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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

zu machen; es ist aber eben sehr unwahrscheinlich, daß dieser Anstoß von außen
die fehlende innere Triebkraft ersetzen werde. Zudem wollen gerade die tüchtigsten
Handwerker von genossenschaftlicher Hilfe nichts wissen. Soweit sie solche brauchen
können, steht sie ihnen in der Form von Vorschußvereinen, Gewerbevereinen, Handels-
uud Aktiengesellschaften schon zur Verfügung; im übrigen haben sie keine Ursache,
sich über die modernen Verhältnisse zu beschweren, sondern ziehen aus allen:
ans dem Maschinenwesen, aus den Verkehrsanstalten, aus den Kreditan¬
stalten, aus der freien Konkurrenz den größten Nutzen. Mau sehe sich
doch die großen Tischler, Schlosser, Ofenfabrikanten, Uhrenfabrikcmteu, Metzger
und Wurstmacher, die sich vou kleinen oder mäßigen Anfängen emporgear¬
beitet haben, einmal an und frage sich, was ihnen eine Zwnngsgenossenschaft
hätte bieten können? Sie hätte ihnen nur die Bewegungsfreiheit geraubt, und
als energische Männer, die sie sind, würden sie vielleicht der wohlwollenden Obrig¬
keit, die sie hätte bevormunden wollen, den Kram vor die Füße geworfen haben
und mit ihrem Ersparten nach Amerika ausgewandert sein. Neun Zehntel aller
deutschen Handwerker haben, wie die Motive eingestehen, bisher von den Innungen
nichts wissen mögen. Der kleinere Teil von diesen neun Zehnteln besteht aus den
Tüchtigen, Energischen und Schlauen, die in ungebundner Freiheit am besten
fortkommen, die dabei wohlhabend und zum Teil reich werden, der größere Teil
aus jenen Armen, Kraft- und Mutlosen, die für genossenschaftliche Bestrebungen
kein Geld und keinen Sinn haben. Die Genossenschaft im Sinne der idealistischen
Vertreter des Genossenschaftswesens bedeutet den Verzicht des Einzelnen aufs Reich¬
werden um der Gesamtheit willen. Diese Bedeutung hat auch die Innung zur
Zeit ihrer höchsten Vinke gehabt, indem sie dnrch die Beschränkung der Zahl der
Hilfsarbeiter, durch Preis- und Lohntaxen einer starken Differenzirung der Ver¬
mögen vorzubeugen suchte. Die Handwerker konnten damals eine solche Entsagung
üben, weil erstens auch bei mäßigem Verdienst die Existenz keines Einzelnen gefährdet
war, weil zweitens jeder in seinem Hausgrundstück eine von den Schwankungen
des Gewerbeertrags unabhängige Grundlage des standesgemäßen Daseins hatte
-- der Mann konnte nicht weit fliegen, aber in dem Neste, worin er saß, saß er
sicher und warm --, und weil drittens das gemeinsame Interesse der Genossen
daran, die Herrschaft in ihrem kleinen Staate gegen die Geschlechter zu behaupte",
weit stärker war als das Interesse jedes Einzelnen an ein paar Gulden Mehr¬
verdienst. Der heute unter den Handwerkern herrschende Individualismus wird
dadurch entschuldigt, daß diese die Entsagung leicht machenden und zum Anschluß
an die Genossen drängenden Umstände nicht mehr bestehen. Im modernen Grvß-
stciat kaun von einem Ringen der Handwerker mit dem Adel um die Herrschaft
keine Rede mehr sein; dagegen sieht sich jeder gezwungen, rücksichtslos Geld zusammen¬
zuraffen, weil schon eine bedeutende Einnahme dazu gehört, um sich eine die
gesellschaftliche Stellung sichernde Wohnung verschaffen zu können, und weil länger
anhaltende Dürftigkeit des Einkommens die Gefahr eines schrecklichen und schmach¬
vollen Schicksals nach sich zieht. Die genossenschaftliche Organisation soll nun zwar
diese Gefahr beseitigen, aber jeder fürchtet sich, den Anfang damit zu machen, weil
der Erfolg solcher Versuche sehr zweifelhaft, der Schaden dagegen, den unter
den beschriebnen Umständen die Einbuße von ein Paar Thalern verursacht, ganz
sicher ist. Die Regierung wird daher mit ihrem wohlgemeinten Versuche beim
größten Teile der Handwerker auf entschiednen Widerstand stoßen; schon haben ihr
mehrere nicht zllnftlcrische Handwerkerversammlnngen, wie die der thüringischem und
pfälzischen Gewerbevereinsverbände, rund abgesagt. Gewiß sind Handwerker¬
organisationen wünschenswert; gewiß wird es mich wieder einmal dazu kommen, und


