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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Gin Preisausschreiben

sind noch Bauernstämme) liefern, und zwar so, daß das Volk selbst seine Freude
daran Hütte, ohne daß der Gebildete die Kunst vermißte. Bisher hat sie das
nur zum Teil gethan, aber in Jeremias Gotthelf, Otto Ludwig, Klaus Groth.
Reuter, Anzengruber, Rosegger sind die großen Muster vorhanden.

Ein weiterer Teil der Erzählungen warf sich dann geradeswegs auf die
sozialen Fragen, wozu eine Wendung des Preisausschreibens aufgefordert hatte.
Ihre Zahl ist nicht genau zu bestimmen, da sehr viele Verfasser ihren Arbeiten,
die sich im Kern von der gewöhnlichen belletristischen Dutzendware nicht unter¬
schieden, sozusagen ein soziales Mäntelchen umgehängt oder dem alten Rock
irgendwo einen sozialen Flicklappen aufgesetzt hatten. Ich fand Erzählungen
gegen den Streik, gegen die Politisirerei und das Wirtshausleben der Ar¬
beiter, gegen das zu frühe Heiraten, gegen die Verführung der Töchter des
Volks, gegen die Verdrängung des seßhaften Bauernstandes durch die städtische
Kultur, gegen die Elterneitelkeit und das Protzentum überhaupt, für die Ge¬
wöhnung der Töchter besserer Stände an wirkliche Arbeit und die Herabstim¬
mung der Lebensansprüche im allgemeinen, für eine vernünftigere Jugend¬
erziehung, namentlich auch zur Handfertigkeit -- die Tendenz trat mehr oder
minder deutlich hervor, und die Handlung, auf die es bei einer Volkserzählung
zunächst ankommt, war mehr oder minder unbedeutend. Die elendesten Er¬
zählungen waren leider die gegen die Sozialdemokratie gerichteten; da wurde
regelmäßig ein braver Arbeiter von den verruchten Agitatoren mit Hilfe des
Branntweins verführt, aber dann durch seine wackere Frau mit Hilfe eines
edeln Menschenfreundes, der oft der Fabrikherr selber war, gerettet; die sozial-
demokratische Gesinnung verendete unter dicht herabsausenden Gemeinplätzen.
Manche der Kämpen für Ordnung und Sitte zeigten eine unglaubliche Be¬
schränktheit, auch keine Ahnung, daß die soziale Bewegung unsrer Zeit natur¬
gemäß erwachsen ist und, wie sie trotz aller sozialdemokratischen Mundfertig¬
keit nicht von Phrasen lebt, auch nicht mit Phrasen totzumachen ist. Glück¬
licherweise waren aber doch auch einige Einsendungen da, die, ohne darauf
auszugehen, etwas tendenziös zu empfehlen oder zu bekämpfen, soziale Ver¬
hältnisse anschaulich darstellten und klare Lebensanschauungen der Verfasser ver¬
rieten, also wohl imstande waren, in sozialem Sinne günstig zu wirken. Ich
habe etwa ein halbes Dutzend gezählt; das ist nicht viel, aber doch etwas.
Anschluß hierau kann ich gleich ein weiteres halbes Dutzend Arbeiten er¬
wähnen, die nicht Erzählungen, sondern offenbar Selbstbiographien oder Stücke
von solchen waren und meist schilderten, wie sich jemand aus sehr engen Ver¬
hältnissen emporarbeitet. Sie konnten für den Preis nicht in Betracht kommen,
da sie schriftstellerisch meist nicht sehr geschickt, auch keine Erzählungen waren,
aber an wirklich fesselnden Inhalt übertrafen sie unbedingt die Mehrzahl der
Erzählungen, und es wäre eine hübsche Idee, dergleichen Arbeiten aus den
verschiedensten Ständen und deu verschiedensten Gegenden unsers Vaterlandes


Gin Preisausschreiben

sind noch Bauernstämme) liefern, und zwar so, daß das Volk selbst seine Freude
daran Hütte, ohne daß der Gebildete die Kunst vermißte. Bisher hat sie das
nur zum Teil gethan, aber in Jeremias Gotthelf, Otto Ludwig, Klaus Groth.
Reuter, Anzengruber, Rosegger sind die großen Muster vorhanden.

