergangenheit halten, die keine Epigonen, sondern noch zukunftskräftig
sind, und die Talente der Gegenwart müssen von ihrer Kunst lernen, müssen
versuchen, ihr Werk zu vollenden, nicht als Epigonen, aber als ernsthaft Mit¬
strebende. Wo steht denn geschrieben, daß jedes Jahrzehnt eine andre Dichtung
brauche? Wird nicht das ganze halbe Jahrhundert von 1350 bis 1900 wahr¬
scheinlich einst zu einer einzigen Periode gemacht werden, und sollte sich einer
der Nachlebenden wundern, wenn sich da an den fröhlichen Anfang das
fröhliche Ende anschlösse? Genies und große Talente kann ein Volk nicht zu
jeder Zeit haben, wohl aber kann es jedes Geschlecht ernst mit der Kunst
nehmen. Da sind Hebbel und Ludwig die rechten Lehrer, und ich glaube
doch noch, daß das deutsche Dichtergeschlecht im Aufsteigen begriffen ist, das
Ueber ein grünes Lorbeerblatt will als die Dutzende vou Kränzen aus Zeitungs¬
papier, die das Zeitalter der Demdence so verschwenderisch verteilte.

Nehmen wir für das Menschenalter von 1830 bis 1860 den aufstrebenden
Liberalismus und mit ihm im Bunde den Realismus, der in den fünfziger
Jahren gipfelt, als die Zeit und Litteratur beherrschenden Mächte an, für das


Die Alten und die Jungen

gewesen. Es fehlt auch nicht an großen Hoffnungen und Fragen, die den
Einzelnen beglücken und ihm die schöne Sicherheit des Glücks gewähren:
Worin kann denn jene Überwindung des Naturalismus, von der die ganze
Welt, Dichter und Schauspieler fabeln, eigentlich bestehen? In der Rückkehr
zu den Träumereien der Symbolisten, zu den künstlich hoch gesteigerten Be-
dürfnissen überfeiner Menschen, die nur uoch im Reiche der Schönheit, wie
es die Vergangenheit enthielt, leben können, weil sie nicht stark genug sind,
den Anblick des vollen, ganzen Lebens zu ertragen? Nein, sondern in dem
freien, unpedantischen, selbstherrlichen Gebrauch der Kunstmittel des Naturalis¬
mus und der wirklichen Darstellung jener Menschenschicksale, die für die Ent¬
wicklung unsers Geschlechts Bedeutung haben und unser Dasein rechtfertigen.
Wir wollen den ungeheuern Kämpfen, die eine werdende Welt im Busen des
bedrängten Individuums entfesselt, mit freiem Herrenblick anwohnen! Wir
wollen die Fülle des Lebens, wie sie in dem Einzelnen lacht und Feste feiert,
mich in dem Kunstwerk genießen. Wir wollen weder Schönfärberei im Sinne
der alten Epigonen, noch Schwarzseherei nach der Art der Pessimisten: in der
Kunst feiert die Menschheit ihre ewigen Feste vor einem dunkeln Hintergrunde.
Wir wollen keine Vergröberung des Menschen, wie sie die Franzosen bieten,
indem sie jeden als mechanisches Produkt großer äußerer Massenwirkungen
hinstellen. Wir wollen keine ungeheuerliche Deutung der Natur, um des
romantischen Bedürfnisses verkappter Epigonen willen. Wir wollen keine
Psychologischen Haarspalter, die uns ein anatomisches Produkt als Kunstwerk
aufschwatzen —" kurz, wir wollen wirkliche Kunstwerke, wir wollen große
künstlerische Persönlichkeiten, meint Weigand. Aber wenn diese großen Per¬
sönlichkeiten nun ausbleiben? Da müssen wir uns eben doch an die Dichter
der Vergangenheit halten, die keine Epigonen, sondern noch zukunftskräftig
sind, und die Talente der Gegenwart müssen von ihrer Kunst lernen, müssen
versuchen, ihr Werk zu vollenden, nicht als Epigonen, aber als ernsthaft Mit¬
strebende. Wo steht denn geschrieben, daß jedes Jahrzehnt eine andre Dichtung
brauche? Wird nicht das ganze halbe Jahrhundert von 1350 bis 1900 wahr¬
scheinlich einst zu einer einzigen Periode gemacht werden, und sollte sich einer
der Nachlebenden wundern, wenn sich da an den fröhlichen Anfang das
fröhliche Ende anschlösse? Genies und große Talente kann ein Volk nicht zu
jeder Zeit haben, wohl aber kann es jedes Geschlecht ernst mit der Kunst
nehmen. Da sind Hebbel und Ludwig die rechten Lehrer, und ich glaube
doch noch, daß das deutsche Dichtergeschlecht im Aufsteigen begriffen ist, das
Ueber ein grünes Lorbeerblatt will als die Dutzende vou Kränzen aus Zeitungs¬
papier, die das Zeitalter der Demdence so verschwenderisch verteilte.