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zu machen; es ist aber eben sehr unwahrscheinlich, daß dieser Anstoß von außen
die fehlende innere Triebkraft ersetzen werde. Zudem wollen gerade die tüchtigsten
Handwerker von genossenschaftlicher Hilfe nichts wissen. Soweit sie solche brauchen
können, steht sie ihnen in der Form von Vorschußvereinen, Gewerbevereinen, Handels-
uud Aktiengesellschaften schon zur Verfügung; im übrigen haben sie keine Ursache,
sich über die modernen Verhältnisse zu beschweren, sondern ziehen aus allen:
ans dem Maschinenwesen, aus den Verkehrsanstalten, aus den Kreditan¬
stalten, aus der freien Konkurrenz den größten Nutzen. Mau sehe sich
doch die großen Tischler, Schlosser, Ofenfabrikanten, Uhrenfabrikcmteu, Metzger
und Wurstmacher, die sich vou kleinen oder mäßigen Anfängen emporgear¬
beitet haben, einmal an und frage sich, was ihnen eine Zwnngsgenossenschaft
hätte bieten können? Sie hätte ihnen nur die Bewegungsfreiheit geraubt, und
als energische Männer, die sie sind, würden sie vielleicht der wohlwollenden Obrig¬
keit, die sie hätte bevormunden wollen, den Kram vor die Füße geworfen haben
und mit ihrem Ersparten nach Amerika ausgewandert sein. Neun Zehntel aller
deutschen Handwerker haben, wie die Motive eingestehen, bisher von den Innungen
nichts wissen mögen. Der kleinere Teil von diesen neun Zehnteln besteht aus den
Tüchtigen, Energischen und Schlauen, die in ungebundner Freiheit am besten
fortkommen, die dabei wohlhabend und zum Teil reich werden, der größere Teil
aus jenen Armen, Kraft- und Mutlosen, die für genossenschaftliche Bestrebungen
kein Geld und keinen Sinn haben. Die Genossenschaft im Sinne der idealistischen
Vertreter des Genossenschaftswesens bedeutet den Verzicht des Einzelnen aufs Reich¬
werden um der Gesamtheit willen. Diese Bedeutung hat auch die Innung zur
Zeit ihrer höchsten Vinke gehabt, indem sie dnrch die Beschränkung der Zahl der
Hilfsarbeiter, durch Preis- und Lohntaxen einer starken Differenzirung der Ver¬
mögen vorzubeugen suchte. Die Handwerker konnten damals eine solche Entsagung
üben, weil erstens auch bei mäßigem Verdienst die Existenz keines Einzelnen gefährdet
war, weil zweitens jeder in seinem Hausgrundstück eine von den Schwankungen
des Gewerbeertrags unabhängige Grundlage des standesgemäßen Daseins hatte
— der Mann konnte nicht weit fliegen, aber in dem Neste, worin er saß, saß er
sicher und warm —, und weil drittens das gemeinsame Interesse der Genossen
daran, die Herrschaft in ihrem kleinen Staate gegen die Geschlechter zu behaupte»,
weit stärker war als das Interesse jedes Einzelnen an ein paar Gulden Mehr¬
verdienst. Der heute unter den Handwerkern herrschende Individualismus wird
dadurch entschuldigt, daß diese die Entsagung leicht machenden und zum Anschluß
an die Genossen drängenden Umstände nicht mehr bestehen. Im modernen Grvß-
stciat kaun von einem Ringen der Handwerker mit dem Adel um die Herrschaft
keine Rede mehr sein; dagegen sieht sich jeder gezwungen, rücksichtslos Geld zusammen¬
zuraffen, weil schon eine bedeutende Einnahme dazu gehört, um sich eine die
gesellschaftliche Stellung sichernde Wohnung verschaffen zu können, und weil länger
anhaltende Dürftigkeit des Einkommens die Gefahr eines schrecklichen und schmach¬
vollen Schicksals nach sich zieht. Die genossenschaftliche Organisation soll nun zwar
diese Gefahr beseitigen, aber jeder fürchtet sich, den Anfang damit zu machen, weil
der Erfolg solcher Versuche sehr zweifelhaft, der Schaden dagegen, den unter
den beschriebnen Umständen die Einbuße von ein Paar Thalern verursacht, ganz
sicher ist. Die Regierung wird daher mit ihrem wohlgemeinten Versuche beim
größten Teile der Handwerker auf entschiednen Widerstand stoßen; schon haben ihr
mehrere nicht zllnftlcrische Handwerkerversammlnngen, wie die der thüringischem und
pfälzischen Gewerbevereinsverbände, rund abgesagt. Gewiß sind Handwerker¬
organisationen wünschenswert; gewiß wird es mich wieder einmal dazu kommen, und


