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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

aber gerade sie gelangten nicht zu dauernder Wirkung. Wer las um 1889
"Zwischen Himmel und Erde" oder Jeremias Gotthelfs Romane? Neben dem
Übergewicht der klassischen Dichtung verhinderten aber auch die politischen und
sozialen Verhältnisse eine tiefere Wirkung der neuern Litteratur. Bei uns
entwickelte sich der Jndustrialismus verhältnismäßig spät, und das ihn tragende
Bürgertum verlangte eben eine Vvurgeoispoesie, die Größe und Tiefe aus¬
schloß; die Besten des Volks aber waren zuerst von den nationalen Einiguugs-
bestrebungen in Anspruch genommen, bei denen ihnen denn freilich die großen
klassischen Dichter, wie Schiller, dessen hundertjähriger Geburtstag überall eine
Nationalfeier größten Stiles veranlaßte, ganz andre Bundesgenossen sein
konnten, als die modernen. Als dann das Ziel erreicht war, da waren wir
auch schon in der Decadence, und die Besten des Volks wurden von Leuten,
die sich mit Behagen in ihr bewegten, in den Hintergrund gedrängt, zum Teil
suchten wir, der neugewonnenen Einheit, Macht und Größe froh, die Decadence
nicht zu sehen. Wäre in den siebziger Jahren eine naturalistische Dichtung
mit sozialen Tendenzen in Deutschland aufgetaucht, man hätte sie durch wüstes
Geschrei über Sozialdemokratie und Reichsfeindschaft sofort tot zu machen ver¬
sucht, Konvention war das Zeichen nicht nur der deutschen Litteratur, sondern
des ganzen deutschen Lebens geworden.

Indessen hatten die übrigen europäischen Nationen ihre soziale Litteratur
erhalten. Zuerst die englische, wie denn ja der Jndustrialismus auch zuerst
in England zur Ausbildung gelangt war, aber Kingsley und Genossen
blieben in Deutschland ziemlich unbekannt; hier freute mau sich an Dickens,
schon Thackeray war unheimlich. Von den Franzosen kamen uns durch die
Decadencelitteratur "Dumas Sohn" und Genossen herüber und fanden scheue
Nachahmung; die entschieden Naturalisten wie Flaubert mit seiner "Madame
Bovary" lernte man noch nicht kennen oder hielt sie einfach für Pornographen,
bis dann Zola das Eis brach. Ein gründlicher Geschichtschreiber der neuern
deutschen Litteratur wird das Eindringen Zolas einst zahlenmäßig festzustellen
haben, hier genügen D einige persönliche Erinnerungen Ich entsinne mich, daß
ich durch einen Artikel der Gartenlaube im Jahrgang 1880, glaube ich,
zuerst von der Existenz Zolas unterrichtet wurde, der damals gerade die
"Nana" geschrieben hatte. Dieses Werk wurde dann in schlechten Übersetzungen
(namentlich von Budapest aus) als pornographisches Werk in Deutschland
heimlich verbreitet. Über Zolas wirkliche Bedeutung und seinen großen Cyklus
"Die Rougou-Macquart" belehrte mich ein Aufsatz Ludwig Pfaus in der
Deutschen Rundschau. Daudets "Fromont junior und Rißler senior" lernte
ich 1882, gleich nach seinem Erscheinen in Neclams Universalbibliothek kennen;
ich erinnere mich, daß ich das Werk als stark beeinflußt von Thakerays
Viwit^ Kir empfand, den ich schon kannte. Den mächtigstes Eindruck auf
das junge Geschlecht in Deutschland hat. glaube ich, Zolas "Germinal" (1885)


Die Alten und die Jungen

aber gerade sie gelangten nicht zu dauernder Wirkung. Wer las um 1889
„Zwischen Himmel und Erde" oder Jeremias Gotthelfs Romane? Neben dem
Übergewicht der klassischen Dichtung verhinderten aber auch die politischen und
sozialen Verhältnisse eine tiefere Wirkung der neuern Litteratur. Bei uns
entwickelte sich der Jndustrialismus verhältnismäßig spät, und das ihn tragende
Bürgertum verlangte eben eine Vvurgeoispoesie, die Größe und Tiefe aus¬
schloß; die Besten des Volks aber waren zuerst von den nationalen Einiguugs-
bestrebungen in Anspruch genommen, bei denen ihnen denn freilich die großen
klassischen Dichter, wie Schiller, dessen hundertjähriger Geburtstag überall eine
Nationalfeier größten Stiles veranlaßte, ganz andre Bundesgenossen sein
konnten, als die modernen. Als dann das Ziel erreicht war, da waren wir
auch schon in der Decadence, und die Besten des Volks wurden von Leuten,
die sich mit Behagen in ihr bewegten, in den Hintergrund gedrängt, zum Teil
suchten wir, der neugewonnenen Einheit, Macht und Größe froh, die Decadence
nicht zu sehen. Wäre in den siebziger Jahren eine naturalistische Dichtung
mit sozialen Tendenzen in Deutschland aufgetaucht, man hätte sie durch wüstes
Geschrei über Sozialdemokratie und Reichsfeindschaft sofort tot zu machen ver¬
sucht, Konvention war das Zeichen nicht nur der deutschen Litteratur, sondern
des ganzen deutschen Lebens geworden.