Nehmen wir für das Menschenalter von 1830 bis 1860 den aufstrebenden
Liberalismus und mit ihm im Bunde den Realismus, der in den fünfziger
Jahren gipfelt, als die Zeit und Litteratur beherrschenden Mächte an, für das


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[0477] Die Alten und die Jungen gewesen. Es fehlt auch nicht an großen Hoffnungen und Fragen, die den Einzelnen beglücken und ihm die schöne Sicherheit des Glücks gewähren: Worin kann denn jene Überwindung des Naturalismus, von der die ganze Welt, Dichter und Schauspieler fabeln, eigentlich bestehen? In der Rückkehr zu den Träumereien der Symbolisten, zu den künstlich hoch gesteigerten Be- dürfnissen überfeiner Menschen, die nur uoch im Reiche der Schönheit, wie es die Vergangenheit enthielt, leben können, weil sie nicht stark genug sind, den Anblick des vollen, ganzen Lebens zu ertragen? Nein, sondern in dem freien, unpedantischen, selbstherrlichen Gebrauch der Kunstmittel des Naturalis¬ mus und der wirklichen Darstellung jener Menschenschicksale, die für die Ent¬ wicklung unsers Geschlechts Bedeutung haben und unser Dasein rechtfertigen. Wir wollen den ungeheuern Kämpfen, die eine werdende Welt im Busen des bedrängten Individuums entfesselt, mit freiem Herrenblick anwohnen! Wir wollen die Fülle des Lebens, wie sie in dem Einzelnen lacht und Feste feiert, mich in dem Kunstwerk genießen. Wir wollen weder Schönfärberei im Sinne der alten Epigonen, noch Schwarzseherei nach der Art der Pessimisten: in der Kunst feiert die Menschheit ihre ewigen Feste vor einem dunkeln Hintergrunde. Wir wollen keine Vergröberung des Menschen, wie sie die Franzosen bieten, indem sie jeden als mechanisches Produkt großer äußerer Massenwirkungen hinstellen. Wir wollen keine ungeheuerliche Deutung der Natur, um des romantischen Bedürfnisses verkappter Epigonen willen. Wir wollen keine Psychologischen Haarspalter, die uns ein anatomisches Produkt als Kunstwerk aufschwatzen —" kurz, wir wollen wirkliche Kunstwerke, wir wollen große künstlerische Persönlichkeiten, meint Weigand. Aber wenn diese großen Per¬ sönlichkeiten nun ausbleiben? Da müssen wir uns eben doch an die Dichter der Vergangenheit halten, die keine Epigonen, sondern noch zukunftskräftig sind, und die Talente der Gegenwart müssen von ihrer Kunst lernen, müssen versuchen, ihr Werk zu vollenden, nicht als Epigonen, aber als ernsthaft Mit¬ strebende. Wo steht denn geschrieben, daß jedes Jahrzehnt eine andre Dichtung brauche? Wird nicht das ganze halbe Jahrhundert von 1350 bis 1900 wahr¬ scheinlich einst zu einer einzigen Periode gemacht werden, und sollte sich einer der Nachlebenden wundern, wenn sich da an den fröhlichen Anfang das fröhliche Ende anschlösse? Genies und große Talente kann ein Volk nicht zu jeder Zeit haben, wohl aber kann es jedes Geschlecht ernst mit der Kunst nehmen. Da sind Hebbel und Ludwig die rechten Lehrer, und ich glaube doch noch, daß das deutsche Dichtergeschlecht im Aufsteigen begriffen ist, das Ueber ein grünes Lorbeerblatt will als die Dutzende vou Kränzen aus Zeitungs¬ papier, die das Zeitalter der Demdence so verschwenderisch verteilte. Nehmen wir für das Menschenalter von 1830 bis 1860 den aufstrebenden Liberalismus und mit ihm im Bunde den Realismus, der in den fünfziger Jahren gipfelt, als die Zeit und Litteratur beherrschenden Mächte an, für das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/477>, abgerufen am 01.09.2024.