Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Warum solle" wir ins 'Gefängnis?

Auf sich selbst, auf die eignen Füße gestellt, müssen solche Menschen
untergehen. Wie man auch ihre Seelenverfassung nennen mag, ob man sie
als moralischen Schwachsinn bezeichnet, oder ob man dafür nur das kalte Wort
"Verbrechernatur" hat, "richtig" ist es mit diesen Leuten nicht. Aber im
öffentlichen Leben beachtet man das nicht. Da werden alle, wenn sie nicht
offenbar fürs Irrenhaus reif find, über einen Kamm geschoren, alle als gleich¬
wertig behandelt, und wenn sich schließlich herausstellt, daß einer unter dem
Durchschnitt steht, dann ist er gewöhnlich bereits verbraucht und eine gebrochne
Existenz. Daß aber alle gebrochnen Existenzen, alle vor der Zeit verbrauchten
Menschen dem Gemeinwesen Kosten auferlegen, materielle und moralische, daran
denkt man ebenfalls nicht eher, als bis sich hinter dem heimatlosen Bettler
oder der verkommnen Dirne die Thür des Korrektionshauses schließt.

Es soll hiermit gegen die öffentliche Meinung kein Tadel ausgesprochen
werden. Es ist nicht möglich, daß diese Art von sittlich schwachsinnigen
Menschen und die Behandlung, die sie erfordern, überall bekannt sei. Obgleich
sie nach vielen taufenden zahlen, hat doch Gott sei Dank der größere Teil
der deutschen Familien solche unglückliche Wesen noch nicht aufzuweisen. Aber
die Zahl ist, besonders durch Verwahrlosung der schwachsinnigen Mädchen,
in raschem Steigen begriffen. Denn wenn dieses arme, unglückliche Volk auch
zu keiner nutzbringenden Arbeit fähig ist, eins kann es doch und wird es thun,
wenn man es nicht davor hütet: es wird sich und sein Elend fortpflanzen.
Aber wer weiß das? Wer achtet darauf? Wer bedenkt die Folgen, die solche
Verwahrlosung für das einzelne arme Geschöpf wie für die Gesamtheit nach
sich zieht? Beiden geschieht Unrecht, wenn auch der Gesellschaft, die es nicht
anders haben will, vielleicht weniger als den Verwahrlosten selber. Denn was
können diese dafür, daß sie in eine so rücksichtslose, auf ihre Vollkommenheit so
eingebildete Gesellschaft hineingestellt werden?

In einer norddeutschen Hafenstadt lebte ein Kind unordentlicher Eltern.
Das Mädchen, das entgegen dem Sprichworte, wonach der Apfel nicht weit
vom Stamme fällt, einen guten Charakter hatte, blieb bis zum fünfund¬
zwanzigsten Lebensjahre von allen, die mit ihr zu thun hatten, unverstanden.
Geistig beschränkt, wurde sie der Mutter unbequem, sie schickte sie in die Fabrik
und auf den Tanzboden, bis sie der Prostitution verfiel. Die Folge war bald,
daß sie zu Korrektionshast verurteilt wurde. In der Korrektionsanstalt ver¬
stand man sie noch weniger, hielt ihre Beschränktheit und Ungeschicklichkeit
das Mädchen konnte weder nähen, noch einen brauchbaren Strumpf stricken --
für Trotz, Faulheit und Schlechtigkeit und belegte sie mit schweren Strafen,
schließlich mit einem halben Jahre Nachhaft, alles ohne jeden Erfolg. Ans
dem Kvrrektionshause endlich entlassen, ging sie in ein freies Frauenasyl, wo
sie sich noch heute befindet. Dort arbeitet sie nun seit mehr als zwei Jahren
am Waschbottich, ist fleißig und zufrieden und von allen wohlgelitten. Sie


Warum solle» wir ins 'Gefängnis?

