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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker

Bevölkerung der einen ^Stelle mit Fleisch und Vegetcibilien zu ernähren, die
ganz anderswo gewachsen sind. Es ist ein trauriger Beweis dafür, wie wenig
durchgebildet unser Handelssystem nach der Seite der Sozialökonomie noch ist,
daß wir uns nichts dabei denken, wenn europäische Kolonien, die von der Natur
reich begünstigt sind, sich vom armen Europa aus ernähren lassen, anstatt selbst
zu Produziren- So lebt nach Büchner ("Kamerun") der Duallamann oft von
Stockfisch und europäischem Zwieback. Weshalb soll er auch seine Arme rühren?
Europa giebt ihm ja alles so billig, wenn nicht gar auf Kredit. Es giebt
europäische Missionen in Ostafrika, die Jahrzehnte in Thätigkeit sind, und deren
"Schiller" noch nicht einen Halm und keinen Salatkopf auf einem Missions¬
felde für ihre Lehrer erzeugt haben, die ganz von englischen Konserven und
den Produkten der Heideuneger leben." (S. 400).

Erst aus dem Ackerbau, der die Nutztiere liefert, konnte sich das nomadi-
sirende Hirtentum entwickeln. "Der nomadisirende Hirte stellt eine scharf aus-
gesprochne, aber keine wirtschaftlich selbständige Kulturstufe dar. Auch die see¬
männische Bevölkerung, die wir an so vielen Stellen des Erdballs vertreten
finden, bildet eine stark ausgesprochne Kulturstufe, für sie aber hat man niemals
wirtschaftliche Selbständigkeit in Anspruch genommen, und ebensowenig darf
man das für die nomadisirenden Hirten thun. Der Hirte lebt nicht direkt
und ausschließlich von dem Ertrage seiner Herden, überall bedarf er zu der
Milch und zum Fleisch eines vegetabilischen Zuschusses, den ihm seine Lebens¬
weise nicht sichert; diesen gewinnt er durch feste direkte Beziehungen zu Acker¬
bauern, oder er muß sie sich durch deu Handel verschaffen" (S. 133). Die
"direkten Beziehungen" bestehen oft darin, daß der Nomade in die ackerbauenden
Gegenden plündernd einbricht oder die Bauern dauernd unterjocht. Daher
erscheint das Verhältnis beider in der biblischen Erzählung von Kam und
Abel, die übrigens die Zusammengehörigkeit beider Formen bezeugt, sonder¬
barerweise verkehrt. Die Hirten sind meistens nichts weniger als sanftmütig
und friedlich; die Mongolen, die Türken, die Magyaren haben mehr "poli¬
tisches" Talent als Anlage zu stiller Kulturarbeit entfaltet; diese frei schwei¬
fenden Herrenvölker sehen mit Verachtung auf den über den Pflug gebückten
Bauer herab; die Araber in Spanien scheinen eine Ausnahme gemacht zu haben.
Daß die Tiere des Nomaden ursprünglich weder Milch noch Wolle geliefert
haben und erst von ansässigen Hack- oder Pflugbauern zu Nutztieren gezüchtet
werden mußte", ist schon bemerkt worden. Nachdem auch das Schaf und die
Ziege gewonnen worden waren, konnte die Benutzung von Bergabhängen und
Steppen beginnen, die sich weder für den Hackbau noch für den Ackerbau
eigneten, und das geschah in der Weise, daß die ansüßigen Bauern ihr Vieh
tinter der Leitung von Hirten ans die entfernten Weiden schickten. Ans diesen
nur periodisch nomadisirenden Hirten sind mit der Zeit eigentliche Nomaden
geworden.


Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker

Bevölkerung der einen ^Stelle mit Fleisch und Vegetcibilien zu ernähren, die
ganz anderswo gewachsen sind. Es ist ein trauriger Beweis dafür, wie wenig
durchgebildet unser Handelssystem nach der Seite der Sozialökonomie noch ist,
daß wir uns nichts dabei denken, wenn europäische Kolonien, die von der Natur
reich begünstigt sind, sich vom armen Europa aus ernähren lassen, anstatt selbst
zu Produziren- So lebt nach Büchner (»Kamerun«) der Duallamann oft von
Stockfisch und europäischem Zwieback. Weshalb soll er auch seine Arme rühren?
Europa giebt ihm ja alles so billig, wenn nicht gar auf Kredit. Es giebt
europäische Missionen in Ostafrika, die Jahrzehnte in Thätigkeit sind, und deren
»Schiller« noch nicht einen Halm und keinen Salatkopf auf einem Missions¬
felde für ihre Lehrer erzeugt haben, die ganz von englischen Konserven und
den Produkten der Heideuneger leben." (S. 400).