Ein weiterer Teil der Erzählungen warf sich dann geradeswegs auf die
sozialen Fragen, wozu eine Wendung des Preisausschreibens aufgefordert hatte.
Ihre Zahl ist nicht genau zu bestimmen, da sehr viele Verfasser ihren Arbeiten,
die sich im Kern von der gewöhnlichen belletristischen Dutzendware nicht unter¬
schieden, sozusagen ein soziales Mäntelchen umgehängt oder dem alten Rock
irgendwo einen sozialen Flicklappen aufgesetzt hatten. Ich fand Erzählungen
gegen den Streik, gegen die Politisirerei und das Wirtshausleben der Ar¬
beiter, gegen das zu frühe Heiraten, gegen die Verführung der Töchter des
Volks, gegen die Verdrängung des seßhaften Bauernstandes durch die städtische
Kultur, gegen die Elterneitelkeit und das Protzentum überhaupt, für die Ge¬
wöhnung der Töchter besserer Stände an wirkliche Arbeit und die Herabstim¬
mung der Lebensansprüche im allgemeinen, für eine vernünftigere Jugend¬
erziehung, namentlich auch zur Handfertigkeit — die Tendenz trat mehr oder
minder deutlich hervor, und die Handlung, auf die es bei einer Volkserzählung
zunächst ankommt, war mehr oder minder unbedeutend. Die elendesten Er¬
zählungen waren leider die gegen die Sozialdemokratie gerichteten; da wurde
regelmäßig ein braver Arbeiter von den verruchten Agitatoren mit Hilfe des
Branntweins verführt, aber dann durch seine wackere Frau mit Hilfe eines
edeln Menschenfreundes, der oft der Fabrikherr selber war, gerettet; die sozial-
demokratische Gesinnung verendete unter dicht herabsausenden Gemeinplätzen.
Manche der Kämpen für Ordnung und Sitte zeigten eine unglaubliche Be¬
schränktheit, auch keine Ahnung, daß die soziale Bewegung unsrer Zeit natur¬
gemäß erwachsen ist und, wie sie trotz aller sozialdemokratischen Mundfertig¬
keit nicht von Phrasen lebt, auch nicht mit Phrasen totzumachen ist. Glück¬
licherweise waren aber doch auch einige Einsendungen da, die, ohne darauf
auszugehen, etwas tendenziös zu empfehlen oder zu bekämpfen, soziale Ver¬
hältnisse anschaulich darstellten und klare Lebensanschauungen der Verfasser ver¬
rieten, also wohl imstande waren, in sozialem Sinne günstig zu wirken. Ich
habe etwa ein halbes Dutzend gezählt; das ist nicht viel, aber doch etwas.
Anschluß hierau kann ich gleich ein weiteres halbes Dutzend Arbeiten er¬
wähnen, die nicht Erzählungen, sondern offenbar Selbstbiographien oder Stücke
von solchen waren und meist schilderten, wie sich jemand aus sehr engen Ver¬
hältnissen emporarbeitet. Sie konnten für den Preis nicht in Betracht kommen,
da sie schriftstellerisch meist nicht sehr geschickt, auch keine Erzählungen waren,
aber an wirklich fesselnden Inhalt übertrafen sie unbedingt die Mehrzahl der
Erzählungen, und es wäre eine hübsche Idee, dergleichen Arbeiten aus den
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[0043] Gin Preisausschreiben sind noch Bauernstämme) liefern, und zwar so, daß das Volk selbst seine Freude daran Hütte, ohne daß der Gebildete die Kunst vermißte. Bisher hat sie das nur zum Teil gethan, aber in Jeremias Gotthelf, Otto Ludwig, Klaus Groth. Reuter, Anzengruber, Rosegger sind die großen Muster vorhanden. Ein weiterer Teil der Erzählungen warf sich dann geradeswegs auf die sozialen Fragen, wozu eine Wendung des Preisausschreibens aufgefordert hatte. Ihre Zahl ist nicht genau zu bestimmen, da sehr viele Verfasser ihren Arbeiten, die sich im Kern von der gewöhnlichen belletristischen Dutzendware nicht unter¬ schieden, sozusagen ein soziales Mäntelchen umgehängt oder dem alten Rock irgendwo einen sozialen Flicklappen aufgesetzt hatten. Ich fand Erzählungen gegen den Streik, gegen die Politisirerei und das Wirtshausleben der Ar¬ beiter, gegen das zu frühe Heiraten, gegen die Verführung der Töchter des Volks, gegen die Verdrängung des seßhaften Bauernstandes durch die städtische Kultur, gegen die Elterneitelkeit und das Protzentum überhaupt, für die Ge¬ wöhnung der Töchter besserer Stände an wirkliche Arbeit und die Herabstim¬ mung der Lebensansprüche im allgemeinen, für eine vernünftigere Jugend¬ erziehung, namentlich auch zur Handfertigkeit — die Tendenz trat mehr oder minder deutlich hervor, und die Handlung, auf die es bei einer Volkserzählung zunächst ankommt, war mehr oder minder unbedeutend. Die elendesten Er¬ zählungen waren leider die gegen die Sozialdemokratie gerichteten; da wurde regelmäßig ein braver Arbeiter von den verruchten Agitatoren mit Hilfe des Branntweins verführt, aber dann durch seine wackere Frau mit Hilfe eines edeln Menschenfreundes, der oft der Fabrikherr selber war, gerettet; die sozial- demokratische Gesinnung verendete unter dicht herabsausenden Gemeinplätzen. Manche der Kämpen für Ordnung und Sitte zeigten eine unglaubliche Be¬ schränktheit, auch keine Ahnung, daß die soziale Bewegung unsrer Zeit natur¬ gemäß erwachsen ist und, wie sie trotz aller sozialdemokratischen Mundfertig¬ keit nicht von Phrasen lebt, auch nicht mit Phrasen totzumachen ist. Glück¬ licherweise waren aber doch auch einige Einsendungen da, die, ohne darauf auszugehen, etwas tendenziös zu empfehlen oder zu bekämpfen, soziale Ver¬ hältnisse anschaulich darstellten und klare Lebensanschauungen der Verfasser ver¬ rieten, also wohl imstande waren, in sozialem Sinne günstig zu wirken. Ich habe etwa ein halbes Dutzend gezählt; das ist nicht viel, aber doch etwas. Anschluß hierau kann ich gleich ein weiteres halbes Dutzend Arbeiten er¬ wähnen, die nicht Erzählungen, sondern offenbar Selbstbiographien oder Stücke von solchen waren und meist schilderten, wie sich jemand aus sehr engen Ver¬ hältnissen emporarbeitet. Sie konnten für den Preis nicht in Betracht kommen, da sie schriftstellerisch meist nicht sehr geschickt, auch keine Erzählungen waren, aber an wirklich fesselnden Inhalt übertrafen sie unbedingt die Mehrzahl der Erzählungen, und es wäre eine hübsche Idee, dergleichen Arbeiten aus den verschiedensten Ständen und deu verschiedensten Gegenden unsers Vaterlandes

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/43>, abgerufen am 01.09.2024.