Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Die geographische Tage Deutschlands

Westlichen Hälfte von Österreich-Ungarn und der Westhälfte der Valkanhalb-
insel bis zum Vardar. Der nächste östliche Meridianstreifen von gleicher
Breite schneidet im Parallel von Mitteldeutschland die Wolga in der Nähe
von Saratow, der nächste westliche schneidet durch Island, und liegt fast
7 Grad westlich vom Westrand Europas. Deutschland liegt 16 Längen¬
grade vom Westrnnde und 42 Grade vom Ostende Europas. Berlin und
Leipzig liege" meridional ziemlich in der Mitte Deutschlands, dessen Hülsten
der Volkszahl nach sich im allgemeinen immer mehr ausgleichen, während
die Zahl der Deutschen, die im Reich südlich vom Thüringer Wald und vom
Taunus wohnen, nur noch ein Viertel von denen des Nordens betrügt.

Mit Europa gehört Deutschland der östlichen Halbkugel und damit der
Erdteilgruppe an, die wir -- mit Ausnahme des nur in erdgeschichtlichen
Sinne alten Australiens -- als die Alte Welt bezeichnen, weil sie geschichtlich
älter ist als die Neue Welt. Es herrscht hier ein ähnliches Verhältnis der
geschichtlichen Altersüberlegenheit wie zwischen den Ländern der Nord- und der
Südhalbkugel. Von Europa her ist Amerika der Kultur gewonnen worden,
aber Deutschland hat nicht durch Kolonieugründung daran teilgenommen.
Es gehört auch heute nicht zu den europäischen Mächten -- England, Frank¬
reich, Spanien, den Niederlanden und Dänemark --, die in Amerika Kolonien
besitzen, auch nicht zu denen, die solche besessen haben, wie Rußland, Portugal
und Schweden. Es hat aber durch eine gewaltige Menge von Auswanderern,
durch geistige und Wirtschaftsbeziehungen an der Europäisirung Amerikas teil¬
genommen und gehört zu den Ländern Europas, die schon jetzt tief beeinflußt
werden durch die Entwicklung großer nordamerikanischer Länder unter ähnlichen
Daseins- und Produktionsbedingungen wie Europa. Fassen wir endlich noch
die "Ökumeue" ins Auge, d. h. den Gürtel auf der Erdkugel, den wir als die
Erde des Menschen, als den Theil des Planeten aufzufassen haben, der
dem Menschen zur Wohnstätte bestimmt ist, so sehen wir, daß Europa nnr im
Norden die Grenzen dieses Gebietes berührt, nämlich dort, wo die Grenze
zwischen dem nördlichen Eismeer und der skandinavischen Halbinsel und den
nördlichsten Provinzen Rußlands hinzieht. Deutschlands Lage in der Ökumene
ist also bezeichnet dnrch ihre Entfernung von den Grenzen dieses Gürtels
und selbst von jenen Randgebieten, die die Stätten der schwersten Lebens¬
bedingungen auf der Erde sind. Nirgends außer in unbewohnten Hoch-
gebirgshöhen drückt bei uns ein Winter von neun Monaten die menschliche
Thatkraft zu Boden, indem er die Möglichkeit ihrer Bethätigung einengt, überall
ist der Ackerbau in mannichfaltiger Richtung möglich, er sieht sich nicht auf
einige wenige Produkte wie im Norden des Erdteils beschränkt, wo zuletzt uur
noch die Gerste gedeiht.

Deutschland ist die nachbarreichste nnter den europäischen Großmächten.
Im Osten, Westen und Süden umlagern es drei große Länder, zu denen im


Die geographische Tage Deutschlands

Westlichen Hälfte von Österreich-Ungarn und der Westhälfte der Valkanhalb-
insel bis zum Vardar. Der nächste östliche Meridianstreifen von gleicher
Breite schneidet im Parallel von Mitteldeutschland die Wolga in der Nähe
von Saratow, der nächste westliche schneidet durch Island, und liegt fast
7 Grad westlich vom Westrand Europas. Deutschland liegt 16 Längen¬
grade vom Westrnnde und 42 Grade vom Ostende Europas. Berlin und
Leipzig liege» meridional ziemlich in der Mitte Deutschlands, dessen Hülsten
der Volkszahl nach sich im allgemeinen immer mehr ausgleichen, während
die Zahl der Deutschen, die im Reich südlich vom Thüringer Wald und vom
Taunus wohnen, nur noch ein Viertel von denen des Nordens betrügt.

