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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Allen und die Jungen

Naturalisten waren und blieben Zolas bekannte theoretische und litteratur¬
geschichtliche Aufsätze maßgebend.

Ich habe den letzten Sturm und Drang, wenn auch nicht gerade mit¬
gemacht, doch aus allernächster Nähe beobachten können. Es war im Jahre
188ö. als sich in Leipzig eine kleine Abzweigung des Berliner jüngsten Deutsch¬
lands niederließ, angezogen hauptsächlich von einem dortigen Verlage, der die
Werke der meisten Stürmer und Dränger herausgegeben und die ganze Be¬
wegung gleichsam getragen hat, also sür das jüngste Deutschland das war,
was Hoffmann und Campe für das junge. Dort in Leipzig bin ich mit
einige" Jüngstdeutschen bekannt und durch sie über die "Interna" der gauzeu
Bewegung unterrichtet worden. Es ist richtig, das jüngste Dentschland hatte
etwas von einer Vvhcnne, es lebte in jener Welt der Kellncriiinenkneipen, in
der seine Romane so oft spielen, aber es war darum nichts weniger als durch¬
gängig verlottert und verkommen -- obwohl sich natürlich einzelne verkommne
Subjekte fanden ^, es trug in die Kneipen, in die eS vor allem sein Haß
gegen die Konvention trieb, die sozialen und philosophischen Probleme mit
hinein, die es bewegten, und sicherlich ist an tausend andern deutschen
Stammtischen mehr "gezotet" worden, als an denen der Jüngstdeutschen, so
weit sich diese mit den geschlechtlichen Verhältnissen beschäftigten. Nein, ge¬
wöhnliche Kneipenhelden waren die Stürmer und Dränger nicht und ebenso¬
wenig Don Juans, wenn ich auch für ihre Tugend meine Hand nicht ins
Feuer legen will; sie haben fast alle tüchtig gearbeitet, wenn auch vielleicht
nicht genug nu sich selber, und haben sich vor allein große Mühe gegeben,
ihre Zeit zu verstehe". Daß es trotzdem viel bedenkliches gab und wiederum
in einzelnen das Gebahren der jungen Dichter der komische" Wirkung nicht
entbehrte, braucht nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden, aber, man darf
sich dadurch über den Ernst der ganzen Bewegung nicht täuschen.

Der bedeutendste jener Leipziger Jüngstdeutsche" war Hermann Conradi
(geb. 13l>2 zu Jeßnitz in Anhalt, geht. 1890 in Würzburg)', Mitherausgeber
der "Modernen Dichtercharaktere," Verfasser der "Lieder eines Sünders" und
der Romane "Phrasen" und "Adam Mensch." Conradi war der richtige
Typus eines Stürmers und Drängers, dem keine Entwicklung beschieden ist;
man kann also besonders die Schwächen des jungen Geschlechts an ihm sehr
gut stildire", wie die des erste" Sturms und Dranges an Lenz, man wird
aber auch bei ihm einen Kern durchaus berechtigten Strebens und a"ßerdcm
anch entschieden Talent finde". Eine tiefe Sehnsucht nach Schönheit und
freier Luft mischt sich wunderbar mit der Freude am Häßlichen und Brutalen,
ein lebhafter Drang, die Zeiterscheinungen und geistigen Bewegungen zu ver¬
stehe", zu erklären, mit leerer Prahlerei, die sogar das Brüsten mit den Titeln
halb- oder nichtgelesener Werte nicht verschmäht, Unklarheit und Unwissenheit
rin instinktiver Ahnung des Nichtigen, eine künstlich aufgestachelte, ungesunde


Die Allen und die Jungen

Naturalisten waren und blieben Zolas bekannte theoretische und litteratur¬
geschichtliche Aufsätze maßgebend.

Ich habe den letzten Sturm und Drang, wenn auch nicht gerade mit¬
gemacht, doch aus allernächster Nähe beobachten können. Es war im Jahre
188ö. als sich in Leipzig eine kleine Abzweigung des Berliner jüngsten Deutsch¬
lands niederließ, angezogen hauptsächlich von einem dortigen Verlage, der die
Werke der meisten Stürmer und Dränger herausgegeben und die ganze Be¬
wegung gleichsam getragen hat, also sür das jüngste Deutschland das war,
was Hoffmann und Campe für das junge. Dort in Leipzig bin ich mit
einige» Jüngstdeutschen bekannt und durch sie über die „Interna" der gauzeu
Bewegung unterrichtet worden. Es ist richtig, das jüngste Dentschland hatte
etwas von einer Vvhcnne, es lebte in jener Welt der Kellncriiinenkneipen, in
der seine Romane so oft spielen, aber es war darum nichts weniger als durch¬
gängig verlottert und verkommen — obwohl sich natürlich einzelne verkommne
Subjekte fanden ^, es trug in die Kneipen, in die eS vor allem sein Haß
gegen die Konvention trieb, die sozialen und philosophischen Probleme mit
hinein, die es bewegten, und sicherlich ist an tausend andern deutschen
Stammtischen mehr „gezotet" worden, als an denen der Jüngstdeutschen, so
weit sich diese mit den geschlechtlichen Verhältnissen beschäftigten. Nein, ge¬
wöhnliche Kneipenhelden waren die Stürmer und Dränger nicht und ebenso¬
wenig Don Juans, wenn ich auch für ihre Tugend meine Hand nicht ins
Feuer legen will; sie haben fast alle tüchtig gearbeitet, wenn auch vielleicht
nicht genug nu sich selber, und haben sich vor allein große Mühe gegeben,
ihre Zeit zu verstehe». Daß es trotzdem viel bedenkliches gab und wiederum
in einzelnen das Gebahren der jungen Dichter der komische» Wirkung nicht
entbehrte, braucht nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden, aber, man darf
sich dadurch über den Ernst der ganzen Bewegung nicht täuschen.

