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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

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Ich habe bisher absichtlich nichts oder doch nur wenig von Richard
Wagner gesagt. Daß er die Erscheinung ist, die das gesamte deutsche Kul¬
turleben vom Ende der sechziger bis zum Anfang der achtziger Jahre am
mächtigsten beeinflußt hat, wird niemand bestreiten, mag er sich im übrigen zu
ihm stellen, wie er will. Litzmann hebt hervor, daß er allein durch sein Dasein
daran erinnert habe, daß das deutsche Volk noch eine andre als eine politische
und militärische Rolle zu spielen habe, und nimmt eine befruchtende An¬
regung unsers gesamten künstlerischen Lebens durch Wagner an, den Mann,
der "für die Vatcrgötter deutschen Volkes lebenslang gezeugt." Ich will
ihm nicht widersprechen, aber daneben erscheint mir die Auffassung Wagners
als des Hauptvertreters der deutschen und vielleicht der allgemeinen Decadence
nicht so leicht abzuweisen. Für einen musikalischen Laien ist es schwer,
sich über eine Erscheinung wie Wagner ein klares Urteil zu bilden; daß er
aber seine Stoffe, mit Ausnahme etwa der "Meistersinger," durchaus im Sinne
der Decadence verwertet, wird jeder zugeben, der ein litterarisches Urteil hat.
Es klingt ja ganz hübsch, wenn z. B. Max Koch sagt: "Die von Goethe
gepriesene befreiende Macht der Selbstüberwindung ist im Parsifal als welt¬
erlösendes Mitleiden, wie in den Nibelungen der Sieg über die Mächte der
Nacht und des Neides in frei und stolz das Leben abwerfenden Schicksals¬
trotze des germanischen Gottes und Helden als höchstes nationales Kunstwerk
zur dramatischen That geworden"; ich habe aber immer den Eindruck, als
habe Magner den germanischen Göttern und Helden das Mark aus den
Knochen gesogen, und von den modernen Erlösern habe ich nie viel gehalten.
Damit stimmt es so ziemlich zusammen, wenn Wilhelm Weigand schreibt:
"Das selige Vegetiren der Romantiker ist bei Richard Wagner zum Aufgehen
in der Musik geworden. Wagner glaubt alles Ernstes, daß seine Musik er¬
löse. Wagner hat sein ganzes Leben lang die Einheit von Geist und Sinn¬
lichkeit gesucht, um zuletzt, wie alle Romantiker, als Frömmler zu enden."
Der Ausdruck Frömmler ist vielleicht zu stark. Aber, wie gesagt, ich fühle
mich uicht kompetent, die Entscheidung über Wagner ist jedenfalls nur auf
dem Boden der Musik zu fällen, aber schon die oft bezeugte, in Rausch ver¬
setzende und nervenaufrührende Wirkung seiner Musik spricht für den Verfall¬
charakter seiner Kunst. Auch sind die fanatischen Anhänger Wagners jeder¬
zeit Verfallzeitler gewesen.

Aber Wagner ist, so groß sein Wirkungskreis auch war und noch ist
-- man hat sich eben inzwischen mehr an das "Gift" gewöhnt --, keineswegs
der einzige Vertreter der deutschen Hochdecadeuee gewesen, die um das Jahr
1880, oder sagen wir geradezu, in das, wie wir sehen werden, sehr merk¬
würdige Jahr 1882, das Erscheinungsjahr des "Parsifal" fällt; tritt doch um
diese Zeit auch sein anfänglicher Freund und späterer Gegner Friedrich Nietzsche


Die Alten und die Jungen

8

Ich habe bisher absichtlich nichts oder doch nur wenig von Richard
Wagner gesagt. Daß er die Erscheinung ist, die das gesamte deutsche Kul¬
turleben vom Ende der sechziger bis zum Anfang der achtziger Jahre am
mächtigsten beeinflußt hat, wird niemand bestreiten, mag er sich im übrigen zu
ihm stellen, wie er will. Litzmann hebt hervor, daß er allein durch sein Dasein
daran erinnert habe, daß das deutsche Volk noch eine andre als eine politische
und militärische Rolle zu spielen habe, und nimmt eine befruchtende An¬
regung unsers gesamten künstlerischen Lebens durch Wagner an, den Mann,
der „für die Vatcrgötter deutschen Volkes lebenslang gezeugt." Ich will
ihm nicht widersprechen, aber daneben erscheint mir die Auffassung Wagners
als des Hauptvertreters der deutschen und vielleicht der allgemeinen Decadence
nicht so leicht abzuweisen. Für einen musikalischen Laien ist es schwer,
sich über eine Erscheinung wie Wagner ein klares Urteil zu bilden; daß er
aber seine Stoffe, mit Ausnahme etwa der „Meistersinger," durchaus im Sinne
der Decadence verwertet, wird jeder zugeben, der ein litterarisches Urteil hat.
Es klingt ja ganz hübsch, wenn z. B. Max Koch sagt: „Die von Goethe
gepriesene befreiende Macht der Selbstüberwindung ist im Parsifal als welt¬
erlösendes Mitleiden, wie in den Nibelungen der Sieg über die Mächte der
Nacht und des Neides in frei und stolz das Leben abwerfenden Schicksals¬
trotze des germanischen Gottes und Helden als höchstes nationales Kunstwerk
zur dramatischen That geworden"; ich habe aber immer den Eindruck, als
habe Magner den germanischen Göttern und Helden das Mark aus den
Knochen gesogen, und von den modernen Erlösern habe ich nie viel gehalten.
Damit stimmt es so ziemlich zusammen, wenn Wilhelm Weigand schreibt:
„Das selige Vegetiren der Romantiker ist bei Richard Wagner zum Aufgehen
in der Musik geworden. Wagner glaubt alles Ernstes, daß seine Musik er¬
löse. Wagner hat sein ganzes Leben lang die Einheit von Geist und Sinn¬
lichkeit gesucht, um zuletzt, wie alle Romantiker, als Frömmler zu enden."
Der Ausdruck Frömmler ist vielleicht zu stark. Aber, wie gesagt, ich fühle
mich uicht kompetent, die Entscheidung über Wagner ist jedenfalls nur auf
dem Boden der Musik zu fällen, aber schon die oft bezeugte, in Rausch ver¬
setzende und nervenaufrührende Wirkung seiner Musik spricht für den Verfall¬
charakter seiner Kunst. Auch sind die fanatischen Anhänger Wagners jeder¬
zeit Verfallzeitler gewesen.

