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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Warum sollen wir ins Gefängnis?

sein würde, wenn man den Menschen dnrch eine verlängerte Erziehung in
seiner persönlichen Freiheit beschränkt. Gewiß ist die persönliche Freiheit ein
unschätzbares Gut. Aber es hieße doch wirklich Begriffe höher stellen als
Thatsachen, wenn man moralisch schwachen Menschen ihre äußere Freiheit lassen, -
anstatt ihnen , durch zeitweilige Entziehung der Freiheit allmählich zu der
Möglichkeit zu verhelfen, innerlich frei zu werden. Nur wenn wir innerlich,
wenn wir sittlich frei find, sind wir imstande, unsre persönliche, äußere Frei¬
heit im Sinne einer moralischen Weltordnung zu benutzen. Andernfalls
werden wir unsre Freiheit unfehlbar zu unserm eignen sittlichen und physischen
Nachteil mißbrauchen. Wollte man einwenden, es würde dem in einer Er¬
ziehungsanstalt zwangsweise untergebrachten Menschen in den Augen der Mit¬
welt ein Makel angehängt werden, so wäre zu entgegnen, erstens, daß dieser -
Makel doch nicht ausbleiben wird; denn der moralisch Schwachsinnige wird,
wenn er von den Seinigen nicht mit Argusaugen gehütet wird, bald ein Gast
der Gefängnisse werden. Sodann aber ist doch zu erwarten, daß unsre aufgeklärte^
und rasch lebende Zeit kleinliche Bedenken überwinden und über den Gebesserten
den Mantel des Vergessens breiten werde. Liest man es doch auch manchem
Offizier nicht von der Stirn ab, welche Borgeschichte sein Fähiirichsexameu
gehabt hat, und merkt es manchem Pfarrer, Richter oder Lehrer nicht all,
welche sittlichen Kämpfe, zusammengesetzt aus Siegen und Niederlagen, er in
seiner Jugend hat bestehen müssen, ehe das Gute den Sieg davontrug. Sollte
man den brauchbare!? Offizier oder den pflichttreuen Pfarrer und Beamten
darum verachten, weil ihre Lehrzeit nicht so glatt verlaufen ist wie die andrer
Leute? Der gerechte Mann beurteilt die Menschen nach ihren Leistungen;
nach ihren Leistungen im spätern Leben wird man auch die einst beurteilen, deren
sittliche Selbständigkeit und soziale Leistungsfähigkeit nur durch eine verlängerte
Zucht in der Jugend zu erreichen'war.

Freilich, wenn heute auf den ehemaligen Insassen einer Korrektionsanstalt
ein Makel ruht, so kann das den nicht wundern, der mit den in einer solchen
"Besserungsanstalt herrschenden, eine Besserung fast unmöglich machenden
Verhältnissen bekannt ist. Weder unsre Korrektionshäuser, noch unsre Gefäng¬
nisse, noch unsre Zuchthäuser sind dazu angethan, den Sträfling zu bessern,
sobald eine zum Bösen neigende Natur erst einmal mit einer dieser Anstalten
Bekanntschaft gemacht hat, geht es mit ihr rasend bergab. Um so mehr ist
es nötig, den sittlich Schwachen schon in der Jugend die Gelegenheit zum
Verbrechen zu entziehen, sie allmählich den richtigen, ihnen selbst und der
Gesellschaft zuträglichen Gebrauch der Freiheit zu lehren.

Man hat schon vor neunzehn Jahren in Elmira in den Vereinigten Staaten
versuchsweise begonnen.*) Verbrecher zu einer Freiheitsentziehung auf unbc-



Vergl. Ellis, Verbrecher und Verbrechen. Leipzig, Wigand/ 1895: '
Warum sollen wir ins Gefängnis?

sein würde, wenn man den Menschen dnrch eine verlängerte Erziehung in
seiner persönlichen Freiheit beschränkt. Gewiß ist die persönliche Freiheit ein
unschätzbares Gut. Aber es hieße doch wirklich Begriffe höher stellen als
Thatsachen, wenn man moralisch schwachen Menschen ihre äußere Freiheit lassen, -
anstatt ihnen , durch zeitweilige Entziehung der Freiheit allmählich zu der
Möglichkeit zu verhelfen, innerlich frei zu werden. Nur wenn wir innerlich,
wenn wir sittlich frei find, sind wir imstande, unsre persönliche, äußere Frei¬
heit im Sinne einer moralischen Weltordnung zu benutzen. Andernfalls
werden wir unsre Freiheit unfehlbar zu unserm eignen sittlichen und physischen
Nachteil mißbrauchen. Wollte man einwenden, es würde dem in einer Er¬
ziehungsanstalt zwangsweise untergebrachten Menschen in den Augen der Mit¬
welt ein Makel angehängt werden, so wäre zu entgegnen, erstens, daß dieser -
Makel doch nicht ausbleiben wird; denn der moralisch Schwachsinnige wird,
wenn er von den Seinigen nicht mit Argusaugen gehütet wird, bald ein Gast
der Gefängnisse werden. Sodann aber ist doch zu erwarten, daß unsre aufgeklärte^
und rasch lebende Zeit kleinliche Bedenken überwinden und über den Gebesserten
den Mantel des Vergessens breiten werde. Liest man es doch auch manchem
Offizier nicht von der Stirn ab, welche Borgeschichte sein Fähiirichsexameu
gehabt hat, und merkt es manchem Pfarrer, Richter oder Lehrer nicht all,
welche sittlichen Kämpfe, zusammengesetzt aus Siegen und Niederlagen, er in
seiner Jugend hat bestehen müssen, ehe das Gute den Sieg davontrug. Sollte
man den brauchbare!? Offizier oder den pflichttreuen Pfarrer und Beamten
darum verachten, weil ihre Lehrzeit nicht so glatt verlaufen ist wie die andrer
Leute? Der gerechte Mann beurteilt die Menschen nach ihren Leistungen;
nach ihren Leistungen im spätern Leben wird man auch die einst beurteilen, deren
sittliche Selbständigkeit und soziale Leistungsfähigkeit nur durch eine verlängerte
Zucht in der Jugend zu erreichen'war.

