Die Verlagsbuchhandlung hat, meine ich, alle Ursache, mit dem Erfolg ihres Preisausschreibens zufrieden zu sein. Auch ist dadurch bewiesen worden, daß es noch Schriftsteller in Deutschland giebt, die für das Volk zu schreiben verstehen, wenn auch schwerlich einer Kalendergeschichten fertig brächte, wie sie Ludwig Anzengruber verfaßt hat, und wie sie außer ihm vielleicht noch Rosegger gelingen. Betrachtet man jedoch das Preisausschreiben vom berufsmüßig- schriftstellerischen, vom sozialen, endlich vom dichterischen Standpunkte, so er¬ giebt sich kein erfreuliches Bild: unter 310 Arbeiten 80, die druckreif sind, 60 leidliche und 20 gute -- die Schreibseuche hat einen bedenklichen Umfang angenommen, und man scheint vielfach anzunehmen, daß es leichter sei, eine Erzählung zu schreiben als einen Bericht abzufassen oder gar einen Strumpf zu stricken. Dabei die namentlich in den Model der Erzählungen hervortretende Eitelkeit, ja der Größenwahn der Verfasser! Je erbärmlicher die Arbeit, desto mehr Selbstvertrauen trägt in der Regel ihr Verfasser zur Schau, bemerkte sehr richtig einer meiner Mitrichter. Auf einer der schlechtesten Erzählungen stand: "Jeder treibe die Kunst, die ihn der Genius lehrt!" Wenn man nur den Leuten beibringen könnte, daß zum Verfassen von Romanen und Novellen doch ein bischen mehr gehört als die Fähigkeit, einen leidlichen Brief zu schreiben und aus zehn gelesenen Werken notdürftig das elfte zusammenzuleimen! Aber das ist eine Ausgabe, die von Tag zu Tag weniger lösbar erscheint. In meinen pessimistischen Stunden fürchte ich bisweilen, daß einmal die ganze wirkliche deutsche Dichtung und Litteratur in einer großen, von männlichen und weiblichen Dilettanten und Handwerkern heraufbeschwornen Tintensünd- flut ertrinkt.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bedeutungsvolle Paarungen.
Wenn ein alter Geizhals Plötzlich einmal freigebig wird oder ein alter Stammgast die Kneipe wechselt, so sagt man, der Mann wird bald sterben. Jetzt scheinen das Zentrum und die nntioncilliberale Partei dem Tode nahe zu sein, denn etwas ungewöhnlicheres und -- sofern mau ihr ursprüngliches Wesen in Betracht zieht -- unnatürlicheres konnten beide nicht thun, als sich zur Durchführung des "großen nationalen Werkes" gegen jeder- mttnniglich mit einander verbünden und hinter den Kulissen Abmachungen treffen, wie sie sonst von den Konservativen abwechselnd mit dem Zentrum und mit den Nationalliberalen getroffen zu werden pflegten. Die Motive des Zentrums liegen auf der Hand; freilich könnte es ihm wohl begegnen, daß es seine glänzende Po¬ sition mit der Gunst der Mehrzahl seiner Wähler erkauft hätte -- Blätter wie der Westfälische Merkur geben ihren Unwillen unverhohlen kund--, und dann wäre in der That der Wechsel in der Liebe für den einen Teil des neuen Liebespaares
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Verlagsbuchhandlung hat, meine ich, alle Ursache, mit dem Erfolg ihres Preisausschreibens zufrieden zu sein. Auch ist dadurch bewiesen worden, daß es noch Schriftsteller in Deutschland giebt, die für das Volk zu schreiben verstehen, wenn auch schwerlich einer Kalendergeschichten fertig brächte, wie sie Ludwig Anzengruber verfaßt hat, und wie sie außer ihm vielleicht noch Rosegger gelingen. Betrachtet man jedoch das Preisausschreiben vom berufsmüßig- schriftstellerischen, vom sozialen, endlich vom dichterischen Standpunkte, so er¬ giebt sich kein erfreuliches Bild: unter 310 Arbeiten 80, die druckreif sind, 60 leidliche und 20 gute — die Schreibseuche hat einen bedenklichen Umfang angenommen, und man scheint vielfach anzunehmen, daß es leichter sei, eine Erzählung zu schreiben als einen Bericht abzufassen oder gar einen Strumpf zu stricken. Dabei die namentlich in den Model der Erzählungen hervortretende Eitelkeit, ja der Größenwahn der Verfasser! Je erbärmlicher die Arbeit, desto mehr Selbstvertrauen trägt in der Regel ihr Verfasser zur Schau, bemerkte sehr richtig einer meiner Mitrichter. Auf einer der schlechtesten Erzählungen stand: „Jeder treibe die Kunst, die ihn der Genius lehrt!" Wenn man nur den Leuten beibringen könnte, daß zum Verfassen von Romanen und Novellen doch ein bischen mehr gehört als die Fähigkeit, einen leidlichen Brief zu schreiben und aus zehn gelesenen Werken notdürftig das elfte zusammenzuleimen! Aber das ist eine Ausgabe, die von Tag zu Tag weniger lösbar erscheint. In meinen pessimistischen Stunden fürchte ich bisweilen, daß einmal die ganze wirkliche deutsche Dichtung und Litteratur in einer großen, von männlichen und weiblichen Dilettanten und Handwerkern heraufbeschwornen Tintensünd- flut ertrinkt.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bedeutungsvolle Paarungen.
