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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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diesem Satze zu rütteln gedenkt. Andrerseits aber krankt unsre Litteratur --
wie jede andre moderne Litteratur -- so schwer und so chronisch um der
Doublettenkrankheit, daß wir, glaube ich, nu einem Punkte angelangt sind, wo
sich das Originale, wenigstens vorübergehend, als gleichberechtigt neben das
Schöne stellen darf. In Kunst und Leben gilt dasselbe Gesetz, und wenn die
Nachkommen einer zurückliegenden großen Zeit das Kapital ihrer Väter und
Urväter aufgezehrt haben, so werden die willkommen geheißen, die für neue
Güter Sorge tragen, gleichviel wie. Zunächst muß wieder was da sein , ein
Stoff in Rohform, aus dem sich weiter formen läßt." (Vgl. auch: Stern,
Studien zur Litteratur der Gegenwart: Theodor Fontane.) Nebenbei bemerkt
teilte auch Paul Hesse diese Erkenntnis Fontanes, wie aus seiner Forderung,
daß "auch der innerlichste und reichhaltigste Stoff ein Spezifisches haben müsse,
das ihn von tausend andern unterscheide," deutlich genug hervorgeht, nur
führte diese Forderung den Münchner Erotiker dazu, seine Probleme immer
raffinirter und bedenklicher zu wählen, während Fontane der Erfindung wenig
Wert beilegte und vor allem den reichen Schatz seiner Beobachtungen für die
neue Kunst verwandte und so wirklich dazu kam, der erste wahre Schilderer
unsrer neuen, insbesondre der Berliner Gesellschaft zu werden. Schon in
seinen geschichtlichen Romanen hatte er übrigens die neue Kunst geübt,
was die Vergleichung mit Willibald Alexis ohne weiteres klar macht: Fontanes
geschichtliche Zeitgemälde, mit Ausnahme vielleicht der "Grete Minde," haben
nicht den großen epischen Zug und das energische Leben der Werke seines
Vorgängers, aber sie geben das "Milieu" getreuer oder wenigstens geschickter
wieder und sind psychologisch feiner, mit einem Worte: sie sind "intimer."
Und die außerordentlich zahlreichen, auf Feinheit der Beobachtung beruhenden
intimen Reize sind es denn auch, die uns an Fontanes modernen Romanen
besonders anziehen, mögen sie nun der Schilderung des "Milieus" oder der
Menscheugestaltung zu gute kommen. Mag man Poesie im alten Sinne und
Größe bei Fontäne vermissen, man verhehlt sich doch nicht, daß die Darstellung
des Lebens bei ihm einen großen Fortschritt gemacht hat, daß nichts mehr
bei ihm konventionell, alles spezifisch ist, und da der Dichter bei scheinbar voll¬
ständiger Objektivität nun doch nicht völlig hinter seinen Werken zurücktritt,
da man die feine Künstlerhand wohl merkt und eine in jeder Beziehung "über¬
legene" (das ist das richtige Wort), zugleich aber liebenswürdige Persönlichkeit
zu erkennen glaubt, wie sie zwar die alte Gesellschaft Englands und Frankreichs
zu verschiednen Zeiten, Deutschland aber noch kaum hervorgebracht hat, so tritt
dann zu dem stofflichen Reiz auch noch der subjektive und künstlerische, sodaß
von "Stoff in Rohform" nicht mehr die Rede sein kann, man Fontane vielmehr
unter die ihr eignes Weltbild gestaltenden Dichter ohne weiteres einreiht. Mag
die Gesellschaft, die Fontane schildert, zum Teil decadent, zum Teil philiströs
sein, der Dichter ist nichts weniger als Vcrfcillzeitler und durchaus eigenartig.


diesem Satze zu rütteln gedenkt. Andrerseits aber krankt unsre Litteratur —
wie jede andre moderne Litteratur — so schwer und so chronisch um der
Doublettenkrankheit, daß wir, glaube ich, nu einem Punkte angelangt sind, wo
sich das Originale, wenigstens vorübergehend, als gleichberechtigt neben das
Schöne stellen darf. In Kunst und Leben gilt dasselbe Gesetz, und wenn die
Nachkommen einer zurückliegenden großen Zeit das Kapital ihrer Väter und
Urväter aufgezehrt haben, so werden die willkommen geheißen, die für neue
Güter Sorge tragen, gleichviel wie. Zunächst muß wieder was da sein , ein
Stoff in Rohform, aus dem sich weiter formen läßt." (Vgl. auch: Stern,
Studien zur Litteratur der Gegenwart: Theodor Fontane.) Nebenbei bemerkt
teilte auch Paul Hesse diese Erkenntnis Fontanes, wie aus seiner Forderung,
daß „auch der innerlichste und reichhaltigste Stoff ein Spezifisches haben müsse,
das ihn von tausend andern unterscheide," deutlich genug hervorgeht, nur
führte diese Forderung den Münchner Erotiker dazu, seine Probleme immer
raffinirter und bedenklicher zu wählen, während Fontane der Erfindung wenig
Wert beilegte und vor allem den reichen Schatz seiner Beobachtungen für die
neue Kunst verwandte und so wirklich dazu kam, der erste wahre Schilderer
unsrer neuen, insbesondre der Berliner Gesellschaft zu werden. Schon in
seinen geschichtlichen Romanen hatte er übrigens die neue Kunst geübt,
was die Vergleichung mit Willibald Alexis ohne weiteres klar macht: Fontanes
geschichtliche Zeitgemälde, mit Ausnahme vielleicht der „Grete Minde," haben
nicht den großen epischen Zug und das energische Leben der Werke seines
Vorgängers, aber sie geben das „Milieu" getreuer oder wenigstens geschickter
wieder und sind psychologisch feiner, mit einem Worte: sie sind „intimer."
Und die außerordentlich zahlreichen, auf Feinheit der Beobachtung beruhenden
intimen Reize sind es denn auch, die uns an Fontanes modernen Romanen
besonders anziehen, mögen sie nun der Schilderung des „Milieus" oder der
Menscheugestaltung zu gute kommen. Mag man Poesie im alten Sinne und
Größe bei Fontäne vermissen, man verhehlt sich doch nicht, daß die Darstellung
des Lebens bei ihm einen großen Fortschritt gemacht hat, daß nichts mehr
bei ihm konventionell, alles spezifisch ist, und da der Dichter bei scheinbar voll¬
ständiger Objektivität nun doch nicht völlig hinter seinen Werken zurücktritt,
da man die feine Künstlerhand wohl merkt und eine in jeder Beziehung „über¬
legene" (das ist das richtige Wort), zugleich aber liebenswürdige Persönlichkeit
zu erkennen glaubt, wie sie zwar die alte Gesellschaft Englands und Frankreichs
zu verschiednen Zeiten, Deutschland aber noch kaum hervorgebracht hat, so tritt
dann zu dem stofflichen Reiz auch noch der subjektive und künstlerische, sodaß
von „Stoff in Rohform" nicht mehr die Rede sein kann, man Fontane vielmehr
unter die ihr eignes Weltbild gestaltenden Dichter ohne weiteres einreiht. Mag
die Gesellschaft, die Fontane schildert, zum Teil decadent, zum Teil philiströs
sein, der Dichter ist nichts weniger als Vcrfcillzeitler und durchaus eigenartig.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/423>, abgerufen am 01.09.2024.