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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

Wilhelm Raabe, den letzten der noch schaffenden großen Sieben der fünfziger
Jahre, zu loben, und O. I. Bierbaum hat jüngst einen Roman veröffentlicht,
der stark von Rande abhängig erscheint. Freilich ist Naabes Stil nicht für
jedermann brauchbar, wenn man auch von ihm die dem Naturalismus leider
vielfach fehlende "Liebe" lernen kann. Die oben genannten jüngern Lyriker
stehen der alten Lyrik alle gar nicht so fern, wie denn für die Lyrik ästhetische
Schultheorien stets nur geringe Bedeutung haben werden; so ist z. B. Karl
Busse stark von Storm beeinflußt. Auch treten jetzt manche der durch den
Sturm und Drang zurückgedrängten Dichter wieder hervor; keiner der Jüngsten
hat z. B. den sozialen Gedanken, die "altruistische" Überwindung des per¬
sönlichen Schmerzes und damit auch des Pessimismus und der Decadence
überhaupt so energisch dargestellt wie Ferdinand Avenarius in seiner Dichtung
"Lebe!" Jedenfalls ist heute eine gewisse Stille der Überlegung, des Tcistens
eingetreten, man ist überall zur Vernunft gekommen, und wenn man bisher
noch nicht imstande ist, das Selbstgcleistete im Vergleich zu den Leistungen
der Vergangenheit richtig zu beurteilen, man verwirft diese doch nicht ohne
weiteres mehr, glaubt nicht mehr, g-b ovo anfangen, eine ganze neue Litteratur
aus dem Nichts hervorzaubern zu können oder gar schon hervorgezaubert zu
haben. Nun gilt es irgendwo festen Anschluß zu finden, und meine Über¬
zeugung ist, daß sich dazu Dichter der ersten fünfziger Jahre um besten eignen,
daß deren durch die Decadence unterbrochnes Werk wieder aufgenommen
werden muß. Sie waren nicht, wie man uns hat weis machen wollen,
Epigonen, sie haben Kraft und Größe, Wahrheit und Natur und dabei eine
reiche Kunst, alle ihre Bestrebungen deuten vorwärts, nicht zurück. Sicher,
das deutsche Volk wird nicht unzufrieden sein, wenn es geschichtliche Dramen
des großen realistischen Stils bekommt, wie sie Hebbel und Ludwig schufen,
bürgerliche Tragödien wie die "Maria Magdalena," statt der naturalistischen
Dramen, biographische Romane, wie Gottfried Kellners "Grüner Heinrich"
einer ist, Novellen von der Art der "Leute von Seldwyla" und der besten
Theodor Storms. Es wird, wie gesagt, niemand gezwungen sein, diese Dichter
nachzuahmen, seine eignen Errungenschaften aufzugeben, nur von ihrem Geiste
soll er sich befruchten lassen. Hat denn jeder deutsche Stamm seinen Jeremias
Gotthelf, seinen Otto Ludwig, seinen Klaus Groth, seinen Wilibald Alexis,
ja nur seinen Reuter oder Scheffel? Glaubt man wirklich, daß die neueste
Bewegung alle diese Leute zu den Toten geworfen habe? Sollte man es
glauben, dann wehe uns! Aber man glaubt es nicht, wenigstens die ver¬
nünftigen Leute glauben es nicht. So schreibt Wilhelm Weigand in seinein
"Elend der Kritik": "Das Bewußtsein, daß der Naturalismus trotz der
trefflichen Leistungen einzelner Dichter eine Gefahr für den durchaus indivi¬
dualistischen germanischen Geist bedeute, ist in dem spärlichen Publikum, das
an dem Geschick unsers Schrifttums wirklichen Anteil nimmt, immer rege