Mit Europa gehört Deutschland der östlichen Halbkugel und damit der
Erdteilgruppe an, die wir — mit Ausnahme des nur in erdgeschichtlichen
Sinne alten Australiens — als die Alte Welt bezeichnen, weil sie geschichtlich
älter ist als die Neue Welt. Es herrscht hier ein ähnliches Verhältnis der
geschichtlichen Altersüberlegenheit wie zwischen den Ländern der Nord- und der
Südhalbkugel. Von Europa her ist Amerika der Kultur gewonnen worden,
aber Deutschland hat nicht durch Kolonieugründung daran teilgenommen.
Es gehört auch heute nicht zu den europäischen Mächten — England, Frank¬
reich, Spanien, den Niederlanden und Dänemark —, die in Amerika Kolonien
besitzen, auch nicht zu denen, die solche besessen haben, wie Rußland, Portugal
und Schweden. Es hat aber durch eine gewaltige Menge von Auswanderern,
durch geistige und Wirtschaftsbeziehungen an der Europäisirung Amerikas teil¬
genommen und gehört zu den Ländern Europas, die schon jetzt tief beeinflußt
werden durch die Entwicklung großer nordamerikanischer Länder unter ähnlichen
Daseins- und Produktionsbedingungen wie Europa. Fassen wir endlich noch
die „Ökumeue" ins Auge, d. h. den Gürtel auf der Erdkugel, den wir als die
Erde des Menschen, als den Theil des Planeten aufzufassen haben, der
dem Menschen zur Wohnstätte bestimmt ist, so sehen wir, daß Europa nnr im
Norden die Grenzen dieses Gebietes berührt, nämlich dort, wo die Grenze
zwischen dem nördlichen Eismeer und der skandinavischen Halbinsel und den
nördlichsten Provinzen Rußlands hinzieht. Deutschlands Lage in der Ökumene
ist also bezeichnet dnrch ihre Entfernung von den Grenzen dieses Gürtels
und selbst von jenen Randgebieten, die die Stätten der schwersten Lebens¬
bedingungen auf der Erde sind. Nirgends außer in unbewohnten Hoch-
gebirgshöhen drückt bei uns ein Winter von neun Monaten die menschliche
Thatkraft zu Boden, indem er die Möglichkeit ihrer Bethätigung einengt, überall
ist der Ackerbau in mannichfaltiger Richtung möglich, er sieht sich nicht auf
einige wenige Produkte wie im Norden des Erdteils beschränkt, wo zuletzt uur
noch die Gerste gedeiht.

Deutschland ist die nachbarreichste nnter den europäischen Großmächten.
Im Osten, Westen und Süden umlagern es drei große Länder, zu denen im