Aber Wagner ist, so groß sein Wirkungskreis auch war und noch ist
— man hat sich eben inzwischen mehr an das „Gift" gewöhnt —, keineswegs
der einzige Vertreter der deutschen Hochdecadeuee gewesen, die um das Jahr
1880, oder sagen wir geradezu, in das, wie wir sehen werden, sehr merk¬
würdige Jahr 1882, das Erscheinungsjahr des „Parsifal" fällt; tritt doch um
diese Zeit auch sein anfänglicher Freund und späterer Gegner Friedrich Nietzsche


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[0380] Die Alten und die Jungen 8 Ich habe bisher absichtlich nichts oder doch nur wenig von Richard Wagner gesagt. Daß er die Erscheinung ist, die das gesamte deutsche Kul¬ turleben vom Ende der sechziger bis zum Anfang der achtziger Jahre am mächtigsten beeinflußt hat, wird niemand bestreiten, mag er sich im übrigen zu ihm stellen, wie er will. Litzmann hebt hervor, daß er allein durch sein Dasein daran erinnert habe, daß das deutsche Volk noch eine andre als eine politische und militärische Rolle zu spielen habe, und nimmt eine befruchtende An¬ regung unsers gesamten künstlerischen Lebens durch Wagner an, den Mann, der „für die Vatcrgötter deutschen Volkes lebenslang gezeugt." Ich will ihm nicht widersprechen, aber daneben erscheint mir die Auffassung Wagners als des Hauptvertreters der deutschen und vielleicht der allgemeinen Decadence nicht so leicht abzuweisen. Für einen musikalischen Laien ist es schwer, sich über eine Erscheinung wie Wagner ein klares Urteil zu bilden; daß er aber seine Stoffe, mit Ausnahme etwa der „Meistersinger," durchaus im Sinne der Decadence verwertet, wird jeder zugeben, der ein litterarisches Urteil hat. Es klingt ja ganz hübsch, wenn z. B. Max Koch sagt: „Die von Goethe gepriesene befreiende Macht der Selbstüberwindung ist im Parsifal als welt¬ erlösendes Mitleiden, wie in den Nibelungen der Sieg über die Mächte der Nacht und des Neides in frei und stolz das Leben abwerfenden Schicksals¬ trotze des germanischen Gottes und Helden als höchstes nationales Kunstwerk zur dramatischen That geworden"; ich habe aber immer den Eindruck, als habe Magner den germanischen Göttern und Helden das Mark aus den Knochen gesogen, und von den modernen Erlösern habe ich nie viel gehalten. Damit stimmt es so ziemlich zusammen, wenn Wilhelm Weigand schreibt: „Das selige Vegetiren der Romantiker ist bei Richard Wagner zum Aufgehen in der Musik geworden. Wagner glaubt alles Ernstes, daß seine Musik er¬ löse. Wagner hat sein ganzes Leben lang die Einheit von Geist und Sinn¬ lichkeit gesucht, um zuletzt, wie alle Romantiker, als Frömmler zu enden." Der Ausdruck Frömmler ist vielleicht zu stark. Aber, wie gesagt, ich fühle mich uicht kompetent, die Entscheidung über Wagner ist jedenfalls nur auf dem Boden der Musik zu fällen, aber schon die oft bezeugte, in Rausch ver¬ setzende und nervenaufrührende Wirkung seiner Musik spricht für den Verfall¬ charakter seiner Kunst. Auch sind die fanatischen Anhänger Wagners jeder¬ zeit Verfallzeitler gewesen. Aber Wagner ist, so groß sein Wirkungskreis auch war und noch ist — man hat sich eben inzwischen mehr an das „Gift" gewöhnt —, keineswegs der einzige Vertreter der deutschen Hochdecadeuee gewesen, die um das Jahr 1880, oder sagen wir geradezu, in das, wie wir sehen werden, sehr merk¬ würdige Jahr 1882, das Erscheinungsjahr des „Parsifal" fällt; tritt doch um diese Zeit auch sein anfänglicher Freund und späterer Gegner Friedrich Nietzsche

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/380>, abgerufen am 25.11.2024.