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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alte" und die Jungen

Leute, die heimlich Wein trinken und öffentlich Wasser predigen. Daß die
brutale Wahrheit und nackte Sinnlichkeit der Jungen gegen die Verschleierung
und die Lüsternheit gewisser Alten ein Fortschritt war, wird sich schwerlich
bestreiten lassen.

Das allgemeine Evangelium, ans das die Jüngsten schworen, hieß wie
immer Natur und Wahrheit, nnr daß man unter Wahrheit dieses Mal
die Wirklichkeit verstand; im einzelnen gingen die Anschauungen himmelweit
auseinander. Zur Bezeichnung des ästhetischen Standpunkts der neuen Schule
wurden die beiden Begriffe Realismus und Naturalismus ohne viel Unterschied
gebraucht, und während des Sturms und Dranges gingen auch realistische
und naturalistische Bestrebungen mit alten idealistischen wirr durcheinander.
Vielleicht hat sich kaum eiuer der Jüngsten den Unterschied von Realismus
und Naturalismus völlig klar gemacht und ebensowenig einer ihrer Kritiker;
er ist ja auch keineswegs so leicht zu geben. Auch ich will mich hier nicht
auf weitläufige Untersuchungen einlassen, sondern einfach eine praktische, der
geschichtlichen Entwicklung entsprechende Erklärung versuchen. Nehmen wir
Zolas Satz "Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Tempera¬
ment" als richtig an (und er ist, wenn auch zu allgemein, doch nicht falsch
und vor allem bündig), so legt der Realismus auf das Temperament (die
künstlerische Persönlichkeit), der Naturalismus auf die Natur das größere
Gewicht, der Realist verzichtet nicht auf seine Künstlerrechte, das Kompomren,
Abbreviren usw., wenn er auch nur dem Leben entnommncs Material ver¬
wendet, der Naturalist kennt keine Rechte, sondern nur Pflichten, das realistische
Kunstwerk begnügt sich mit der Lebenswahrheit, wenn man will, kann man
anch sagen, mit dem Schein der Wirklichkeit, das naturalistische will wie die
Wirklichkeit, wie die Natur selbst wirken. Ob es das kann, ist eine Frage,
die uus hier nichts angeht; in der Praxis läuft die Sache im allgemeine"
darauf Humus, daß der Naturalist folgerichtiger ist als der Realist und nicht
bloß wirkliches Leben dem Gehalt nach, sondern das Leben mit allen Drum
und Dran darstellt, genauer: durch das Drum und Dran das Leben. Ich
weiß wohl, diese Auseinandersetzung ist oberflächlich, aber hier genügt sie, da
sich der eigentliche Sturm und Drang auf ästhetische Shsteme wohlweislich
nicht einließ, sondern seine Programme, an denen es nicht fehlte, in der Haupt¬
sache aus Phrasen bestanden, hinter denen allerdings oft genug ernste Em-
pfindung, ja Begeisterung steckte. Erst gegen Ende der achtziger Jahre tauchen
ernstzunehmende ästhetische Schriften der Jüngstdeutschen auf und setzen sich
dann in unser Jahrzehnt fort; ich nenne von Wilhelm Bölsche: "Die natur¬
wissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" (1887), von Edgar Steiger: "Der
Kampf um die neue Dichtung" (1889), von Arno Holz: "Die Kunst, ihr Wesen
und ihre Gesetze" <I. 1890, II. 1892), von Leo Berg: "Der Naturalismus"
(1892) und die Schriften Ola Hanssvns. Für die Mehrzahl auch der deutschen


Die Alte» und die Jungen

Leute, die heimlich Wein trinken und öffentlich Wasser predigen. Daß die
brutale Wahrheit und nackte Sinnlichkeit der Jungen gegen die Verschleierung
und die Lüsternheit gewisser Alten ein Fortschritt war, wird sich schwerlich
bestreiten lassen.

Das allgemeine Evangelium, ans das die Jüngsten schworen, hieß wie
immer Natur und Wahrheit, nnr daß man unter Wahrheit dieses Mal
die Wirklichkeit verstand; im einzelnen gingen die Anschauungen himmelweit
auseinander. Zur Bezeichnung des ästhetischen Standpunkts der neuen Schule
wurden die beiden Begriffe Realismus und Naturalismus ohne viel Unterschied
gebraucht, und während des Sturms und Dranges gingen auch realistische
und naturalistische Bestrebungen mit alten idealistischen wirr durcheinander.
Vielleicht hat sich kaum eiuer der Jüngsten den Unterschied von Realismus
und Naturalismus völlig klar gemacht und ebensowenig einer ihrer Kritiker;
er ist ja auch keineswegs so leicht zu geben. Auch ich will mich hier nicht
auf weitläufige Untersuchungen einlassen, sondern einfach eine praktische, der
geschichtlichen Entwicklung entsprechende Erklärung versuchen. Nehmen wir
Zolas Satz „Ein Kunstwerk ist ein Stück Natur, gesehen durch ein Tempera¬
ment" als richtig an (und er ist, wenn auch zu allgemein, doch nicht falsch
und vor allem bündig), so legt der Realismus auf das Temperament (die
künstlerische Persönlichkeit), der Naturalismus auf die Natur das größere
Gewicht, der Realist verzichtet nicht auf seine Künstlerrechte, das Kompomren,
Abbreviren usw., wenn er auch nur dem Leben entnommncs Material ver¬
wendet, der Naturalist kennt keine Rechte, sondern nur Pflichten, das realistische
Kunstwerk begnügt sich mit der Lebenswahrheit, wenn man will, kann man
anch sagen, mit dem Schein der Wirklichkeit, das naturalistische will wie die
Wirklichkeit, wie die Natur selbst wirken. Ob es das kann, ist eine Frage,
die uus hier nichts angeht; in der Praxis läuft die Sache im allgemeine»
darauf Humus, daß der Naturalist folgerichtiger ist als der Realist und nicht
bloß wirkliches Leben dem Gehalt nach, sondern das Leben mit allen Drum
und Dran darstellt, genauer: durch das Drum und Dran das Leben. Ich
weiß wohl, diese Auseinandersetzung ist oberflächlich, aber hier genügt sie, da
sich der eigentliche Sturm und Drang auf ästhetische Shsteme wohlweislich
nicht einließ, sondern seine Programme, an denen es nicht fehlte, in der Haupt¬
sache aus Phrasen bestanden, hinter denen allerdings oft genug ernste Em-
pfindung, ja Begeisterung steckte. Erst gegen Ende der achtziger Jahre tauchen
ernstzunehmende ästhetische Schriften der Jüngstdeutschen auf und setzen sich
dann in unser Jahrzehnt fort; ich nenne von Wilhelm Bölsche: „Die natur¬
wissenschaftlichen Grundlagen der Poesie" (1887), von Edgar Steiger: „Der
Kampf um die neue Dichtung" (1889), von Arno Holz: „Die Kunst, ihr Wesen
und ihre Gesetze" <I. 1890, II. 1892), von Leo Berg: „Der Naturalismus"
(1892) und die Schriften Ola Hanssvns. Für die Mehrzahl auch der deutschen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/428>, abgerufen am 01.09.2024.