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0403" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223345"/>
          <fw type="header" place="top"> Die geographische Tage Deutschlands</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1152" prev="#ID_1151"> Westlichen Hälfte von Österreich-Ungarn und der Westhälfte der Valkanhalb-<lb/>
insel bis zum Vardar. Der nächste östliche Meridianstreifen von gleicher<lb/>
Breite schneidet im Parallel von Mitteldeutschland die Wolga in der Nähe<lb/>
von Saratow, der nächste westliche schneidet durch Island, und liegt fast<lb/>
7 Grad westlich vom Westrand Europas. Deutschland liegt 16 Längen¬<lb/>
grade vom Westrnnde und 42 Grade vom Ostende Europas. Berlin und<lb/>
Leipzig liege» meridional ziemlich in der Mitte Deutschlands, dessen Hülsten<lb/>
der Volkszahl nach sich im allgemeinen immer mehr ausgleichen, während<lb/>
die Zahl der Deutschen, die im Reich südlich vom Thüringer Wald und vom<lb/>
Taunus wohnen, nur noch ein Viertel von denen des Nordens betrügt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1153"> Mit Europa gehört Deutschland der östlichen Halbkugel und damit der<lb/>
Erdteilgruppe an, die wir &#x2014; mit Ausnahme des nur in erdgeschichtlichen<lb/>
Sinne alten Australiens &#x2014; als die Alte Welt bezeichnen, weil sie geschichtlich<lb/>
älter ist als die Neue Welt. Es herrscht hier ein ähnliches Verhältnis der<lb/>
geschichtlichen Altersüberlegenheit wie zwischen den Ländern der Nord- und der<lb/>
Südhalbkugel. Von Europa her ist Amerika der Kultur gewonnen worden,<lb/>
aber Deutschland hat nicht durch Kolonieugründung daran teilgenommen.<lb/>
Es gehört auch heute nicht zu den europäischen Mächten &#x2014; England, Frank¬<lb/>
reich, Spanien, den Niederlanden und Dänemark &#x2014;, die in Amerika Kolonien<lb/>
besitzen, auch nicht zu denen, die solche besessen haben, wie Rußland, Portugal<lb/>
und Schweden. Es hat aber durch eine gewaltige Menge von Auswanderern,<lb/>
durch geistige und Wirtschaftsbeziehungen an der Europäisirung Amerikas teil¬<lb/>
genommen und gehört zu den Ländern Europas, die schon jetzt tief beeinflußt<lb/>
werden durch die Entwicklung großer nordamerikanischer Länder unter ähnlichen<lb/>
Daseins- und Produktionsbedingungen wie Europa. Fassen wir endlich noch<lb/>
die &#x201E;Ökumeue" ins Auge, d. h. den Gürtel auf der Erdkugel, den wir als die<lb/>
Erde des Menschen, als den Theil des Planeten aufzufassen haben, der<lb/>
dem Menschen zur Wohnstätte bestimmt ist, so sehen wir, daß Europa nnr im<lb/>
Norden die Grenzen dieses Gebietes berührt, nämlich dort, wo die Grenze<lb/>
zwischen dem nördlichen Eismeer und der skandinavischen Halbinsel und den<lb/>
nördlichsten Provinzen Rußlands hinzieht. Deutschlands Lage in der Ökumene<lb/>
ist also bezeichnet dnrch ihre Entfernung von den Grenzen dieses Gürtels<lb/>
und selbst von jenen Randgebieten, die die Stätten der schwersten Lebens¬<lb/>
bedingungen auf der Erde sind. Nirgends außer in unbewohnten Hoch-<lb/>
gebirgshöhen drückt bei uns ein Winter von neun Monaten die menschliche<lb/>
Thatkraft zu Boden, indem er die Möglichkeit ihrer Bethätigung einengt, überall<lb/>
ist der Ackerbau in mannichfaltiger Richtung möglich, er sieht sich nicht auf<lb/>
einige wenige Produkte wie im Norden des Erdteils beschränkt, wo zuletzt uur<lb/>
noch die Gerste gedeiht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1154" next="#ID_1155"> Deutschland ist die nachbarreichste nnter den europäischen Großmächten.<lb/>
Im Osten, Westen und Süden umlagern es drei große Länder, zu denen im</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0403] Die geographische Tage Deutschlands Westlichen Hälfte von Österreich-Ungarn und der Westhälfte der Valkanhalb- insel bis zum Vardar. Der nächste östliche Meridianstreifen von gleicher Breite schneidet im Parallel von Mitteldeutschland die Wolga in der Nähe von Saratow, der nächste westliche schneidet durch Island, und liegt fast 7 Grad westlich vom Westrand Europas. Deutschland liegt 16 Längen¬ grade vom Westrnnde und 42 Grade vom Ostende Europas. Berlin und Leipzig liege» meridional ziemlich in der Mitte Deutschlands, dessen Hülsten der Volkszahl nach sich im allgemeinen immer mehr ausgleichen, während die Zahl der Deutschen, die im Reich südlich vom Thüringer Wald und vom Taunus wohnen, nur noch ein Viertel von denen des Nordens betrügt. Mit Europa gehört Deutschland der östlichen Halbkugel und damit der Erdteilgruppe an, die wir — mit Ausnahme des nur in erdgeschichtlichen Sinne alten Australiens — als die Alte Welt bezeichnen, weil sie geschichtlich älter ist als die Neue Welt. Es herrscht hier ein ähnliches Verhältnis der geschichtlichen Altersüberlegenheit wie zwischen den Ländern der Nord- und der Südhalbkugel. Von Europa her ist Amerika der Kultur gewonnen worden, aber Deutschland hat nicht durch Kolonieugründung daran teilgenommen. Es gehört auch heute nicht zu den europäischen Mächten — England, Frank¬ reich, Spanien, den Niederlanden und Dänemark —, die in Amerika Kolonien besitzen, auch nicht zu denen, die solche besessen haben, wie Rußland, Portugal und Schweden. Es hat aber durch eine gewaltige Menge von Auswanderern, durch geistige und Wirtschaftsbeziehungen an der Europäisirung Amerikas teil¬ genommen und gehört zu den Ländern Europas, die schon jetzt tief beeinflußt werden durch die Entwicklung großer nordamerikanischer Länder unter ähnlichen Daseins- und Produktionsbedingungen wie Europa. Fassen wir endlich noch die „Ökumeue" ins Auge, d. h. den Gürtel auf der Erdkugel, den wir als die Erde des Menschen, als den Theil des Planeten aufzufassen haben, der dem Menschen zur Wohnstätte bestimmt ist, so sehen wir, daß Europa nnr im Norden die Grenzen dieses Gebietes berührt, nämlich dort, wo die Grenze zwischen dem nördlichen Eismeer und der skandinavischen Halbinsel und den nördlichsten Provinzen Rußlands hinzieht. Deutschlands Lage in der Ökumene ist also bezeichnet dnrch ihre Entfernung von den Grenzen dieses Gürtels und selbst von jenen Randgebieten, die die Stätten der schwersten Lebens¬ bedingungen auf der Erde sind. Nirgends außer in unbewohnten Hoch- gebirgshöhen drückt bei uns ein Winter von neun Monaten die menschliche Thatkraft zu Boden, indem er die Möglichkeit ihrer Bethätigung einengt, überall ist der Ackerbau in mannichfaltiger Richtung möglich, er sieht sich nicht auf einige wenige Produkte wie im Norden des Erdteils beschränkt, wo zuletzt uur noch die Gerste gedeiht. Deutschland ist die nachbarreichste nnter den europäischen Großmächten. Im Osten, Westen und Süden umlagern es drei große Länder, zu denen im

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/403
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/403>, abgerufen am 01.09.2024.