Die Alten und die Jungen

Wilhelm Raabe, den letzten der noch schaffenden großen Sieben der fünfziger
Jahre, zu loben, und O. I. Bierbaum hat jüngst einen Roman veröffentlicht,
der stark von Rande abhängig erscheint. Freilich ist Naabes Stil nicht für
jedermann brauchbar, wenn man auch von ihm die dem Naturalismus leider
vielfach fehlende „Liebe" lernen kann. Die oben genannten jüngern Lyriker
stehen der alten Lyrik alle gar nicht so fern, wie denn für die Lyrik ästhetische
Schultheorien stets nur geringe Bedeutung haben werden; so ist z. B. Karl
Busse stark von Storm beeinflußt. Auch treten jetzt manche der durch den
Sturm und Drang zurückgedrängten Dichter wieder hervor; keiner der Jüngsten
hat z. B. den sozialen Gedanken, die „altruistische" Überwindung des per¬
sönlichen Schmerzes und damit auch des Pessimismus und der Decadence
überhaupt so energisch dargestellt wie Ferdinand Avenarius in seiner Dichtung
„Lebe!" Jedenfalls ist heute eine gewisse Stille der Überlegung, des Tcistens
eingetreten, man ist überall zur Vernunft gekommen, und wenn man bisher
noch nicht imstande ist, das Selbstgcleistete im Vergleich zu den Leistungen
der Vergangenheit richtig zu beurteilen, man verwirft diese doch nicht ohne
weiteres mehr, glaubt nicht mehr, g-b ovo anfangen, eine ganze neue Litteratur
aus dem Nichts hervorzaubern zu können oder gar schon hervorgezaubert zu
haben. Nun gilt es irgendwo festen Anschluß zu finden, und meine Über¬
zeugung ist, daß sich dazu Dichter der ersten fünfziger Jahre um besten eignen,
daß deren durch die Decadence unterbrochnes Werk wieder aufgenommen
werden muß. Sie waren nicht, wie man uns hat weis machen wollen,
Epigonen, sie haben Kraft und Größe, Wahrheit und Natur und dabei eine
reiche Kunst, alle ihre Bestrebungen deuten vorwärts, nicht zurück. Sicher,
das deutsche Volk wird nicht unzufrieden sein, wenn es geschichtliche Dramen
des großen realistischen Stils bekommt, wie sie Hebbel und Ludwig schufen,
bürgerliche Tragödien wie die „Maria Magdalena," statt der naturalistischen
Dramen, biographische Romane, wie Gottfried Kellners „Grüner Heinrich"
einer ist, Novellen von der Art der „Leute von Seldwyla" und der besten
Theodor Storms. Es wird, wie gesagt, niemand gezwungen sein, diese Dichter
nachzuahmen, seine eignen Errungenschaften aufzugeben, nur von ihrem Geiste
soll er sich befruchten lassen. Hat denn jeder deutsche Stamm seinen Jeremias
Gotthelf, seinen Otto Ludwig, seinen Klaus Groth, seinen Wilibald Alexis,
ja nur seinen Reuter oder Scheffel? Glaubt man wirklich, daß die neueste
Bewegung alle diese Leute zu den Toten geworfen habe? Sollte man es
glauben, dann wehe uns! Aber man glaubt es nicht, wenigstens die ver¬
nünftigen Leute glauben es nicht. So schreibt Wilhelm Weigand in seinein
„Elend der Kritik": „Das Bewußtsein, daß der Naturalismus trotz der
trefflichen Leistungen einzelner Dichter eine Gefahr für den durchaus indivi¬
dualistischen germanischen Geist bedeute, ist in dem spärlichen Publikum, das
an dem Geschick unsers Schrifttums wirklichen Anteil nimmt, immer rege


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[0476] Die Alten und die Jungen Wilhelm Raabe, den letzten der noch schaffenden großen Sieben der fünfziger Jahre, zu loben, und O. I. Bierbaum hat jüngst einen Roman veröffentlicht, der stark von Rande abhängig erscheint. Freilich ist Naabes Stil nicht für jedermann brauchbar, wenn man auch von ihm die dem Naturalismus leider vielfach fehlende „Liebe" lernen kann. Die oben genannten jüngern Lyriker stehen der alten Lyrik alle gar nicht so fern, wie denn für die Lyrik ästhetische Schultheorien stets nur geringe Bedeutung haben werden; so ist z. B. Karl Busse stark von Storm beeinflußt. Auch treten jetzt manche der durch den Sturm und Drang zurückgedrängten Dichter wieder hervor; keiner der Jüngsten hat z. B. den sozialen Gedanken, die „altruistische" Überwindung des per¬ sönlichen Schmerzes und damit auch des Pessimismus und der Decadence überhaupt so energisch dargestellt wie Ferdinand Avenarius in seiner Dichtung „Lebe!" Jedenfalls ist heute eine gewisse Stille der Überlegung, des Tcistens eingetreten, man ist überall zur Vernunft gekommen, und wenn man bisher noch nicht imstande ist, das Selbstgcleistete im Vergleich zu den Leistungen der Vergangenheit richtig zu beurteilen, man verwirft diese doch nicht ohne weiteres mehr, glaubt nicht mehr, g-b ovo anfangen, eine ganze neue Litteratur aus dem Nichts hervorzaubern zu können oder gar schon hervorgezaubert zu haben. Nun gilt es irgendwo festen Anschluß zu finden, und meine Über¬ zeugung ist, daß sich dazu Dichter der ersten fünfziger Jahre um besten eignen, daß deren durch die Decadence unterbrochnes Werk wieder aufgenommen werden muß. Sie waren nicht, wie man uns hat weis machen wollen, Epigonen, sie haben Kraft und Größe, Wahrheit und Natur und dabei eine reiche Kunst, alle ihre Bestrebungen deuten vorwärts, nicht zurück. Sicher, das deutsche Volk wird nicht unzufrieden sein, wenn es geschichtliche Dramen des großen realistischen Stils bekommt, wie sie Hebbel und Ludwig schufen, bürgerliche Tragödien wie die „Maria Magdalena," statt der naturalistischen Dramen, biographische Romane, wie Gottfried Kellners „Grüner Heinrich" einer ist, Novellen von der Art der „Leute von Seldwyla" und der besten Theodor Storms. Es wird, wie gesagt, niemand gezwungen sein, diese Dichter nachzuahmen, seine eignen Errungenschaften aufzugeben, nur von ihrem Geiste soll er sich befruchten lassen. Hat denn jeder deutsche Stamm seinen Jeremias Gotthelf, seinen Otto Ludwig, seinen Klaus Groth, seinen Wilibald Alexis, ja nur seinen Reuter oder Scheffel? Glaubt man wirklich, daß die neueste Bewegung alle diese Leute zu den Toten geworfen habe? Sollte man es glauben, dann wehe uns! Aber man glaubt es nicht, wenigstens die ver¬ nünftigen Leute glauben es nicht. So schreibt Wilhelm Weigand in seinein „Elend der Kritik": „Das Bewußtsein, daß der Naturalismus trotz der trefflichen Leistungen einzelner Dichter eine Gefahr für den durchaus indivi¬ dualistischen germanischen Geist bedeute, ist in dem spärlichen Publikum, das an dem Geschick unsers Schrifttums wirklichen Anteil nimmt, immer rege

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/476>, abgerufen am 01.09.2024.