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[0391] Maßgebliches und Unmaßgebliches zu machen; es ist aber eben sehr unwahrscheinlich, daß dieser Anstoß von außen die fehlende innere Triebkraft ersetzen werde. Zudem wollen gerade die tüchtigsten Handwerker von genossenschaftlicher Hilfe nichts wissen. Soweit sie solche brauchen können, steht sie ihnen in der Form von Vorschußvereinen, Gewerbevereinen, Handels- uud Aktiengesellschaften schon zur Verfügung; im übrigen haben sie keine Ursache, sich über die modernen Verhältnisse zu beschweren, sondern ziehen aus allen: ans dem Maschinenwesen, aus den Verkehrsanstalten, aus den Kreditan¬ stalten, aus der freien Konkurrenz den größten Nutzen. Mau sehe sich doch die großen Tischler, Schlosser, Ofenfabrikanten, Uhrenfabrikcmteu, Metzger und Wurstmacher, die sich vou kleinen oder mäßigen Anfängen emporgear¬ beitet haben, einmal an und frage sich, was ihnen eine Zwnngsgenossenschaft hätte bieten können? Sie hätte ihnen nur die Bewegungsfreiheit geraubt, und als energische Männer, die sie sind, würden sie vielleicht der wohlwollenden Obrig¬ keit, die sie hätte bevormunden wollen, den Kram vor die Füße geworfen haben und mit ihrem Ersparten nach Amerika ausgewandert sein. Neun Zehntel aller deutschen Handwerker haben, wie die Motive eingestehen, bisher von den Innungen nichts wissen mögen. Der kleinere Teil von diesen neun Zehnteln besteht aus den Tüchtigen, Energischen und Schlauen, die in ungebundner Freiheit am besten fortkommen, die dabei wohlhabend und zum Teil reich werden, der größere Teil aus jenen Armen, Kraft- und Mutlosen, die für genossenschaftliche Bestrebungen kein Geld und keinen Sinn haben. Die Genossenschaft im Sinne der idealistischen Vertreter des Genossenschaftswesens bedeutet den Verzicht des Einzelnen aufs Reich¬ werden um der Gesamtheit willen. Diese Bedeutung hat auch die Innung zur Zeit ihrer höchsten Vinke gehabt, indem sie dnrch die Beschränkung der Zahl der Hilfsarbeiter, durch Preis- und Lohntaxen einer starken Differenzirung der Ver¬ mögen vorzubeugen suchte. Die Handwerker konnten damals eine solche Entsagung üben, weil erstens auch bei mäßigem Verdienst die Existenz keines Einzelnen gefährdet war, weil zweitens jeder in seinem Hausgrundstück eine von den Schwankungen des Gewerbeertrags unabhängige Grundlage des standesgemäßen Daseins hatte — der Mann konnte nicht weit fliegen, aber in dem Neste, worin er saß, saß er sicher und warm —, und weil drittens das gemeinsame Interesse der Genossen daran, die Herrschaft in ihrem kleinen Staate gegen die Geschlechter zu behaupte», weit stärker war als das Interesse jedes Einzelnen an ein paar Gulden Mehr¬ verdienst. Der heute unter den Handwerkern herrschende Individualismus wird dadurch entschuldigt, daß diese die Entsagung leicht machenden und zum Anschluß an die Genossen drängenden Umstände nicht mehr bestehen. Im modernen Grvß- stciat kaun von einem Ringen der Handwerker mit dem Adel um die Herrschaft keine Rede mehr sein; dagegen sieht sich jeder gezwungen, rücksichtslos Geld zusammen¬ zuraffen, weil schon eine bedeutende Einnahme dazu gehört, um sich eine die gesellschaftliche Stellung sichernde Wohnung verschaffen zu können, und weil länger anhaltende Dürftigkeit des Einkommens die Gefahr eines schrecklichen und schmach¬ vollen Schicksals nach sich zieht. Die genossenschaftliche Organisation soll nun zwar diese Gefahr beseitigen, aber jeder fürchtet sich, den Anfang damit zu machen, weil der Erfolg solcher Versuche sehr zweifelhaft, der Schaden dagegen, den unter den beschriebnen Umständen die Einbuße von ein Paar Thalern verursacht, ganz sicher ist. Die Regierung wird daher mit ihrem wohlgemeinten Versuche beim größten Teile der Handwerker auf entschiednen Widerstand stoßen; schon haben ihr mehrere nicht zllnftlcrische Handwerkerversammlnngen, wie die der thüringischem und pfälzischen Gewerbevereinsverbände, rund abgesagt. Gewiß sind Handwerker¬ organisationen wünschenswert; gewiß wird es mich wieder einmal dazu kommen, und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/391>, abgerufen am 25.11.2024.