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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Warum sollen wir ins Gefängnis?

Anfalle von Delirium einen Mordversuch auf seine Frau ausführt? Oder die
vornehme Dame, die zu Hause an allen Schätzen Überfluß hat, die aber
gleichwohl in dem Laden der Putzmacherin Blumen und Besatz und seidne
Bänder in ihren Taschen verschwinden läßt? Ist mit diesen und ähnlichen
offenbar geisteskranken Menschen die Klasse der Unzurechnungsfähigen erschöpft?
Oder haben wir unter unsern Mitmenschen etwa anch solche, die wir auf den
ersten Blick für zurechnungsfähig halten, die aber, wenn man genau zusieht,
an einem seelischen Gebrechen leiden, das sie zu Zeiten völlig direktionslos
macht? Kann mau wirklich alle uicht in Irrenhäuser eingeschlossenen Menschen
unter allen Umständen für zurechnungsfähig erklären? Wo hört die Zurech¬
nungsfähigkeit auf, und wo fängt die Unzurechnungsfähigkeit an? Was ver¬
stehen wir überhaupt unter dem Worte "zurechnungsfähig" ?

Zurechnungsfähig ist nach unsrer Auffassung der, der beurteilen kann, ob
seine Handlungen strafbar sind oder nicht. Wer zurechnungsfähig ist, der ist
,anch für seine Handlungen der Gesellschaft gegenüber verantwortlich. Begeht
er eine Handlung, die gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze ver¬
stößt, so trifft ihn die auf die Handlung gesetzte Strafe. Für unzurechnungs¬
fähig wird der erklärt, der nicht imstande ist, zu beurteilen, ob seine Handlungen
stmsbar sind oder nicht.

Welches ist nnn aber der Maßstab, woran wir erkennen, ob unsre Hand¬
lungen strafbar sind oder nicht? Das Gewissen! fagt der eine. Das göttliche
Gebot, sagt der andre. Und wer weder ein Gewissen, noch ein göttliches
Gebot kennt, sagt: die Rücksicht auf die allgemeine Wohlfahrt der Menschheit
sagt uns, was wir zu thun und zu lassen haben. Nun wissen wir aber,
Christen wie Nichtchristen, daß man ein gutes Gewissen haben, daß man das
Wohl der Menschheit ernstlich gewollt haben und doch, ohne es zu wissen, mit
dem Gesetz in Streit geraten kann. Man müßte also wohl, um seine Hand¬
lungen beurteilen zu können, alle Gesetze kennen, die es im Staate giebt? Nein,
das ist unmöglich. Aber es ist ja auch nicht nötig. Denn die wichtigsten
Gesetze, die das Leben, die Gesundheit, das Eigentum des Nächsten schützen
sollen, sind hinlänglich bekannt! sie werden, ganz abgesehen davon, daß die
gerichtlichen Urteile durch die Zeitungen veröffentlicht werden, so viel von
den Leuten besprochen, gehen so oft von Mund zu Munde, daß sie selbst der
ungelehrteste Mensch kennen muß. Kennt er sie aber, d. h. hat er sie im
Kopfe, so nimmt er sie auch sozusagen in sein Staatsbürgergewissen auf, er
merkt sie sich und hütet sich, dagegen zu verstoßen. Da aber -- so folgert
man -- die Gesetze ihrem Sinne nach allen bekannt sind, so sind auch alle
un Übertretnngsfalle verantwortlich und strafbar. Offen zu Tage liegende
Unbekanntschaft mit den Gesetzen kaun wohl als Milderungsgrund gelten, aber
eine Freisprechung darf für gewöhnlich mir dann erfolgen, wenn der Arzt den
Angeklagten für geistesgestört oder für unzurechnungsfähig erklärt.


Warum sollen wir ins Gefängnis?

Anfalle von Delirium einen Mordversuch auf seine Frau ausführt? Oder die
vornehme Dame, die zu Hause an allen Schätzen Überfluß hat, die aber
gleichwohl in dem Laden der Putzmacherin Blumen und Besatz und seidne
Bänder in ihren Taschen verschwinden läßt? Ist mit diesen und ähnlichen
offenbar geisteskranken Menschen die Klasse der Unzurechnungsfähigen erschöpft?
Oder haben wir unter unsern Mitmenschen etwa anch solche, die wir auf den
ersten Blick für zurechnungsfähig halten, die aber, wenn man genau zusieht,
an einem seelischen Gebrechen leiden, das sie zu Zeiten völlig direktionslos
macht? Kann mau wirklich alle uicht in Irrenhäuser eingeschlossenen Menschen
unter allen Umständen für zurechnungsfähig erklären? Wo hört die Zurech¬
nungsfähigkeit auf, und wo fängt die Unzurechnungsfähigkeit an? Was ver¬
stehen wir überhaupt unter dem Worte „zurechnungsfähig" ?

Zurechnungsfähig ist nach unsrer Auffassung der, der beurteilen kann, ob
seine Handlungen strafbar sind oder nicht. Wer zurechnungsfähig ist, der ist
,anch für seine Handlungen der Gesellschaft gegenüber verantwortlich. Begeht
er eine Handlung, die gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze ver¬
stößt, so trifft ihn die auf die Handlung gesetzte Strafe. Für unzurechnungs¬
fähig wird der erklärt, der nicht imstande ist, zu beurteilen, ob seine Handlungen
stmsbar sind oder nicht.