Freilich, wenn heute auf den ehemaligen Insassen einer Korrektionsanstalt
ein Makel ruht, so kann das den nicht wundern, der mit den in einer solchen
»Besserungsanstalt herrschenden, eine Besserung fast unmöglich machenden
Verhältnissen bekannt ist. Weder unsre Korrektionshäuser, noch unsre Gefäng¬
nisse, noch unsre Zuchthäuser sind dazu angethan, den Sträfling zu bessern,
sobald eine zum Bösen neigende Natur erst einmal mit einer dieser Anstalten
Bekanntschaft gemacht hat, geht es mit ihr rasend bergab. Um so mehr ist
es nötig, den sittlich Schwachen schon in der Jugend die Gelegenheit zum
Verbrechen zu entziehen, sie allmählich den richtigen, ihnen selbst und der
Gesellschaft zuträglichen Gebrauch der Freiheit zu lehren.

Man hat schon vor neunzehn Jahren in Elmira in den Vereinigten Staaten
versuchsweise begonnen.*) Verbrecher zu einer Freiheitsentziehung auf unbc-



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[0455] Warum sollen wir ins Gefängnis? sein würde, wenn man den Menschen dnrch eine verlängerte Erziehung in seiner persönlichen Freiheit beschränkt. Gewiß ist die persönliche Freiheit ein unschätzbares Gut. Aber es hieße doch wirklich Begriffe höher stellen als Thatsachen, wenn man moralisch schwachen Menschen ihre äußere Freiheit lassen, - anstatt ihnen , durch zeitweilige Entziehung der Freiheit allmählich zu der Möglichkeit zu verhelfen, innerlich frei zu werden. Nur wenn wir innerlich, wenn wir sittlich frei find, sind wir imstande, unsre persönliche, äußere Frei¬ heit im Sinne einer moralischen Weltordnung zu benutzen. Andernfalls werden wir unsre Freiheit unfehlbar zu unserm eignen sittlichen und physischen Nachteil mißbrauchen. Wollte man einwenden, es würde dem in einer Er¬ ziehungsanstalt zwangsweise untergebrachten Menschen in den Augen der Mit¬ welt ein Makel angehängt werden, so wäre zu entgegnen, erstens, daß dieser - Makel doch nicht ausbleiben wird; denn der moralisch Schwachsinnige wird, wenn er von den Seinigen nicht mit Argusaugen gehütet wird, bald ein Gast der Gefängnisse werden. Sodann aber ist doch zu erwarten, daß unsre aufgeklärte^ und rasch lebende Zeit kleinliche Bedenken überwinden und über den Gebesserten den Mantel des Vergessens breiten werde. Liest man es doch auch manchem Offizier nicht von der Stirn ab, welche Borgeschichte sein Fähiirichsexameu gehabt hat, und merkt es manchem Pfarrer, Richter oder Lehrer nicht all, welche sittlichen Kämpfe, zusammengesetzt aus Siegen und Niederlagen, er in seiner Jugend hat bestehen müssen, ehe das Gute den Sieg davontrug. Sollte man den brauchbare!? Offizier oder den pflichttreuen Pfarrer und Beamten darum verachten, weil ihre Lehrzeit nicht so glatt verlaufen ist wie die andrer Leute? Der gerechte Mann beurteilt die Menschen nach ihren Leistungen; nach ihren Leistungen im spätern Leben wird man auch die einst beurteilen, deren sittliche Selbständigkeit und soziale Leistungsfähigkeit nur durch eine verlängerte Zucht in der Jugend zu erreichen'war. Freilich, wenn heute auf den ehemaligen Insassen einer Korrektionsanstalt ein Makel ruht, so kann das den nicht wundern, der mit den in einer solchen »Besserungsanstalt herrschenden, eine Besserung fast unmöglich machenden Verhältnissen bekannt ist. Weder unsre Korrektionshäuser, noch unsre Gefäng¬ nisse, noch unsre Zuchthäuser sind dazu angethan, den Sträfling zu bessern, sobald eine zum Bösen neigende Natur erst einmal mit einer dieser Anstalten Bekanntschaft gemacht hat, geht es mit ihr rasend bergab. Um so mehr ist es nötig, den sittlich Schwachen schon in der Jugend die Gelegenheit zum Verbrechen zu entziehen, sie allmählich den richtigen, ihnen selbst und der Gesellschaft zuträglichen Gebrauch der Freiheit zu lehren. Man hat schon vor neunzehn Jahren in Elmira in den Vereinigten Staaten versuchsweise begonnen.*) Verbrecher zu einer Freiheitsentziehung auf unbc- Vergl. Ellis, Verbrecher und Verbrechen. Leipzig, Wigand/ 1895: '

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/455>, abgerufen am 01.09.2024.