Der bedeutendste jener Leipziger Jüngstdeutsche» war Hermann Conradi
(geb. 13l>2 zu Jeßnitz in Anhalt, geht. 1890 in Würzburg)', Mitherausgeber
der „Modernen Dichtercharaktere," Verfasser der „Lieder eines Sünders" und
der Romane „Phrasen" und „Adam Mensch." Conradi war der richtige
Typus eines Stürmers und Drängers, dem keine Entwicklung beschieden ist;
man kann also besonders die Schwächen des jungen Geschlechts an ihm sehr
gut stildire», wie die des erste» Sturms und Dranges an Lenz, man wird
aber auch bei ihm einen Kern durchaus berechtigten Strebens und aȧerdcm
anch entschieden Talent finde». Eine tiefe Sehnsucht nach Schönheit und
freier Luft mischt sich wunderbar mit der Freude am Häßlichen und Brutalen,
ein lebhafter Drang, die Zeiterscheinungen und geistigen Bewegungen zu ver¬
stehe», zu erklären, mit leerer Prahlerei, die sogar das Brüsten mit den Titeln
halb- oder nichtgelesener Werte nicht verschmäht, Unklarheit und Unwissenheit
rin instinktiver Ahnung des Nichtigen, eine künstlich aufgestachelte, ungesunde


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[0429] Die Allen und die Jungen Naturalisten waren und blieben Zolas bekannte theoretische und litteratur¬ geschichtliche Aufsätze maßgebend. Ich habe den letzten Sturm und Drang, wenn auch nicht gerade mit¬ gemacht, doch aus allernächster Nähe beobachten können. Es war im Jahre 188ö. als sich in Leipzig eine kleine Abzweigung des Berliner jüngsten Deutsch¬ lands niederließ, angezogen hauptsächlich von einem dortigen Verlage, der die Werke der meisten Stürmer und Dränger herausgegeben und die ganze Be¬ wegung gleichsam getragen hat, also sür das jüngste Deutschland das war, was Hoffmann und Campe für das junge. Dort in Leipzig bin ich mit einige» Jüngstdeutschen bekannt und durch sie über die „Interna" der gauzeu Bewegung unterrichtet worden. Es ist richtig, das jüngste Dentschland hatte etwas von einer Vvhcnne, es lebte in jener Welt der Kellncriiinenkneipen, in der seine Romane so oft spielen, aber es war darum nichts weniger als durch¬ gängig verlottert und verkommen — obwohl sich natürlich einzelne verkommne Subjekte fanden ^, es trug in die Kneipen, in die eS vor allem sein Haß gegen die Konvention trieb, die sozialen und philosophischen Probleme mit hinein, die es bewegten, und sicherlich ist an tausend andern deutschen Stammtischen mehr „gezotet" worden, als an denen der Jüngstdeutschen, so weit sich diese mit den geschlechtlichen Verhältnissen beschäftigten. Nein, ge¬ wöhnliche Kneipenhelden waren die Stürmer und Dränger nicht und ebenso¬ wenig Don Juans, wenn ich auch für ihre Tugend meine Hand nicht ins Feuer legen will; sie haben fast alle tüchtig gearbeitet, wenn auch vielleicht nicht genug nu sich selber, und haben sich vor allein große Mühe gegeben, ihre Zeit zu verstehe». Daß es trotzdem viel bedenkliches gab und wiederum in einzelnen das Gebahren der jungen Dichter der komische» Wirkung nicht entbehrte, braucht nicht ausdrücklich hervorgehoben zu werden, aber, man darf sich dadurch über den Ernst der ganzen Bewegung nicht täuschen. Der bedeutendste jener Leipziger Jüngstdeutsche» war Hermann Conradi (geb. 13l>2 zu Jeßnitz in Anhalt, geht. 1890 in Würzburg)', Mitherausgeber der „Modernen Dichtercharaktere," Verfasser der „Lieder eines Sünders" und der Romane „Phrasen" und „Adam Mensch." Conradi war der richtige Typus eines Stürmers und Drängers, dem keine Entwicklung beschieden ist; man kann also besonders die Schwächen des jungen Geschlechts an ihm sehr gut stildire», wie die des erste» Sturms und Dranges an Lenz, man wird aber auch bei ihm einen Kern durchaus berechtigten Strebens und a»ßerdcm anch entschieden Talent finde». Eine tiefe Sehnsucht nach Schönheit und freier Luft mischt sich wunderbar mit der Freude am Häßlichen und Brutalen, ein lebhafter Drang, die Zeiterscheinungen und geistigen Bewegungen zu ver¬ stehe», zu erklären, mit leerer Prahlerei, die sogar das Brüsten mit den Titeln halb- oder nichtgelesener Werte nicht verschmäht, Unklarheit und Unwissenheit rin instinktiver Ahnung des Nichtigen, eine künstlich aufgestachelte, ungesunde

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/429>, abgerufen am 01.09.2024.