Auf sich selbst, auf die eignen Füße gestellt, müssen solche Menschen
untergehen. Wie man auch ihre Seelenverfassung nennen mag, ob man sie
als moralischen Schwachsinn bezeichnet, oder ob man dafür nur das kalte Wort
„Verbrechernatur" hat, „richtig" ist es mit diesen Leuten nicht. Aber im
öffentlichen Leben beachtet man das nicht. Da werden alle, wenn sie nicht
offenbar fürs Irrenhaus reif find, über einen Kamm geschoren, alle als gleich¬
wertig behandelt, und wenn sich schließlich herausstellt, daß einer unter dem
Durchschnitt steht, dann ist er gewöhnlich bereits verbraucht und eine gebrochne
Existenz. Daß aber alle gebrochnen Existenzen, alle vor der Zeit verbrauchten
Menschen dem Gemeinwesen Kosten auferlegen, materielle und moralische, daran
denkt man ebenfalls nicht eher, als bis sich hinter dem heimatlosen Bettler
oder der verkommnen Dirne die Thür des Korrektionshauses schließt.

Es soll hiermit gegen die öffentliche Meinung kein Tadel ausgesprochen
werden. Es ist nicht möglich, daß diese Art von sittlich schwachsinnigen
Menschen und die Behandlung, die sie erfordern, überall bekannt sei. Obgleich
sie nach vielen taufenden zahlen, hat doch Gott sei Dank der größere Teil
der deutschen Familien solche unglückliche Wesen noch nicht aufzuweisen. Aber
die Zahl ist, besonders durch Verwahrlosung der schwachsinnigen Mädchen,
in raschem Steigen begriffen. Denn wenn dieses arme, unglückliche Volk auch
zu keiner nutzbringenden Arbeit fähig ist, eins kann es doch und wird es thun,
wenn man es nicht davor hütet: es wird sich und sein Elend fortpflanzen.
Aber wer weiß das? Wer achtet darauf? Wer bedenkt die Folgen, die solche
Verwahrlosung für das einzelne arme Geschöpf wie für die Gesamtheit nach
sich zieht? Beiden geschieht Unrecht, wenn auch der Gesellschaft, die es nicht
anders haben will, vielleicht weniger als den Verwahrlosten selber. Denn was
können diese dafür, daß sie in eine so rücksichtslose, auf ihre Vollkommenheit so
eingebildete Gesellschaft hineingestellt werden?

In einer norddeutschen Hafenstadt lebte ein Kind unordentlicher Eltern.
Das Mädchen, das entgegen dem Sprichworte, wonach der Apfel nicht weit
vom Stamme fällt, einen guten Charakter hatte, blieb bis zum fünfund¬
zwanzigsten Lebensjahre von allen, die mit ihr zu thun hatten, unverstanden.
Geistig beschränkt, wurde sie der Mutter unbequem, sie schickte sie in die Fabrik
und auf den Tanzboden, bis sie der Prostitution verfiel. Die Folge war bald,
daß sie zu Korrektionshast verurteilt wurde. In der Korrektionsanstalt ver¬
stand man sie noch weniger, hielt ihre Beschränktheit und Ungeschicklichkeit
das Mädchen konnte weder nähen, noch einen brauchbaren Strumpf stricken —
für Trotz, Faulheit und Schlechtigkeit und belegte sie mit schweren Strafen,
schließlich mit einem halben Jahre Nachhaft, alles ohne jeden Erfolg. Ans
dem Kvrrektionshause endlich entlassen, ging sie in ein freies Frauenasyl, wo
sie sich noch heute befindet. Dort arbeitet sie nun seit mehr als zwei Jahren
am Waschbottich, ist fleißig und zufrieden und von allen wohlgelitten. Sie


