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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

ich meine ehrliche Meinung abgeben soll: es steckt in des einzigen Jeremias
Gotthelss vierundzwanzig Bänden mehr wirkliches Leben, Kenntnis des Volks
und auch männliche Kraft, vielleicht auch mehr Poesie als in der gesamten
modernen naturalistischen Litteratur, die freilich künstlerisch weiter ge¬
kommen ist, als der zu oft predigende und polternde Berner Pfarrer. Das
Unglück ist, das auch der Naturalismus in Deutschland zu einer Art Bildungs¬
dichtung geworden ist, von Berliner Litteraten getragen und einem exklusiven
großstädtischen, nichts weniger als gesunden und ehrlichen Publikum gefördert.
Kämen zu Hauptmann, der seiner schlesischen Heimat ja ziemlich treu geblieben
ist, noch einige bedeutendere Dichter, die, wie etwa Gottfried Keller, mit dem
Volkstum ihrer Heimat verwachsen und die Enge der naturalistischen Theorien
zu durchbrechen imstande wären, an dem Naturalismus selber aber festhielten,
so hätte dieser, der Naturalismus, unbedingt noch eine große Zukunft; was
Jeremias Gotthelf für sein "Bernbiet" leistete, kaun für jeden deutschen Gau
geleistet werden, und auch mit der größern künstlerischen Freiheit, die Keller im
Vergleich zu Gotthelf hat.


12

Im November 1892 schrieb ein besonders schlauer Korrespondent der
Kölnischen Zeitung aus Berlin: "Die Toten reiten schnell, wenn man den
jungen Litteraten glauben will. Unsre deutschen Nachahmer Zolas, namentlich
seine treuesten Schüler, die Pedanten des Naturalismus, die Techniker nach
dem einförmigen Rezept von Johannes Schlaf, nehmen von Zola selbst keinen
Bissen Brot mehr, nachdem sie Theorie und Praxis von ihm genommen haben.
Ja sogar die neue Fahne, die sie feierlich aufrollen, den Symbolismus, haben
sie von Zola geholt, den sie jetzt verleugnen. Die Abkömmlinge von Ibsen
haben es noch leichter. Eine halbe Stunde von Berlin entfernt, in Friedrichs¬
hagen hat sich eine echte skandinavische Kolonie vereinigt, die rascher, als es
die Litteraturgeschichte wahrscheinlich machen sollte, mit Ibsen aufräumt.
Starke Talente suchen da die Anerkennung Deutschlands zu beschleunigen. An
sie schließt sich die noch unklare Gruppe von deutschen Allerjüngsten, die im
Begriff stehen, sich in der Lyrik die Phantasten zu nennen, im Drama die
Freskomaler. Phantasten und Freskomaler! Schon die Worte lassen ahnen,
daß die Bewegung sich da zu überschlagen beginnt und wieder rückläufig werdeu
dürfte, wenn nicht eben unter den Phantasten und Freskomalern eine bisher
unbekannte Kraft erscheint." Der Korrespondent hatte Recht, der folgerichtige
Naturalismus war damals nach kaum dreijähriger Herrschaft schon über¬
wunden, wie es unter andern auch Hauptmanns "Haunele" bewies, doch täuschte
er sich über Ibsen, der kurz darauf mit dem "Baumeister Solneß" den deutschen
Symbolisten einen hübschen Brocken zuwarf. Aus den deutschen Phantasten
und Freskomalern ist freilich, nichts geworden, es waren Wasserblasen, die
aufstiegen und zerplatzten; beim Symbolismus blieb es.


Die Alten und die Jungen

ich meine ehrliche Meinung abgeben soll: es steckt in des einzigen Jeremias
Gotthelss vierundzwanzig Bänden mehr wirkliches Leben, Kenntnis des Volks
und auch männliche Kraft, vielleicht auch mehr Poesie als in der gesamten
modernen naturalistischen Litteratur, die freilich künstlerisch weiter ge¬
kommen ist, als der zu oft predigende und polternde Berner Pfarrer. Das
Unglück ist, das auch der Naturalismus in Deutschland zu einer Art Bildungs¬
dichtung geworden ist, von Berliner Litteraten getragen und einem exklusiven
großstädtischen, nichts weniger als gesunden und ehrlichen Publikum gefördert.
Kämen zu Hauptmann, der seiner schlesischen Heimat ja ziemlich treu geblieben
ist, noch einige bedeutendere Dichter, die, wie etwa Gottfried Keller, mit dem
Volkstum ihrer Heimat verwachsen und die Enge der naturalistischen Theorien
zu durchbrechen imstande wären, an dem Naturalismus selber aber festhielten,
so hätte dieser, der Naturalismus, unbedingt noch eine große Zukunft; was
Jeremias Gotthelf für sein „Bernbiet" leistete, kaun für jeden deutschen Gau
geleistet werden, und auch mit der größern künstlerischen Freiheit, die Keller im
Vergleich zu Gotthelf hat.


