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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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?le Allen und die Jungen

dadurch, daß sie ein Volk mit Inbrunst bemeistert, ihnen Gefühlsgehalt
giebt, das ihm Gemäße entwickelt, das ihm Ungemäße aus- und abstößt.
Aber ein solches Verfahren setzt Kraft in der Nation und auf litterarischem
und künstlerischem Gebiet eben Talente voraus. sind diese Talente nicht
vorhanden oder zu unbedeutend, so wird das ausländische Muster nicht über¬
wunden werden; es ist aber natürlich ungerecht, den Talenten als Sünde
gegen die Nation vorzuwerfen, was einfach Folge des Krastvcrhältnisses ist.
Auch den Hang zur Theorie sollte man beim jüngsten Deutschland nicht
tadeln, obwohl er vielfach die Form der Programmwnt annahm, er ist echt
deutsch, alle unsre litterarischen Bewegungen haben mit einer kritischen und
theoretischen Thätigkeit begonnen. Freilich -- darin haben Litzmann und
andre Recht --, das Ideal des "Modernen," das sich die junge Schule stellte,
war darnach, einen vielgestaltiger:!, im Grunde nichtssagender" Begriff als
das "Moderne" hätte man gar nicht wählen können. "Der gemeinsame Nähr¬
boden, sagt Litzmann, aus dem dieses Ideal seine Nahrung zieht, ist leider
die moderne Nervosität und Hysterie. Ans diesem Grunde entwickeln sich, je
nach der Individualität, dem Bildungsgange, dem Temperament die ver¬
schiedenartigsten Erscheinungen: krassester Materialismus, mystischer Spiritis¬
mus, demokratischer Anarchismus, aristokratischer Individualismus, pandemische
Erotik, sinnabtötende Askese." Ganz richtig, aber alle diese Dinge waren
schon da, hatten sich längst in den deutscheu Volkskörper eingeschlichen, die
Jugend brachte sie nicht, sondern brachte sie nur ehrlich zur Erscheinung, und
das war ein Verdienst. Gewiß stand das jüngste Deutschland zunächst ans
dem Boden der deutschen Decadence, aber es wollte doch von ihm weg, und
eben in diesem Wegwollen, das allerdings oft seltsame Irrwege einschlug, hat
mau seine Bedeutung zu suchen. Daß im übrigen viel Menschliches, Allzu-
menschliches bei der Bewegung unterlief, daß die meist recht jungen Stürmer
und Dränger zum Teil von einem ganz lächerlichen Größcnwcchne besessen
waren, und daß sich unsaubere Gesellen eindrängten, soll nicht bestritten
werden; davon ist aber wohl nie eine geistige Bewegung frei geblieben.

Das möchte ich vor allem festgehalten wissen: die Bewegung des jüngsten
Deutschlands war nicht, wie man uns hat glauben machen wollen, von einigen
Ehrgeizigen künstlich gemacht und weiterhin künstlich aufrecht erhalten. Sie
entstand ganz natürlich, und sie war ehrlich von Grund aus. Man braucht
sich nur in die Grundstimmung der achtziger Jahre hineinzuversetzen, um das
leidenschaftliche "Aufbegehren" der Jugend vollständig zu verstehen. Es war
eine im ganzen dumpfe und trübe Zeit, diese letzte Regierungszeit des alten
Kaiser Wilhelms, alles schien zu stagniren und ewig stagniren zu sollen.
Deal uns Jüngern fast unheimlich erhob sich die gewaltige Gestalt Bismarcks
über dem Reiche und Europa, und ohne seinen Willen schien kein Windhauch
zu wehen, kein Lichtstrahl leuchten zu dürfe". Wohlverstanden, ich sage nicht,


?le Allen und die Jungen

dadurch, daß sie ein Volk mit Inbrunst bemeistert, ihnen Gefühlsgehalt
giebt, das ihm Gemäße entwickelt, das ihm Ungemäße aus- und abstößt.
Aber ein solches Verfahren setzt Kraft in der Nation und auf litterarischem
und künstlerischem Gebiet eben Talente voraus. sind diese Talente nicht
vorhanden oder zu unbedeutend, so wird das ausländische Muster nicht über¬
wunden werden; es ist aber natürlich ungerecht, den Talenten als Sünde
gegen die Nation vorzuwerfen, was einfach Folge des Krastvcrhältnisses ist.
Auch den Hang zur Theorie sollte man beim jüngsten Deutschland nicht
tadeln, obwohl er vielfach die Form der Programmwnt annahm, er ist echt
deutsch, alle unsre litterarischen Bewegungen haben mit einer kritischen und
theoretischen Thätigkeit begonnen. Freilich — darin haben Litzmann und
andre Recht —, das Ideal des „Modernen," das sich die junge Schule stellte,
war darnach, einen vielgestaltiger:!, im Grunde nichtssagender» Begriff als
das „Moderne" hätte man gar nicht wählen können. „Der gemeinsame Nähr¬
boden, sagt Litzmann, aus dem dieses Ideal seine Nahrung zieht, ist leider
die moderne Nervosität und Hysterie. Ans diesem Grunde entwickeln sich, je
nach der Individualität, dem Bildungsgange, dem Temperament die ver¬
schiedenartigsten Erscheinungen: krassester Materialismus, mystischer Spiritis¬
mus, demokratischer Anarchismus, aristokratischer Individualismus, pandemische
Erotik, sinnabtötende Askese." Ganz richtig, aber alle diese Dinge waren
schon da, hatten sich längst in den deutscheu Volkskörper eingeschlichen, die
Jugend brachte sie nicht, sondern brachte sie nur ehrlich zur Erscheinung, und
das war ein Verdienst. Gewiß stand das jüngste Deutschland zunächst ans
dem Boden der deutschen Decadence, aber es wollte doch von ihm weg, und
eben in diesem Wegwollen, das allerdings oft seltsame Irrwege einschlug, hat
mau seine Bedeutung zu suchen. Daß im übrigen viel Menschliches, Allzu-
menschliches bei der Bewegung unterlief, daß die meist recht jungen Stürmer
und Dränger zum Teil von einem ganz lächerlichen Größcnwcchne besessen
waren, und daß sich unsaubere Gesellen eindrängten, soll nicht bestritten
werden; davon ist aber wohl nie eine geistige Bewegung frei geblieben.

Das möchte ich vor allem festgehalten wissen: die Bewegung des jüngsten
Deutschlands war nicht, wie man uns hat glauben machen wollen, von einigen
Ehrgeizigen künstlich gemacht und weiterhin künstlich aufrecht erhalten. Sie
entstand ganz natürlich, und sie war ehrlich von Grund aus. Man braucht
sich nur in die Grundstimmung der achtziger Jahre hineinzuversetzen, um das
leidenschaftliche „Aufbegehren" der Jugend vollständig zu verstehen. Es war
eine im ganzen dumpfe und trübe Zeit, diese letzte Regierungszeit des alten
Kaiser Wilhelms, alles schien zu stagniren und ewig stagniren zu sollen.
Deal uns Jüngern fast unheimlich erhob sich die gewaltige Gestalt Bismarcks
über dem Reiche und Europa, und ohne seinen Willen schien kein Windhauch
zu wehen, kein Lichtstrahl leuchten zu dürfe». Wohlverstanden, ich sage nicht,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/426>, abgerufen am 01.09.2024.