Erst aus dem Ackerbau, der die Nutztiere liefert, konnte sich das nomadi-
sirende Hirtentum entwickeln. „Der nomadisirende Hirte stellt eine scharf aus-
gesprochne, aber keine wirtschaftlich selbständige Kulturstufe dar. Auch die see¬
männische Bevölkerung, die wir an so vielen Stellen des Erdballs vertreten
finden, bildet eine stark ausgesprochne Kulturstufe, für sie aber hat man niemals
wirtschaftliche Selbständigkeit in Anspruch genommen, und ebensowenig darf
man das für die nomadisirenden Hirten thun. Der Hirte lebt nicht direkt
und ausschließlich von dem Ertrage seiner Herden, überall bedarf er zu der
Milch und zum Fleisch eines vegetabilischen Zuschusses, den ihm seine Lebens¬
weise nicht sichert; diesen gewinnt er durch feste direkte Beziehungen zu Acker¬
bauern, oder er muß sie sich durch deu Handel verschaffen" (S. 133). Die
„direkten Beziehungen" bestehen oft darin, daß der Nomade in die ackerbauenden
Gegenden plündernd einbricht oder die Bauern dauernd unterjocht. Daher
erscheint das Verhältnis beider in der biblischen Erzählung von Kam und
Abel, die übrigens die Zusammengehörigkeit beider Formen bezeugt, sonder¬
barerweise verkehrt. Die Hirten sind meistens nichts weniger als sanftmütig
und friedlich; die Mongolen, die Türken, die Magyaren haben mehr „poli¬
tisches" Talent als Anlage zu stiller Kulturarbeit entfaltet; diese frei schwei¬
fenden Herrenvölker sehen mit Verachtung auf den über den Pflug gebückten
Bauer herab; die Araber in Spanien scheinen eine Ausnahme gemacht zu haben.
Daß die Tiere des Nomaden ursprünglich weder Milch noch Wolle geliefert
haben und erst von ansässigen Hack- oder Pflugbauern zu Nutztieren gezüchtet
werden mußte», ist schon bemerkt worden. Nachdem auch das Schaf und die
Ziege gewonnen worden waren, konnte die Benutzung von Bergabhängen und
Steppen beginnen, die sich weder für den Hackbau noch für den Ackerbau
eigneten, und das geschah in der Weise, daß die ansüßigen Bauern ihr Vieh
tinter der Leitung von Hirten ans die entfernten Weiden schickten. Ans diesen
nur periodisch nomadisirenden Hirten sind mit der Zeit eigentliche Nomaden
geworden.


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[0410] Die Haustiere und das Wirtschaftsleben der Völker Bevölkerung der einen ^Stelle mit Fleisch und Vegetcibilien zu ernähren, die ganz anderswo gewachsen sind. Es ist ein trauriger Beweis dafür, wie wenig durchgebildet unser Handelssystem nach der Seite der Sozialökonomie noch ist, daß wir uns nichts dabei denken, wenn europäische Kolonien, die von der Natur reich begünstigt sind, sich vom armen Europa aus ernähren lassen, anstatt selbst zu Produziren- So lebt nach Büchner (»Kamerun«) der Duallamann oft von Stockfisch und europäischem Zwieback. Weshalb soll er auch seine Arme rühren? Europa giebt ihm ja alles so billig, wenn nicht gar auf Kredit. Es giebt europäische Missionen in Ostafrika, die Jahrzehnte in Thätigkeit sind, und deren »Schiller« noch nicht einen Halm und keinen Salatkopf auf einem Missions¬ felde für ihre Lehrer erzeugt haben, die ganz von englischen Konserven und den Produkten der Heideuneger leben." (S. 400). Erst aus dem Ackerbau, der die Nutztiere liefert, konnte sich das nomadi- sirende Hirtentum entwickeln. „Der nomadisirende Hirte stellt eine scharf aus- gesprochne, aber keine wirtschaftlich selbständige Kulturstufe dar. Auch die see¬ männische Bevölkerung, die wir an so vielen Stellen des Erdballs vertreten finden, bildet eine stark ausgesprochne Kulturstufe, für sie aber hat man niemals wirtschaftliche Selbständigkeit in Anspruch genommen, und ebensowenig darf man das für die nomadisirenden Hirten thun. Der Hirte lebt nicht direkt und ausschließlich von dem Ertrage seiner Herden, überall bedarf er zu der Milch und zum Fleisch eines vegetabilischen Zuschusses, den ihm seine Lebens¬ weise nicht sichert; diesen gewinnt er durch feste direkte Beziehungen zu Acker¬ bauern, oder er muß sie sich durch deu Handel verschaffen" (S. 133). Die „direkten Beziehungen" bestehen oft darin, daß der Nomade in die ackerbauenden Gegenden plündernd einbricht oder die Bauern dauernd unterjocht. Daher erscheint das Verhältnis beider in der biblischen Erzählung von Kam und Abel, die übrigens die Zusammengehörigkeit beider Formen bezeugt, sonder¬ barerweise verkehrt. Die Hirten sind meistens nichts weniger als sanftmütig und friedlich; die Mongolen, die Türken, die Magyaren haben mehr „poli¬ tisches" Talent als Anlage zu stiller Kulturarbeit entfaltet; diese frei schwei¬ fenden Herrenvölker sehen mit Verachtung auf den über den Pflug gebückten Bauer herab; die Araber in Spanien scheinen eine Ausnahme gemacht zu haben. Daß die Tiere des Nomaden ursprünglich weder Milch noch Wolle geliefert haben und erst von ansässigen Hack- oder Pflugbauern zu Nutztieren gezüchtet werden mußte», ist schon bemerkt worden. Nachdem auch das Schaf und die Ziege gewonnen worden waren, konnte die Benutzung von Bergabhängen und Steppen beginnen, die sich weder für den Hackbau noch für den Ackerbau eigneten, und das geschah in der Weise, daß die ansüßigen Bauern ihr Vieh tinter der Leitung von Hirten ans die entfernten Weiden schickten. Ans diesen nur periodisch nomadisirenden Hirten sind mit der Zeit eigentliche Nomaden geworden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/410>, abgerufen am 01.09.2024.