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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alte" und die Inngeir

gequält waren und etwa an Bourget erinnern konnten. Auch Wolfgang Kirch¬
bachs Entwicklung (geb. 1857 zu London) begann im Anfang der achtziger
Jahre; er hatte etwas, was die meisten Jüngstdeutschen uicht hatten, eine
große, tiefgehende Bildung, hat deshalb auch die schulmüßige Entwicklung des
Naturalismus uicht mitgemacht, sondern immer eine Sonderstellung einge¬
nommen, ist aber doch wegen seiner "Kinder des Reichs" und seiner (veruuglttckteu)
modernen Tragödie in Verse" "Waibliuger" (nicht etwa deu Dichter, sondern
einen Ingenieur behandelnd) durchaus der modernen Richtung zuzuzählen.
Diese vier Schriftsteller und Dichter waren vor dem neuen Sturm und
Drang da.

Die geistigen Väter des Sturms und Dranges aber siud, wie das in
Deutschland nicht anders sein kann, Kritiker: zunächst die Gebrüder Hart
(Heinrich, geb. 1855 zu Wesel, und Julius, geb. 1859 zu Münster), deren
"Kritische Wnffengänge," die Lindau, Lubliner, L'Arronge, Schack, H. Kruse,
Spiclhageu n. a. scharf angriffen, in dem merkwürdigem Jahre 1882 begannen,
dann Michael Georg Conrad, der (geb. 1846 zu Gnvdstadt in Franken) 1883
von Paris zurückkehrte und 1885 die ..Gesellschaft," das Leibblatt des Sturms
und Dranges, gründete, endlich Karl Vleibtreu, der 1886 mit seiner Broschüre
"Revolution der Litteratur," für weitere Kreise wenigstens, das erste Licht
über den neuen Sturm und Drang gab und die erste Heerschau abhielt.
Geboren 1859 in Berlin, hatte er als frühreifes, wie es scheint, Berliner
Treibhanstalent damals schon ein Dutzend Werke veröffentlicht. Den eigentliche"
Begir" des Sturms und Dranges bezeichnet aber das Erscheinen der lyrischen
Anthologie "Moderne Dichtcrcharaktere," 1885, in der alle die Talente vereinigt
waren, die der ersten Periode der neuen litterarische" Bewegung den wesentlich
lyrischen Charakter gebe".


10

Man hat die Erhebung des jüngste" Deutschlands vielfach mit dem
Sturm und Drang vor hnndertuudzivanzig Jahre" vergliche", und sie ist im
ganzen schlecht dabei weggekommen. Konnte man sich auch nicht verhehlen,
daß beide Bewegungen "ein Ansturm der leideuschnftlich empfindenden Jugend
gegen die Schranken, die gleicherweise die ästhetische Theorie und die gesell¬
schaftliche Konvention dein unmittelbaren Ausdruck der Gefühle im Leben und
in der Dichtung in den Weg stellten," gewesen seien, so tadelte man doch an
der jünger" vor allein den internationalen, einige sagten antinationalen Zug
und den Hang zur Theorie. Ich habe schon versucht, die damalige Jugend
gegen den Vorwurf uuuativualcu Fühlens in Schutz zu nehmen. Die geistigen
und damit auch die litterarische" Bewegungen der Zeit, ja die Ideen überhaupt
tragen ja in der Regel, und zumal in unserm Jahrhundert, einen inter¬
nationalen Charakter, können aber freilich nationalisirt werden, und zwar


Grenzboten III I89K W
Die Alte» und die Inngeir

gequält waren und etwa an Bourget erinnern konnten. Auch Wolfgang Kirch¬
bachs Entwicklung (geb. 1857 zu London) begann im Anfang der achtziger
Jahre; er hatte etwas, was die meisten Jüngstdeutschen uicht hatten, eine
große, tiefgehende Bildung, hat deshalb auch die schulmüßige Entwicklung des
Naturalismus uicht mitgemacht, sondern immer eine Sonderstellung einge¬
nommen, ist aber doch wegen seiner „Kinder des Reichs" und seiner (veruuglttckteu)
modernen Tragödie in Verse» „Waibliuger" (nicht etwa deu Dichter, sondern
einen Ingenieur behandelnd) durchaus der modernen Richtung zuzuzählen.
Diese vier Schriftsteller und Dichter waren vor dem neuen Sturm und
Drang da.

Die geistigen Väter des Sturms und Dranges aber siud, wie das in
Deutschland nicht anders sein kann, Kritiker: zunächst die Gebrüder Hart
(Heinrich, geb. 1855 zu Wesel, und Julius, geb. 1859 zu Münster), deren
„Kritische Wnffengänge," die Lindau, Lubliner, L'Arronge, Schack, H. Kruse,
Spiclhageu n. a. scharf angriffen, in dem merkwürdigem Jahre 1882 begannen,
dann Michael Georg Conrad, der (geb. 1846 zu Gnvdstadt in Franken) 1883
von Paris zurückkehrte und 1885 die ..Gesellschaft," das Leibblatt des Sturms
und Dranges, gründete, endlich Karl Vleibtreu, der 1886 mit seiner Broschüre
„Revolution der Litteratur," für weitere Kreise wenigstens, das erste Licht
über den neuen Sturm und Drang gab und die erste Heerschau abhielt.
Geboren 1859 in Berlin, hatte er als frühreifes, wie es scheint, Berliner
Treibhanstalent damals schon ein Dutzend Werke veröffentlicht. Den eigentliche»
Begir» des Sturms und Dranges bezeichnet aber das Erscheinen der lyrischen
Anthologie „Moderne Dichtcrcharaktere," 1885, in der alle die Talente vereinigt
waren, die der ersten Periode der neuen litterarische» Bewegung den wesentlich
lyrischen Charakter gebe».


10

Man hat die Erhebung des jüngste» Deutschlands vielfach mit dem
Sturm und Drang vor hnndertuudzivanzig Jahre» vergliche», und sie ist im
ganzen schlecht dabei weggekommen. Konnte man sich auch nicht verhehlen,
daß beide Bewegungen „ein Ansturm der leideuschnftlich empfindenden Jugend
gegen die Schranken, die gleicherweise die ästhetische Theorie und die gesell¬
schaftliche Konvention dein unmittelbaren Ausdruck der Gefühle im Leben und
in der Dichtung in den Weg stellten," gewesen seien, so tadelte man doch an
der jünger» vor allein den internationalen, einige sagten antinationalen Zug
und den Hang zur Theorie. Ich habe schon versucht, die damalige Jugend
gegen den Vorwurf uuuativualcu Fühlens in Schutz zu nehmen. Die geistigen
und damit auch die litterarische» Bewegungen der Zeit, ja die Ideen überhaupt
tragen ja in der Regel, und zumal in unserm Jahrhundert, einen inter¬
nationalen Charakter, können aber freilich nationalisirt werden, und zwar


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/425>, abgerufen am 01.09.2024.