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0453" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223395"/>
          <fw type="header" place="top"> Warum solle» wir ins 'Gefängnis?</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1278"> Auf sich selbst, auf die eignen Füße gestellt, müssen solche Menschen<lb/>
untergehen. Wie man auch ihre Seelenverfassung nennen mag, ob man sie<lb/>
als moralischen Schwachsinn bezeichnet, oder ob man dafür nur das kalte Wort<lb/>
&#x201E;Verbrechernatur" hat, &#x201E;richtig" ist es mit diesen Leuten nicht. Aber im<lb/>
öffentlichen Leben beachtet man das nicht. Da werden alle, wenn sie nicht<lb/>
offenbar fürs Irrenhaus reif find, über einen Kamm geschoren, alle als gleich¬<lb/>
wertig behandelt, und wenn sich schließlich herausstellt, daß einer unter dem<lb/>
Durchschnitt steht, dann ist er gewöhnlich bereits verbraucht und eine gebrochne<lb/>
Existenz. Daß aber alle gebrochnen Existenzen, alle vor der Zeit verbrauchten<lb/>
Menschen dem Gemeinwesen Kosten auferlegen, materielle und moralische, daran<lb/>
denkt man ebenfalls nicht eher, als bis sich hinter dem heimatlosen Bettler<lb/>
oder der verkommnen Dirne die Thür des Korrektionshauses schließt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1279"> Es soll hiermit gegen die öffentliche Meinung kein Tadel ausgesprochen<lb/>
werden. Es ist nicht möglich, daß diese Art von sittlich schwachsinnigen<lb/>
Menschen und die Behandlung, die sie erfordern, überall bekannt sei. Obgleich<lb/>
sie nach vielen taufenden zahlen, hat doch Gott sei Dank der größere Teil<lb/>
der deutschen Familien solche unglückliche Wesen noch nicht aufzuweisen. Aber<lb/>
die Zahl ist, besonders durch Verwahrlosung der schwachsinnigen Mädchen,<lb/>
in raschem Steigen begriffen. Denn wenn dieses arme, unglückliche Volk auch<lb/>
zu keiner nutzbringenden Arbeit fähig ist, eins kann es doch und wird es thun,<lb/>
wenn man es nicht davor hütet: es wird sich und sein Elend fortpflanzen.<lb/>
Aber wer weiß das? Wer achtet darauf? Wer bedenkt die Folgen, die solche<lb/>
Verwahrlosung für das einzelne arme Geschöpf wie für die Gesamtheit nach<lb/>
sich zieht? Beiden geschieht Unrecht, wenn auch der Gesellschaft, die es nicht<lb/>
anders haben will, vielleicht weniger als den Verwahrlosten selber. Denn was<lb/>
können diese dafür, daß sie in eine so rücksichtslose, auf ihre Vollkommenheit so<lb/>
eingebildete Gesellschaft hineingestellt werden?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1280" next="#ID_1281"> In einer norddeutschen Hafenstadt lebte ein Kind unordentlicher Eltern.<lb/>
Das Mädchen, das entgegen dem Sprichworte, wonach der Apfel nicht weit<lb/>
vom Stamme fällt, einen guten Charakter hatte, blieb bis zum fünfund¬<lb/>
zwanzigsten Lebensjahre von allen, die mit ihr zu thun hatten, unverstanden.<lb/>
Geistig beschränkt, wurde sie der Mutter unbequem, sie schickte sie in die Fabrik<lb/>
und auf den Tanzboden, bis sie der Prostitution verfiel. Die Folge war bald,<lb/>
daß sie zu Korrektionshast verurteilt wurde. In der Korrektionsanstalt ver¬<lb/>
stand man sie noch weniger, hielt ihre Beschränktheit und Ungeschicklichkeit<lb/>
das Mädchen konnte weder nähen, noch einen brauchbaren Strumpf stricken &#x2014;<lb/>
für Trotz, Faulheit und Schlechtigkeit und belegte sie mit schweren Strafen,<lb/>
schließlich mit einem halben Jahre Nachhaft, alles ohne jeden Erfolg. Ans<lb/>
dem Kvrrektionshause endlich entlassen, ging sie in ein freies Frauenasyl, wo<lb/>