Indessen hatten die übrigen europäischen Nationen ihre soziale Litteratur
erhalten. Zuerst die englische, wie denn ja der Jndustrialismus auch zuerst
in England zur Ausbildung gelangt war, aber Kingsley und Genossen
blieben in Deutschland ziemlich unbekannt; hier freute mau sich an Dickens,
schon Thackeray war unheimlich. Von den Franzosen kamen uns durch die
Decadencelitteratur „Dumas Sohn" und Genossen herüber und fanden scheue
Nachahmung; die entschieden Naturalisten wie Flaubert mit seiner „Madame
Bovary" lernte man noch nicht kennen oder hielt sie einfach für Pornographen,
bis dann Zola das Eis brach. Ein gründlicher Geschichtschreiber der neuern
deutschen Litteratur wird das Eindringen Zolas einst zahlenmäßig festzustellen
haben, hier genügen D einige persönliche Erinnerungen Ich entsinne mich, daß
ich durch einen Artikel der Gartenlaube im Jahrgang 1880, glaube ich,
zuerst von der Existenz Zolas unterrichtet wurde, der damals gerade die
„Nana" geschrieben hatte. Dieses Werk wurde dann in schlechten Übersetzungen
(namentlich von Budapest aus) als pornographisches Werk in Deutschland
heimlich verbreitet. Über Zolas wirkliche Bedeutung und seinen großen Cyklus
„Die Rougou-Macquart" belehrte mich ein Aufsatz Ludwig Pfaus in der
Deutschen Rundschau. Daudets „Fromont junior und Rißler senior" lernte
ich 1882, gleich nach seinem Erscheinen in Neclams Universalbibliothek kennen;
ich erinnere mich, daß ich das Werk als stark beeinflußt von Thakerays
Viwit^ Kir empfand, den ich schon kannte. Den mächtigstes Eindruck auf
das junge Geschlecht in Deutschland hat. glaube ich, Zolas „Germinal" (1885)


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[0419] Die Alten und die Jungen aber gerade sie gelangten nicht zu dauernder Wirkung. Wer las um 1889 „Zwischen Himmel und Erde" oder Jeremias Gotthelfs Romane? Neben dem Übergewicht der klassischen Dichtung verhinderten aber auch die politischen und sozialen Verhältnisse eine tiefere Wirkung der neuern Litteratur. Bei uns entwickelte sich der Jndustrialismus verhältnismäßig spät, und das ihn tragende Bürgertum verlangte eben eine Vvurgeoispoesie, die Größe und Tiefe aus¬ schloß; die Besten des Volks aber waren zuerst von den nationalen Einiguugs- bestrebungen in Anspruch genommen, bei denen ihnen denn freilich die großen klassischen Dichter, wie Schiller, dessen hundertjähriger Geburtstag überall eine Nationalfeier größten Stiles veranlaßte, ganz andre Bundesgenossen sein konnten, als die modernen. Als dann das Ziel erreicht war, da waren wir auch schon in der Decadence, und die Besten des Volks wurden von Leuten, die sich mit Behagen in ihr bewegten, in den Hintergrund gedrängt, zum Teil suchten wir, der neugewonnenen Einheit, Macht und Größe froh, die Decadence nicht zu sehen. Wäre in den siebziger Jahren eine naturalistische Dichtung mit sozialen Tendenzen in Deutschland aufgetaucht, man hätte sie durch wüstes Geschrei über Sozialdemokratie und Reichsfeindschaft sofort tot zu machen ver¬ sucht, Konvention war das Zeichen nicht nur der deutschen Litteratur, sondern des ganzen deutschen Lebens geworden. Indessen hatten die übrigen europäischen Nationen ihre soziale Litteratur erhalten. Zuerst die englische, wie denn ja der Jndustrialismus auch zuerst in England zur Ausbildung gelangt war, aber Kingsley und Genossen blieben in Deutschland ziemlich unbekannt; hier freute mau sich an Dickens, schon Thackeray war unheimlich. Von den Franzosen kamen uns durch die Decadencelitteratur „Dumas Sohn" und Genossen herüber und fanden scheue Nachahmung; die entschieden Naturalisten wie Flaubert mit seiner „Madame Bovary" lernte man noch nicht kennen oder hielt sie einfach für Pornographen, bis dann Zola das Eis brach. Ein gründlicher Geschichtschreiber der neuern deutschen Litteratur wird das Eindringen Zolas einst zahlenmäßig festzustellen haben, hier genügen D einige persönliche Erinnerungen Ich entsinne mich, daß ich durch einen Artikel der Gartenlaube im Jahrgang 1880, glaube ich, zuerst von der Existenz Zolas unterrichtet wurde, der damals gerade die „Nana" geschrieben hatte. Dieses Werk wurde dann in schlechten Übersetzungen (namentlich von Budapest aus) als pornographisches Werk in Deutschland heimlich verbreitet. Über Zolas wirkliche Bedeutung und seinen großen Cyklus „Die Rougou-Macquart" belehrte mich ein Aufsatz Ludwig Pfaus in der Deutschen Rundschau. Daudets „Fromont junior und Rißler senior" lernte ich 1882, gleich nach seinem Erscheinen in Neclams Universalbibliothek kennen; ich erinnere mich, daß ich das Werk als stark beeinflußt von Thakerays Viwit^ Kir empfand, den ich schon kannte. Den mächtigstes Eindruck auf das junge Geschlecht in Deutschland hat. glaube ich, Zolas „Germinal" (1885)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/419>, abgerufen am 01.09.2024.