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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die geographische Lage Deutschlands

Deutschland ist aber auch noch in anderm Sinne zurückgedrängt. Es hat
weder in der Nordsee noch in der Ostsee vorgeschobne Besitzungen, sondern
nur Küsteninseln. Helgolands Erwerbung hat an diesem Zustande nur wenig
geändert. Es liegt darin ein Merkmal, daß Deutschland zurückgetreten ist.
Man bedenke, wie ganz anders es einst in der Ostsee aufgriff, wo die Hanse
so wichtige Stellungen wie Bornholm und Gothland innehatte. Der heutige
Zustand ist bester als der nach dem dreißigjährigen Kriege, wo Deutschlands
Küsten an den wertvollsten Stellen in schwedischen, dänischen, polnischen, hanno¬
verisch-englischen Händen waren; aber er trägt die Spuren dieses Rückgangs.
Darum haben wir der Erwerbung Helgolands zugejubelt, weil sie ein Anzeichen
eines wiederbeginnenden Wachstums in der notwendigsten Richtung ist.

Man pflegt nicht von Nordscemüchten zu sprechen, weil die Nordsee nur
als Durchgangsmeer gilt. Aber die Nordsee ist doch der Träger der nach
Geschichte und Kultur so bedeutenden deutsch-englischen Beziehungen, und die
Gemeinschaft der Lage am Südrande der Nordsee schafft für Deutschland und
die Niederlande eine tiefere Gemeinschaft, aber anch eine schärfere Konkurrenz
der Interessen. Daß England der Nordsee seine geschichtlich viel weniger
wichtige Ostseite zukehrt, die man fast die Rückseite der nach dem Kanal und
dem Ozean hinausschauenden Jnselmacht nennen möchte, hat zur Folge gehabt,
daß Deutschland den Engländern immer wie ein zurückliegendes Land erschien,
dessen Bedeutung mit der Frankreichs nicht zu vergleichen war. In dem
Maße wie Deutschland die in der Nordsee liegenden Hilfsmittel zu maritimer
Größe zu verwerten versteht, rückt es zwischen die beiden großen atlantischen
Mächte England und Frankreich ein, und zwar in eine ähnliche Stellung wie
vor zweihundert Jahren die Niederlande.

Mit vollem Recht spricht man von Ostseemächten, denn die fast geschlossene
Ostsee wird wie ein kleineres Mittelmeer gemeinsam von den Mächten be¬
herrscht, die ihre Küsten innehaben. So ist die Ostsee ein dänisches, ein
hansisches, ein schwedisches Meer gewesen. Heute sind Deutschland und Ru߬
land durch die Ausdehnung ihrer Küsten und die Größe und den Menschen- und
Produttenreichtum ihrer Länder die ausschlaggebenden Ostseemächte. Dänemark
ist trotz seiner Kleinheit durch den Besitz der Verbindungen zur Nordsee wichtig.
Schweden tritt mehr zurück. Deutschland und Dünemark sind zugleich Ostsee-
und Nordseestaaten, aber Deutschland stellt durch seine größern und bessern
Kräfte in dieser Beziehung Dänemark ganz in den Schatten, obwohl dieses
durch den Besitz der Far-Oer, Islands und Grönlands atlantische Stützpunkte hat.
In dem Nordseeanteil liegt aber doch sür beide Mächte eine Annäherung der
Interessen, die einst zu lebhaften Wettbewerbungen Anlaß gab. Als Dänemark
an der Elbe lag, Helgoland und die nordfricsischen Inseln besaß und die
Eingänge in die Ostsee unbedingt kontrollirte, hatte es in beiden Meeren einen
großen Teil des Einflusses an sich gerissen, der nach der Natur der Lage


Die geographische Lage Deutschlands

Deutschland ist aber auch noch in anderm Sinne zurückgedrängt. Es hat
weder in der Nordsee noch in der Ostsee vorgeschobne Besitzungen, sondern
nur Küsteninseln. Helgolands Erwerbung hat an diesem Zustande nur wenig
geändert. Es liegt darin ein Merkmal, daß Deutschland zurückgetreten ist.
Man bedenke, wie ganz anders es einst in der Ostsee aufgriff, wo die Hanse
so wichtige Stellungen wie Bornholm und Gothland innehatte. Der heutige
Zustand ist bester als der nach dem dreißigjährigen Kriege, wo Deutschlands
Küsten an den wertvollsten Stellen in schwedischen, dänischen, polnischen, hanno¬
verisch-englischen Händen waren; aber er trägt die Spuren dieses Rückgangs.
Darum haben wir der Erwerbung Helgolands zugejubelt, weil sie ein Anzeichen
eines wiederbeginnenden Wachstums in der notwendigsten Richtung ist.

Man pflegt nicht von Nordscemüchten zu sprechen, weil die Nordsee nur
als Durchgangsmeer gilt. Aber die Nordsee ist doch der Träger der nach
Geschichte und Kultur so bedeutenden deutsch-englischen Beziehungen, und die
Gemeinschaft der Lage am Südrande der Nordsee schafft für Deutschland und
die Niederlande eine tiefere Gemeinschaft, aber anch eine schärfere Konkurrenz
der Interessen. Daß England der Nordsee seine geschichtlich viel weniger
wichtige Ostseite zukehrt, die man fast die Rückseite der nach dem Kanal und
dem Ozean hinausschauenden Jnselmacht nennen möchte, hat zur Folge gehabt,
daß Deutschland den Engländern immer wie ein zurückliegendes Land erschien,
dessen Bedeutung mit der Frankreichs nicht zu vergleichen war. In dem
Maße wie Deutschland die in der Nordsee liegenden Hilfsmittel zu maritimer
Größe zu verwerten versteht, rückt es zwischen die beiden großen atlantischen
Mächte England und Frankreich ein, und zwar in eine ähnliche Stellung wie
vor zweihundert Jahren die Niederlande.