Wenn ein alter Geizhals Plötzlich einmal freigebig wird oder ein alter Stammgast die Kneipe wechselt, so sagt man, der Mann wird bald sterben. Jetzt scheinen das Zentrum und die nntioncilliberale Partei dem Tode nahe zu sein, denn etwas ungewöhnlicheres und — sofern mau ihr ursprüngliches Wesen in Betracht zieht — unnatürlicheres konnten beide nicht thun, als sich zur Durchführung des „großen nationalen Werkes" gegen jeder- mttnniglich mit einander verbünden und hinter den Kulissen Abmachungen treffen, wie sie sonst von den Konservativen abwechselnd mit dem Zentrum und mit den Nationalliberalen getroffen zu werden pflegten. Die Motive des Zentrums liegen auf der Hand; freilich könnte es ihm wohl begegnen, daß es seine glänzende Po¬ sition mit der Gunst der Mehrzahl seiner Wähler erkauft hätte — Blätter wie der Westfälische Merkur geben ihren Unwillen unverhohlen kund—, und dann wäre in der That der Wechsel in der Liebe für den einen Teil des neuen Liebespaares
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Maßgebliches und Unmaßgebliches
Die Verlagsbuchhandlung hat, meine ich, alle Ursache, mit dem Erfolg
ihres Preisausschreibens zufrieden zu sein. Auch ist dadurch bewiesen worden,
daß es noch Schriftsteller in Deutschland giebt, die für das Volk zu schreiben
verstehen, wenn auch schwerlich einer Kalendergeschichten fertig brächte, wie sie
Ludwig Anzengruber verfaßt hat, und wie sie außer ihm vielleicht noch Rosegger
gelingen. Betrachtet man jedoch das Preisausschreiben vom berufsmüßig-
schriftstellerischen, vom sozialen, endlich vom dichterischen Standpunkte, so er¬
giebt sich kein erfreuliches Bild: unter 310 Arbeiten 80, die druckreif sind,
60 leidliche und 20 gute — die Schreibseuche hat einen bedenklichen Umfang
angenommen, und man scheint vielfach anzunehmen, daß es leichter sei, eine
Erzählung zu schreiben als einen Bericht abzufassen oder gar einen Strumpf
zu stricken. Dabei die namentlich in den Model der Erzählungen hervortretende
Eitelkeit, ja der Größenwahn der Verfasser! Je erbärmlicher die Arbeit, desto
mehr Selbstvertrauen trägt in der Regel ihr Verfasser zur Schau, bemerkte
sehr richtig einer meiner Mitrichter. Auf einer der schlechtesten Erzählungen
stand: „Jeder treibe die Kunst, die ihn der Genius lehrt!" Wenn man nur
den Leuten beibringen könnte, daß zum Verfassen von Romanen und Novellen
doch ein bischen mehr gehört als die Fähigkeit, einen leidlichen Brief zu
schreiben und aus zehn gelesenen Werken notdürftig das elfte zusammenzuleimen!
Aber das ist eine Ausgabe, die von Tag zu Tag weniger lösbar erscheint.
In meinen pessimistischen Stunden fürchte ich bisweilen, daß einmal die ganze
wirkliche deutsche Dichtung und Litteratur in einer großen, von männlichen
und weiblichen Dilettanten und Handwerkern heraufbeschwornen Tintensünd-
flut ertrinkt.
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Bedeutungsvolle Paarungen. Wenn ein alter Geizhals Plötzlich einmal
freigebig wird oder ein alter Stammgast die Kneipe wechselt, so sagt man, der
Mann wird bald sterben. Jetzt scheinen das Zentrum und die nntioncilliberale
Partei dem Tode nahe zu sein, denn etwas ungewöhnlicheres und — sofern mau
ihr ursprüngliches Wesen in Betracht zieht — unnatürlicheres konnten beide nicht
thun, als sich zur Durchführung des „großen nationalen Werkes" gegen jeder-
mttnniglich mit einander verbünden und hinter den Kulissen Abmachungen treffen,
wie sie sonst von den Konservativen abwechselnd mit dem Zentrum und mit den
Nationalliberalen getroffen zu werden pflegten. Die Motive des Zentrums liegen
auf der Hand; freilich könnte es ihm wohl begegnen, daß es seine glänzende Po¬
sition mit der Gunst der Mehrzahl seiner Wähler erkauft hätte — Blätter wie der
Westfälische Merkur geben ihren Unwillen unverhohlen kund—, und dann wäre in
der That der Wechsel in der Liebe für den einen Teil des neuen Liebespaares
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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/46>, abgerufen am 23.02.2025.
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