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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur

irgend jemand geglaubt. Seine Wunderlichkeiten haben die Urteilsfähigen unter
den Archäologen sowohl als unter den Baumeistern stillschweigend unter ein¬
ander als solche erkannt. Kein Mensch hätte es für nötig gehalten, darüber
Bücher zu schreiben. Denn man wußte doch, daß vor Bötticher "das reine
Griechisch" eine unverstandne Sache war. Nun erst sah man, daß mit den
Bauformen etwas gemeint war, und Bötticher hatte gezeigt, was das sein
könnte. Seine Übertreibungen abzustreifen war nicht schwer. Böttichers Be¬
deutung für die theoretische Erziehung der Architekten greift weit hinaus über
den Bereich der einstigen Schinkelschen Schule; sie ist grundsätzlich und all¬
gemein.

Wir bemerken das gegenüber einem kleinen Buche, dessen Verfasser sich
nachträglich und lange nach Böttichers Tode die ganz überflüssige Mühe einer
ZusammenstellungBötticherscher Verkehrtheiten gemacht hat: Karl Böttichers
Tektonik der Hellenen als ästhetische und kunstgeschichtliche Theorie. Eine
Kritik von or. Richard Streiter, Architekten^. (Hamburg und Leipzig. Voß,
1896.) Und wir möchten noch ausdrücklich hervorheben, daß, da das große
Verdienst Böttichers. zuerst die Grundlage einer Erklärung der griechischen
Bauformen aufgestellt zu haben, feststeht, es eine völlig gleichgiltige Sache ist,
wie sich die ästhetische Theorie irgend einer Zeit, also auch der neuesten, mit
seinen einzelnen Ergebnissen abfinden mag. "Dieses Buch -- sagte einst Springer
in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über Böttichers Tektonik der Hellenen --
macht alle Sünden des Mannes wieder gut."

Neumann, zu dessen Buche wir zurückkehren, urteilt verständig über die
Bestandteile der einzelnen Baustile in ihrer Bedeutung für die Gegenwart,
z.B. wenn er sagt: "Ein dürres Neis, wie das altgermanische Zierschnitzwerk,
wieder beleben zu wollen, wäre vergebliches Beginnen. Auf dem Boden, den
die uns vorangegangenen Generationen bestellt haben, müssen wir weiter ar¬
beiten" -- was uns wieder auf Mielkes "Volkskunst" zurückweist. Ferner
wenn er in der sogenannten deutschen Renaissance, der er für den Profanbau im
allgemeinen das Wort redet, doch den Mangel an kräftiger Gruppirung hervor¬
hebt und sie deswegen sür ungeeignet zu Monumentalbauten erklärt. Unter
diesem Gesichtspunkt bespricht er dann die italienische Renaissance, den Barock¬
stil und die romanische Architektur. Auch was er über die Verwendung go¬
tischer Zierformen an dem übrigens durch Romanen geschaffnen modernen
deutschen Hause sagt, kann man gelten lassen. Denn wir stehen ja in der
Praxis lange nicht mehr in dem reinen Stil, noch auf der idealen Höhe einer
wirklich geschichtlichen Anschauung, von der aus Jakob Burckardt vor vierzig
Jahren sagen konnte: gotisches Detail am bürgerlichen Hause sei Undank gegen
die italienischen Baumeister, die diesem Hause die Disposition gegeben hätten.
Wir sind eben Eklektiker und müssen froh sein, wenn es in der Architektur
nicht zu Geschmacklosigkeiten kommt. Daß wir große und erfreuliche Werke


Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur

irgend jemand geglaubt. Seine Wunderlichkeiten haben die Urteilsfähigen unter
den Archäologen sowohl als unter den Baumeistern stillschweigend unter ein¬
ander als solche erkannt. Kein Mensch hätte es für nötig gehalten, darüber
Bücher zu schreiben. Denn man wußte doch, daß vor Bötticher „das reine
Griechisch" eine unverstandne Sache war. Nun erst sah man, daß mit den
Bauformen etwas gemeint war, und Bötticher hatte gezeigt, was das sein
könnte. Seine Übertreibungen abzustreifen war nicht schwer. Böttichers Be¬
deutung für die theoretische Erziehung der Architekten greift weit hinaus über
den Bereich der einstigen Schinkelschen Schule; sie ist grundsätzlich und all¬
gemein.

Wir bemerken das gegenüber einem kleinen Buche, dessen Verfasser sich
nachträglich und lange nach Böttichers Tode die ganz überflüssige Mühe einer
ZusammenstellungBötticherscher Verkehrtheiten gemacht hat: Karl Böttichers
Tektonik der Hellenen als ästhetische und kunstgeschichtliche Theorie. Eine
Kritik von or. Richard Streiter, Architekten^. (Hamburg und Leipzig. Voß,
1896.) Und wir möchten noch ausdrücklich hervorheben, daß, da das große
Verdienst Böttichers. zuerst die Grundlage einer Erklärung der griechischen
Bauformen aufgestellt zu haben, feststeht, es eine völlig gleichgiltige Sache ist,
wie sich die ästhetische Theorie irgend einer Zeit, also auch der neuesten, mit
seinen einzelnen Ergebnissen abfinden mag. „Dieses Buch — sagte einst Springer
in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über Böttichers Tektonik der Hellenen —
macht alle Sünden des Mannes wieder gut."