Mit vollem Recht spricht man von Ostseemächten, denn die fast geschlossene
Ostsee wird wie ein kleineres Mittelmeer gemeinsam von den Mächten be¬
herrscht, die ihre Küsten innehaben. So ist die Ostsee ein dänisches, ein
hansisches, ein schwedisches Meer gewesen. Heute sind Deutschland und Ru߬
land durch die Ausdehnung ihrer Küsten und die Größe und den Menschen- und
Produttenreichtum ihrer Länder die ausschlaggebenden Ostseemächte. Dänemark
ist trotz seiner Kleinheit durch den Besitz der Verbindungen zur Nordsee wichtig.
Schweden tritt mehr zurück. Deutschland und Dünemark sind zugleich Ostsee-
und Nordseestaaten, aber Deutschland stellt durch seine größern und bessern
Kräfte in dieser Beziehung Dänemark ganz in den Schatten, obwohl dieses
durch den Besitz der Far-Oer, Islands und Grönlands atlantische Stützpunkte hat.
In dem Nordseeanteil liegt aber doch sür beide Mächte eine Annäherung der
Interessen, die einst zu lebhaften Wettbewerbungen Anlaß gab. Als Dänemark
an der Elbe lag, Helgoland und die nordfricsischen Inseln besaß und die
Eingänge in die Ostsee unbedingt kontrollirte, hatte es in beiden Meeren einen
großen Teil des Einflusses an sich gerissen, der nach der Natur der Lage


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[0462] Die geographische Lage Deutschlands Deutschland ist aber auch noch in anderm Sinne zurückgedrängt. Es hat weder in der Nordsee noch in der Ostsee vorgeschobne Besitzungen, sondern nur Küsteninseln. Helgolands Erwerbung hat an diesem Zustande nur wenig geändert. Es liegt darin ein Merkmal, daß Deutschland zurückgetreten ist. Man bedenke, wie ganz anders es einst in der Ostsee aufgriff, wo die Hanse so wichtige Stellungen wie Bornholm und Gothland innehatte. Der heutige Zustand ist bester als der nach dem dreißigjährigen Kriege, wo Deutschlands Küsten an den wertvollsten Stellen in schwedischen, dänischen, polnischen, hanno¬ verisch-englischen Händen waren; aber er trägt die Spuren dieses Rückgangs. Darum haben wir der Erwerbung Helgolands zugejubelt, weil sie ein Anzeichen eines wiederbeginnenden Wachstums in der notwendigsten Richtung ist. Man pflegt nicht von Nordscemüchten zu sprechen, weil die Nordsee nur als Durchgangsmeer gilt. Aber die Nordsee ist doch der Träger der nach Geschichte und Kultur so bedeutenden deutsch-englischen Beziehungen, und die Gemeinschaft der Lage am Südrande der Nordsee schafft für Deutschland und die Niederlande eine tiefere Gemeinschaft, aber anch eine schärfere Konkurrenz der Interessen. Daß England der Nordsee seine geschichtlich viel weniger wichtige Ostseite zukehrt, die man fast die Rückseite der nach dem Kanal und dem Ozean hinausschauenden Jnselmacht nennen möchte, hat zur Folge gehabt, daß Deutschland den Engländern immer wie ein zurückliegendes Land erschien, dessen Bedeutung mit der Frankreichs nicht zu vergleichen war. In dem Maße wie Deutschland die in der Nordsee liegenden Hilfsmittel zu maritimer Größe zu verwerten versteht, rückt es zwischen die beiden großen atlantischen Mächte England und Frankreich ein, und zwar in eine ähnliche Stellung wie vor zweihundert Jahren die Niederlande. Mit vollem Recht spricht man von Ostseemächten, denn die fast geschlossene Ostsee wird wie ein kleineres Mittelmeer gemeinsam von den Mächten be¬ herrscht, die ihre Küsten innehaben. So ist die Ostsee ein dänisches, ein hansisches, ein schwedisches Meer gewesen. Heute sind Deutschland und Ru߬ land durch die Ausdehnung ihrer Küsten und die Größe und den Menschen- und Produttenreichtum ihrer Länder die ausschlaggebenden Ostseemächte. Dänemark ist trotz seiner Kleinheit durch den Besitz der Verbindungen zur Nordsee wichtig. Schweden tritt mehr zurück. Deutschland und Dünemark sind zugleich Ostsee- und Nordseestaaten, aber Deutschland stellt durch seine größern und bessern Kräfte in dieser Beziehung Dänemark ganz in den Schatten, obwohl dieses durch den Besitz der Far-Oer, Islands und Grönlands atlantische Stützpunkte hat. In dem Nordseeanteil liegt aber doch sür beide Mächte eine Annäherung der Interessen, die einst zu lebhaften Wettbewerbungen Anlaß gab. Als Dänemark an der Elbe lag, Helgoland und die nordfricsischen Inseln besaß und die Eingänge in die Ostsee unbedingt kontrollirte, hatte es in beiden Meeren einen großen Teil des Einflusses an sich gerissen, der nach der Natur der Lage

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/462>, abgerufen am 01.09.2024.