sie sich noch heute befindet. Dort arbeitet sie nun seit mehr als zwei Jahren<lb/>
am Waschbottich, ist fleißig und zufrieden und von allen wohlgelitten. Sie</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0453] Warum solle» wir ins 'Gefängnis? Auf sich selbst, auf die eignen Füße gestellt, müssen solche Menschen untergehen. Wie man auch ihre Seelenverfassung nennen mag, ob man sie als moralischen Schwachsinn bezeichnet, oder ob man dafür nur das kalte Wort „Verbrechernatur" hat, „richtig" ist es mit diesen Leuten nicht. Aber im öffentlichen Leben beachtet man das nicht. Da werden alle, wenn sie nicht offenbar fürs Irrenhaus reif find, über einen Kamm geschoren, alle als gleich¬ wertig behandelt, und wenn sich schließlich herausstellt, daß einer unter dem Durchschnitt steht, dann ist er gewöhnlich bereits verbraucht und eine gebrochne Existenz. Daß aber alle gebrochnen Existenzen, alle vor der Zeit verbrauchten Menschen dem Gemeinwesen Kosten auferlegen, materielle und moralische, daran denkt man ebenfalls nicht eher, als bis sich hinter dem heimatlosen Bettler oder der verkommnen Dirne die Thür des Korrektionshauses schließt. Es soll hiermit gegen die öffentliche Meinung kein Tadel ausgesprochen werden. Es ist nicht möglich, daß diese Art von sittlich schwachsinnigen Menschen und die Behandlung, die sie erfordern, überall bekannt sei. Obgleich sie nach vielen taufenden zahlen, hat doch Gott sei Dank der größere Teil der deutschen Familien solche unglückliche Wesen noch nicht aufzuweisen. Aber die Zahl ist, besonders durch Verwahrlosung der schwachsinnigen Mädchen, in raschem Steigen begriffen. Denn wenn dieses arme, unglückliche Volk auch zu keiner nutzbringenden Arbeit fähig ist, eins kann es doch und wird es thun, wenn man es nicht davor hütet: es wird sich und sein Elend fortpflanzen. Aber wer weiß das? Wer achtet darauf? Wer bedenkt die Folgen, die solche Verwahrlosung für das einzelne arme Geschöpf wie für die Gesamtheit nach sich zieht? Beiden geschieht Unrecht, wenn auch der Gesellschaft, die es nicht anders haben will, vielleicht weniger als den Verwahrlosten selber. Denn was können diese dafür, daß sie in eine so rücksichtslose, auf ihre Vollkommenheit so eingebildete Gesellschaft hineingestellt werden? In einer norddeutschen Hafenstadt lebte ein Kind unordentlicher Eltern. Das Mädchen, das entgegen dem Sprichworte, wonach der Apfel nicht weit vom Stamme fällt, einen guten Charakter hatte, blieb bis zum fünfund¬ zwanzigsten Lebensjahre von allen, die mit ihr zu thun hatten, unverstanden. Geistig beschränkt, wurde sie der Mutter unbequem, sie schickte sie in die Fabrik und auf den Tanzboden, bis sie der Prostitution verfiel. Die Folge war bald, daß sie zu Korrektionshast verurteilt wurde. In der Korrektionsanstalt ver¬ stand man sie noch weniger, hielt ihre Beschränktheit und Ungeschicklichkeit das Mädchen konnte weder nähen, noch einen brauchbaren Strumpf stricken — für Trotz, Faulheit und Schlechtigkeit und belegte sie mit schweren Strafen, schließlich mit einem halben Jahre Nachhaft, alles ohne jeden Erfolg. Ans dem Kvrrektionshause endlich entlassen, ging sie in ein freies Frauenasyl, wo sie sich noch heute befindet. Dort arbeitet sie nun seit mehr als zwei Jahren am Waschbottich, ist fleißig und zufrieden und von allen wohlgelitten. Sie

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/453
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/453>, abgerufen am 01.09.2024.