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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

daß der große Staatsmann wirklich der Entwicklung seines Volkes im Wege
gewesen wäre, im Gegenteil, er führte ja damals die soziale Gesetzgebung durch,
aber die deutsche Jugend empfand seine Größe doch sast nur drückend und
fragte sich: Was sollen wir? Was können wir? Was bleibt für uns? Wenig¬
stens alle bessern Elemente, alle tiefern Naturen in ihr empfanden so; die
Gewöhnlichen fühlten sich freilich äußerst wohl, da die scheinbare Stagnation
ihnen ungestörte "Karriere" versprach, und es bildete sich im Hinblick auf die
vielversprechende Sicherheit der Zustände jenes übermütige Strebertum ans,
das von der zur Schau getragnen Eigenschaft des "schneidigen" das schmückende
Beiwort empfing. Und der Haß gegen diese äußerlich korrekten, "strammen,"
innerlich hohlen und leeren, vielfach aber auch brutalen Gesellen, von denen
ja einige durch ihre koloniale Thätigkeit später berühmt geworden sind, stürzte
nus noch um so tiefer in die Opposition. Es brauchte diese Opposition nicht
innrer die Form der Sozialdemokratie anzunehmen, vielfach that sie das frei¬
lich, doch hielt ein starker natürlicher Individualismus den sozialistischen An¬
schauungen fast immer die Wage. Damals hat sich das, was wir jetzt Svzial-
gefühl nennen, in der deutsche" Jugend ausgebildet und immer weitere Kreise
ergriffe", sodaß es das heutige Strebertum schon mit Erfolg zur Maskirnng
seiner selbstsüchtigen Absichten benutzen kann. Es wäre thöricht, leugnen
zu "vollen, daß sich hinter dem Sozialismus der damaligen Jngend auch
vielfach das ot,o-t,ol, <im; jo w'/ nöten verbarg, eben so gut wie hinter
ihrem litterarischen Streben, jene Begierde der Jugend, die Theodor Fontane
in neuerdings bekannt gewordnen Versen^) als einziges und zwar berechtigtes
Motiv des jüngsten Sturms und Dranges wie aller litterarischer Bewegungen
hinzustellen scheint; die poetische Jngend eines Volkes will und muß jn leben
und genießen und zu dem Zweck sich geltend machen, und es war gar kein
Wunder, daß sich die Geuußbcgierde in jener Zeit stärker ausgebildet hatte
und wildere Formen annahm als gewöhnlich; war doch gerade in die Periode
unsrer Jugend, wo die stärksten Eindrücke aufgenommen werden, die Gründer¬
zeit gefallen, hatte doch die Konvention, die zu einem guten Teil Heuchelei
und Lüge ivar, so schwer aus nus gelastet, daß ein Umschlag in Roheit und
Zügellosigkeit gar nicht ausbleibe" konnte. Daß die Alten den Jungen ihre
sozialistischen und anarchistischen Anschauungen bitter zum Vorwürfe machte",
daß sie die sittliche" Ausschreitung".'", die sich in den Werken der neuesten
Litteratur zu spiegeln schienen, mit Entsetze" erfüllte", war gleichfalls natürlich;
die aber, die am lautesten gegen das junge, rücksichtslos naturalistische und
gesellschaftsfeindliche Geschlecht schriee", Ware" natürlich die Pharisäer, die