Neumann, zu dessen Buche wir zurückkehren, urteilt verständig über die
Bestandteile der einzelnen Baustile in ihrer Bedeutung für die Gegenwart,
z.B. wenn er sagt: „Ein dürres Neis, wie das altgermanische Zierschnitzwerk,
wieder beleben zu wollen, wäre vergebliches Beginnen. Auf dem Boden, den
die uns vorangegangenen Generationen bestellt haben, müssen wir weiter ar¬
beiten" — was uns wieder auf Mielkes „Volkskunst" zurückweist. Ferner
wenn er in der sogenannten deutschen Renaissance, der er für den Profanbau im
allgemeinen das Wort redet, doch den Mangel an kräftiger Gruppirung hervor¬
hebt und sie deswegen sür ungeeignet zu Monumentalbauten erklärt. Unter
diesem Gesichtspunkt bespricht er dann die italienische Renaissance, den Barock¬
stil und die romanische Architektur. Auch was er über die Verwendung go¬
tischer Zierformen an dem übrigens durch Romanen geschaffnen modernen
deutschen Hause sagt, kann man gelten lassen. Denn wir stehen ja in der
Praxis lange nicht mehr in dem reinen Stil, noch auf der idealen Höhe einer
wirklich geschichtlichen Anschauung, von der aus Jakob Burckardt vor vierzig
Jahren sagen konnte: gotisches Detail am bürgerlichen Hause sei Undank gegen
die italienischen Baumeister, die diesem Hause die Disposition gegeben hätten.
Wir sind eben Eklektiker und müssen froh sein, wenn es in der Architektur
nicht zu Geschmacklosigkeiten kommt. Daß wir große und erfreuliche Werke


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[0388] Volkskunst, Bauernkunst und nationale Architektur irgend jemand geglaubt. Seine Wunderlichkeiten haben die Urteilsfähigen unter den Archäologen sowohl als unter den Baumeistern stillschweigend unter ein¬ ander als solche erkannt. Kein Mensch hätte es für nötig gehalten, darüber Bücher zu schreiben. Denn man wußte doch, daß vor Bötticher „das reine Griechisch" eine unverstandne Sache war. Nun erst sah man, daß mit den Bauformen etwas gemeint war, und Bötticher hatte gezeigt, was das sein könnte. Seine Übertreibungen abzustreifen war nicht schwer. Böttichers Be¬ deutung für die theoretische Erziehung der Architekten greift weit hinaus über den Bereich der einstigen Schinkelschen Schule; sie ist grundsätzlich und all¬ gemein. Wir bemerken das gegenüber einem kleinen Buche, dessen Verfasser sich nachträglich und lange nach Böttichers Tode die ganz überflüssige Mühe einer ZusammenstellungBötticherscher Verkehrtheiten gemacht hat: Karl Böttichers Tektonik der Hellenen als ästhetische und kunstgeschichtliche Theorie. Eine Kritik von or. Richard Streiter, Architekten^. (Hamburg und Leipzig. Voß, 1896.) Und wir möchten noch ausdrücklich hervorheben, daß, da das große Verdienst Böttichers. zuerst die Grundlage einer Erklärung der griechischen Bauformen aufgestellt zu haben, feststeht, es eine völlig gleichgiltige Sache ist, wie sich die ästhetische Theorie irgend einer Zeit, also auch der neuesten, mit seinen einzelnen Ergebnissen abfinden mag. „Dieses Buch — sagte einst Springer in seiner Leipziger Antrittsvorlesung über Böttichers Tektonik der Hellenen — macht alle Sünden des Mannes wieder gut." Neumann, zu dessen Buche wir zurückkehren, urteilt verständig über die Bestandteile der einzelnen Baustile in ihrer Bedeutung für die Gegenwart, z.B. wenn er sagt: „Ein dürres Neis, wie das altgermanische Zierschnitzwerk, wieder beleben zu wollen, wäre vergebliches Beginnen. Auf dem Boden, den die uns vorangegangenen Generationen bestellt haben, müssen wir weiter ar¬ beiten" — was uns wieder auf Mielkes „Volkskunst" zurückweist. Ferner wenn er in der sogenannten deutschen Renaissance, der er für den Profanbau im allgemeinen das Wort redet, doch den Mangel an kräftiger Gruppirung hervor¬ hebt und sie deswegen sür ungeeignet zu Monumentalbauten erklärt. Unter diesem Gesichtspunkt bespricht er dann die italienische Renaissance, den Barock¬ stil und die romanische Architektur. Auch was er über die Verwendung go¬ tischer Zierformen an dem übrigens durch Romanen geschaffnen modernen deutschen Hause sagt, kann man gelten lassen. Denn wir stehen ja in der Praxis lange nicht mehr in dem reinen Stil, noch auf der idealen Höhe einer wirklich geschichtlichen Anschauung, von der aus Jakob Burckardt vor vierzig Jahren sagen konnte: gotisches Detail am bürgerlichen Hause sei Undank gegen die italienischen Baumeister, die diesem Hause die Disposition gegeben hätten. Wir sind eben Eklektiker und müssen froh sein, wenn es in der Architektur nicht zu Geschmacklosigkeiten kommt. Daß wir große und erfreuliche Werke

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/388>, abgerufen am 25.11.2024.