Welches ist nnn aber der Maßstab, woran wir erkennen, ob unsre Hand¬
lungen strafbar sind oder nicht? Das Gewissen! fagt der eine. Das göttliche
Gebot, sagt der andre. Und wer weder ein Gewissen, noch ein göttliches
Gebot kennt, sagt: die Rücksicht auf die allgemeine Wohlfahrt der Menschheit
sagt uns, was wir zu thun und zu lassen haben. Nun wissen wir aber,
Christen wie Nichtchristen, daß man ein gutes Gewissen haben, daß man das
Wohl der Menschheit ernstlich gewollt haben und doch, ohne es zu wissen, mit
dem Gesetz in Streit geraten kann. Man müßte also wohl, um seine Hand¬
lungen beurteilen zu können, alle Gesetze kennen, die es im Staate giebt? Nein,
das ist unmöglich. Aber es ist ja auch nicht nötig. Denn die wichtigsten
Gesetze, die das Leben, die Gesundheit, das Eigentum des Nächsten schützen
sollen, sind hinlänglich bekannt! sie werden, ganz abgesehen davon, daß die
gerichtlichen Urteile durch die Zeitungen veröffentlicht werden, so viel von
den Leuten besprochen, gehen so oft von Mund zu Munde, daß sie selbst der
ungelehrteste Mensch kennen muß. Kennt er sie aber, d. h. hat er sie im
Kopfe, so nimmt er sie auch sozusagen in sein Staatsbürgergewissen auf, er
merkt sie sich und hütet sich, dagegen zu verstoßen. Da aber — so folgert
man — die Gesetze ihrem Sinne nach allen bekannt sind, so sind auch alle
un Übertretnngsfalle verantwortlich und strafbar. Offen zu Tage liegende
Unbekanntschaft mit den Gesetzen kaun wohl als Milderungsgrund gelten, aber
eine Freisprechung darf für gewöhnlich mir dann erfolgen, wenn der Arzt den
Angeklagten für geistesgestört oder für unzurechnungsfähig erklärt.


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[0451] Warum sollen wir ins Gefängnis? Anfalle von Delirium einen Mordversuch auf seine Frau ausführt? Oder die vornehme Dame, die zu Hause an allen Schätzen Überfluß hat, die aber gleichwohl in dem Laden der Putzmacherin Blumen und Besatz und seidne Bänder in ihren Taschen verschwinden läßt? Ist mit diesen und ähnlichen offenbar geisteskranken Menschen die Klasse der Unzurechnungsfähigen erschöpft? Oder haben wir unter unsern Mitmenschen etwa anch solche, die wir auf den ersten Blick für zurechnungsfähig halten, die aber, wenn man genau zusieht, an einem seelischen Gebrechen leiden, das sie zu Zeiten völlig direktionslos macht? Kann mau wirklich alle uicht in Irrenhäuser eingeschlossenen Menschen unter allen Umständen für zurechnungsfähig erklären? Wo hört die Zurech¬ nungsfähigkeit auf, und wo fängt die Unzurechnungsfähigkeit an? Was ver¬ stehen wir überhaupt unter dem Worte „zurechnungsfähig" ? Zurechnungsfähig ist nach unsrer Auffassung der, der beurteilen kann, ob seine Handlungen strafbar sind oder nicht. Wer zurechnungsfähig ist, der ist ,anch für seine Handlungen der Gesellschaft gegenüber verantwortlich. Begeht er eine Handlung, die gegen die von der Gesellschaft aufgestellten Gesetze ver¬ stößt, so trifft ihn die auf die Handlung gesetzte Strafe. Für unzurechnungs¬ fähig wird der erklärt, der nicht imstande ist, zu beurteilen, ob seine Handlungen stmsbar sind oder nicht. Welches ist nnn aber der Maßstab, woran wir erkennen, ob unsre Hand¬ lungen strafbar sind oder nicht? Das Gewissen! fagt der eine. Das göttliche Gebot, sagt der andre. Und wer weder ein Gewissen, noch ein göttliches Gebot kennt, sagt: die Rücksicht auf die allgemeine Wohlfahrt der Menschheit sagt uns, was wir zu thun und zu lassen haben. Nun wissen wir aber, Christen wie Nichtchristen, daß man ein gutes Gewissen haben, daß man das Wohl der Menschheit ernstlich gewollt haben und doch, ohne es zu wissen, mit dem Gesetz in Streit geraten kann. Man müßte also wohl, um seine Hand¬ lungen beurteilen zu können, alle Gesetze kennen, die es im Staate giebt? Nein, das ist unmöglich. Aber es ist ja auch nicht nötig. Denn die wichtigsten Gesetze, die das Leben, die Gesundheit, das Eigentum des Nächsten schützen sollen, sind hinlänglich bekannt! sie werden, ganz abgesehen davon, daß die gerichtlichen Urteile durch die Zeitungen veröffentlicht werden, so viel von den Leuten besprochen, gehen so oft von Mund zu Munde, daß sie selbst der ungelehrteste Mensch kennen muß. Kennt er sie aber, d. h. hat er sie im Kopfe, so nimmt er sie auch sozusagen in sein Staatsbürgergewissen auf, er merkt sie sich und hütet sich, dagegen zu verstoßen. Da aber — so folgert man — die Gesetze ihrem Sinne nach allen bekannt sind, so sind auch alle un Übertretnngsfalle verantwortlich und strafbar. Offen zu Tage liegende Unbekanntschaft mit den Gesetzen kaun wohl als Milderungsgrund gelten, aber eine Freisprechung darf für gewöhnlich mir dann erfolgen, wenn der Arzt den Angeklagten für geistesgestört oder für unzurechnungsfähig erklärt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/451>, abgerufen am 01.09.2024.