Die Alten und die Jungen

daß der große Staatsmann wirklich der Entwicklung seines Volkes im Wege
gewesen wäre, im Gegenteil, er führte ja damals die soziale Gesetzgebung durch,
aber die deutsche Jugend empfand seine Größe doch sast nur drückend und
fragte sich: Was sollen wir? Was können wir? Was bleibt für uns? Wenig¬
stens alle bessern Elemente, alle tiefern Naturen in ihr empfanden so; die
Gewöhnlichen fühlten sich freilich äußerst wohl, da die scheinbare Stagnation
ihnen ungestörte „Karriere" versprach, und es bildete sich im Hinblick auf die
vielversprechende Sicherheit der Zustände jenes übermütige Strebertum ans,
das von der zur Schau getragnen Eigenschaft des „schneidigen" das schmückende
Beiwort empfing. Und der Haß gegen diese äußerlich korrekten, „strammen,"
innerlich hohlen und leeren, vielfach aber auch brutalen Gesellen, von denen
ja einige durch ihre koloniale Thätigkeit später berühmt geworden sind, stürzte
nus noch um so tiefer in die Opposition. Es brauchte diese Opposition nicht
innrer die Form der Sozialdemokratie anzunehmen, vielfach that sie das frei¬
lich, doch hielt ein starker natürlicher Individualismus den sozialistischen An¬
schauungen fast immer die Wage. Damals hat sich das, was wir jetzt Svzial-
gefühl nennen, in der deutsche» Jugend ausgebildet und immer weitere Kreise
ergriffe», sodaß es das heutige Strebertum schon mit Erfolg zur Maskirnng
seiner selbstsüchtigen Absichten benutzen kann. Es wäre thöricht, leugnen
zu »vollen, daß sich hinter dem Sozialismus der damaligen Jngend auch
vielfach das ot,o-t,ol, <im; jo w'/ nöten verbarg, eben so gut wie hinter
ihrem litterarischen Streben, jene Begierde der Jugend, die Theodor Fontane
in neuerdings bekannt gewordnen Versen^) als einziges und zwar berechtigtes
Motiv des jüngsten Sturms und Dranges wie aller litterarischer Bewegungen
hinzustellen scheint; die poetische Jngend eines Volkes will und muß jn leben
und genießen und zu dem Zweck sich geltend machen, und es war gar kein
Wunder, daß sich die Geuußbcgierde in jener Zeit stärker ausgebildet hatte
und wildere Formen annahm als gewöhnlich; war doch gerade in die Periode
unsrer Jugend, wo die stärksten Eindrücke aufgenommen werden, die Gründer¬
zeit gefallen, hatte doch die Konvention, die zu einem guten Teil Heuchelei
und Lüge ivar, so schwer aus nus gelastet, daß ein Umschlag in Roheit und
Zügellosigkeit gar nicht ausbleibe» konnte. Daß die Alten den Jungen ihre
sozialistischen und anarchistischen Anschauungen bitter zum Vorwürfe machte»,
daß sie die sittliche» Ausschreitung«.'», die sich in den Werken der neuesten
Litteratur zu spiegeln schienen, mit Entsetze» erfüllte», war gleichfalls natürlich;
die aber, die am lautesten gegen das junge, rücksichtslos naturalistische und
gesellschaftsfeindliche Geschlecht schriee», Ware» natürlich die Pharisäer, die



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[0427] Die Alten und die Jungen daß der große Staatsmann wirklich der Entwicklung seines Volkes im Wege gewesen wäre, im Gegenteil, er führte ja damals die soziale Gesetzgebung durch, aber die deutsche Jugend empfand seine Größe doch sast nur drückend und fragte sich: Was sollen wir? Was können wir? Was bleibt für uns? Wenig¬ stens alle bessern Elemente, alle tiefern Naturen in ihr empfanden so; die Gewöhnlichen fühlten sich freilich äußerst wohl, da die scheinbare Stagnation ihnen ungestörte „Karriere" versprach, und es bildete sich im Hinblick auf die vielversprechende Sicherheit der Zustände jenes übermütige Strebertum ans, das von der zur Schau getragnen Eigenschaft des „schneidigen" das schmückende Beiwort empfing. Und der Haß gegen diese äußerlich korrekten, „strammen," innerlich hohlen und leeren, vielfach aber auch brutalen Gesellen, von denen ja einige durch ihre koloniale Thätigkeit später berühmt geworden sind, stürzte nus noch um so tiefer in die Opposition. Es brauchte diese Opposition nicht innrer die Form der Sozialdemokratie anzunehmen, vielfach that sie das frei¬ lich, doch hielt ein starker natürlicher Individualismus den sozialistischen An¬ schauungen fast immer die Wage. Damals hat sich das, was wir jetzt Svzial- gefühl nennen, in der deutsche» Jugend ausgebildet und immer weitere Kreise ergriffe», sodaß es das heutige Strebertum schon mit Erfolg zur Maskirnng seiner selbstsüchtigen Absichten benutzen kann. Es wäre thöricht, leugnen zu »vollen, daß sich hinter dem Sozialismus der damaligen Jngend auch vielfach das ot,o-t,ol, <im; jo w'/ nöten verbarg, eben so gut wie hinter ihrem litterarischen Streben, jene Begierde der Jugend, die Theodor Fontane in neuerdings bekannt gewordnen Versen^) als einziges und zwar berechtigtes Motiv des jüngsten Sturms und Dranges wie aller litterarischer Bewegungen hinzustellen scheint; die poetische Jngend eines Volkes will und muß jn leben und genießen und zu dem Zweck sich geltend machen, und es war gar kein Wunder, daß sich die Geuußbcgierde in jener Zeit stärker ausgebildet hatte und wildere Formen annahm als gewöhnlich; war doch gerade in die Periode unsrer Jugend, wo die stärksten Eindrücke aufgenommen werden, die Gründer¬ zeit gefallen, hatte doch die Konvention, die zu einem guten Teil Heuchelei und Lüge ivar, so schwer aus nus gelastet, daß ein Umschlag in Roheit und Zügellosigkeit gar nicht ausbleibe» konnte. Daß die Alten den Jungen ihre sozialistischen und anarchistischen Anschauungen bitter zum Vorwürfe machte», daß sie die sittliche» Ausschreitung«.'», die sich in den Werken der neuesten Litteratur zu spiegeln schienen, mit Entsetze» erfüllte», war gleichfalls natürlich; die aber, die am lautesten gegen das junge, rücksichtslos naturalistische und gesellschaftsfeindliche Geschlecht schriee», Ware» natürlich die Pharisäer, die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/427>, abgerufen am 01.09.2024.