12

Im November 1892 schrieb ein besonders schlauer Korrespondent der
Kölnischen Zeitung aus Berlin: „Die Toten reiten schnell, wenn man den
jungen Litteraten glauben will. Unsre deutschen Nachahmer Zolas, namentlich
seine treuesten Schüler, die Pedanten des Naturalismus, die Techniker nach
dem einförmigen Rezept von Johannes Schlaf, nehmen von Zola selbst keinen
Bissen Brot mehr, nachdem sie Theorie und Praxis von ihm genommen haben.
Ja sogar die neue Fahne, die sie feierlich aufrollen, den Symbolismus, haben
sie von Zola geholt, den sie jetzt verleugnen. Die Abkömmlinge von Ibsen
haben es noch leichter. Eine halbe Stunde von Berlin entfernt, in Friedrichs¬
hagen hat sich eine echte skandinavische Kolonie vereinigt, die rascher, als es
die Litteraturgeschichte wahrscheinlich machen sollte, mit Ibsen aufräumt.
Starke Talente suchen da die Anerkennung Deutschlands zu beschleunigen. An
sie schließt sich die noch unklare Gruppe von deutschen Allerjüngsten, die im
Begriff stehen, sich in der Lyrik die Phantasten zu nennen, im Drama die
Freskomaler. Phantasten und Freskomaler! Schon die Worte lassen ahnen,
daß die Bewegung sich da zu überschlagen beginnt und wieder rückläufig werdeu
dürfte, wenn nicht eben unter den Phantasten und Freskomalern eine bisher
unbekannte Kraft erscheint." Der Korrespondent hatte Recht, der folgerichtige
Naturalismus war damals nach kaum dreijähriger Herrschaft schon über¬
wunden, wie es unter andern auch Hauptmanns „Haunele" bewies, doch täuschte
er sich über Ibsen, der kurz darauf mit dem „Baumeister Solneß" den deutschen
Symbolisten einen hübschen Brocken zuwarf. Aus den deutschen Phantasten
und Freskomalern ist freilich, nichts geworden, es waren Wasserblasen, die
aufstiegen und zerplatzten; beim Symbolismus blieb es.


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[0472] Die Alten und die Jungen ich meine ehrliche Meinung abgeben soll: es steckt in des einzigen Jeremias Gotthelss vierundzwanzig Bänden mehr wirkliches Leben, Kenntnis des Volks und auch männliche Kraft, vielleicht auch mehr Poesie als in der gesamten modernen naturalistischen Litteratur, die freilich künstlerisch weiter ge¬ kommen ist, als der zu oft predigende und polternde Berner Pfarrer. Das Unglück ist, das auch der Naturalismus in Deutschland zu einer Art Bildungs¬ dichtung geworden ist, von Berliner Litteraten getragen und einem exklusiven großstädtischen, nichts weniger als gesunden und ehrlichen Publikum gefördert. Kämen zu Hauptmann, der seiner schlesischen Heimat ja ziemlich treu geblieben ist, noch einige bedeutendere Dichter, die, wie etwa Gottfried Keller, mit dem Volkstum ihrer Heimat verwachsen und die Enge der naturalistischen Theorien zu durchbrechen imstande wären, an dem Naturalismus selber aber festhielten, so hätte dieser, der Naturalismus, unbedingt noch eine große Zukunft; was Jeremias Gotthelf für sein „Bernbiet" leistete, kaun für jeden deutschen Gau geleistet werden, und auch mit der größern künstlerischen Freiheit, die Keller im Vergleich zu Gotthelf hat. 12 Im November 1892 schrieb ein besonders schlauer Korrespondent der Kölnischen Zeitung aus Berlin: „Die Toten reiten schnell, wenn man den jungen Litteraten glauben will. Unsre deutschen Nachahmer Zolas, namentlich seine treuesten Schüler, die Pedanten des Naturalismus, die Techniker nach dem einförmigen Rezept von Johannes Schlaf, nehmen von Zola selbst keinen Bissen Brot mehr, nachdem sie Theorie und Praxis von ihm genommen haben. Ja sogar die neue Fahne, die sie feierlich aufrollen, den Symbolismus, haben sie von Zola geholt, den sie jetzt verleugnen. Die Abkömmlinge von Ibsen haben es noch leichter. Eine halbe Stunde von Berlin entfernt, in Friedrichs¬ hagen hat sich eine echte skandinavische Kolonie vereinigt, die rascher, als es die Litteraturgeschichte wahrscheinlich machen sollte, mit Ibsen aufräumt. Starke Talente suchen da die Anerkennung Deutschlands zu beschleunigen. An sie schließt sich die noch unklare Gruppe von deutschen Allerjüngsten, die im Begriff stehen, sich in der Lyrik die Phantasten zu nennen, im Drama die Freskomaler. Phantasten und Freskomaler! Schon die Worte lassen ahnen, daß die Bewegung sich da zu überschlagen beginnt und wieder rückläufig werdeu dürfte, wenn nicht eben unter den Phantasten und Freskomalern eine bisher unbekannte Kraft erscheint." Der Korrespondent hatte Recht, der folgerichtige Naturalismus war damals nach kaum dreijähriger Herrschaft schon über¬ wunden, wie es unter andern auch Hauptmanns „Haunele" bewies, doch täuschte er sich über Ibsen, der kurz darauf mit dem „Baumeister Solneß" den deutschen Symbolisten einen hübschen Brocken zuwarf. Aus den deutschen Phantasten und Freskomalern ist freilich, nichts geworden, es waren Wasserblasen, die aufstiegen und zerplatzten; beim Symbolismus blieb es.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/472>, abgerufen am 01.09.2024.