Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.Die Alten und die Jungen des Knaben Wunderhorn, da ist ein Quell erfrischenden Wassers, wie er aus Das Bild der deutschen Litteratur der siebziger Jahre vervollständigt Die Alten und die Jungen des Knaben Wunderhorn, da ist ein Quell erfrischenden Wassers, wie er aus Das Bild der deutschen Litteratur der siebziger Jahre vervollständigt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0379" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/223321"/> <fw type="header" place="top"> Die Alten und die Jungen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1086" prev="#ID_1085"> des Knaben Wunderhorn, da ist ein Quell erfrischenden Wassers, wie er aus<lb/> Felsenadern sprudelt, und hier ein Gebräusel, von Heu abgezogen. Dazu die<lb/> Romantik der Geschichte usw." Zunächst kamen solche Stimmen natürlich<lb/> nicht gegen die Mode auf, spater aber setzte die jüngstdeutsche Kritik gerade<lb/> gegen Ebers, Wolfs und Genossen mächtig ein, und daß die neue Richtung<lb/> siegte, verdankte sie vor allem dem Umstände, daß sie solche Gegner vor sich<lb/> hatte. Im übrigen ist wohl niemals eine Poesie in Deutschland bei den<lb/> Dichtern uiedernsten Ranges so beliebt gewesen wie diese, so einen „Sang"<lb/> oder eine „Märe" mit irgend einem Landstreicher als Helden konnte auch der<lb/> gottverlassenste Kerl unter ihnen zusammenstoppeln, und seine vorrätige Lyrik<lb/> wurde er bei dieser Gelegenheit auch gleich los. Ich beneide den neuen<lb/> Goedecke nicht, der die Werke dieser Art einst aus ganz Deutschland wird zu-<lb/> sammensuchen müssen. Und er soll sich alles genan ansehen, einiges wertvollere<lb/> ist doch dabei, indem manchmal die Heimatliebe des Verfassers aus dem Sang<lb/> etwas werden ließ, wenn auch meist nur von örtlicher Bedeutung. Da Fried¬<lb/> rich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden" in der „katholischen" Litteratur als<lb/> klassisches Werk gilt, so nenne ich beispielsweise die beiden epischen Dichtungen<lb/> Friedrich Geßlers, des jungverstorbncn badischen Dichters (der nebenbei be¬<lb/> merkt wegen seiner „Sonette eines Feldsoldaten" auch in der Lyrik von 1870<lb/> einen Platz verdient): „Dieter und Walheide" und „Hohengeroldseck." Auch<lb/> hat der „Sang," der, ästhetisch betrachtet, zwischen dem alten objektiven und<lb/> dem modernen subjektiven Epos ja nicht ganz unglücklich die Mitte hält, sogar<lb/> den neuen Sturm und Drang überdauert und, realistischer geworden, in Josef<lb/> Laufs (geb. 1855 zu Köln) und Richard Nordhausen (geb. 1868 zu Berlin)<lb/> neuerdings begabte Vertreter gefunden.</p><lb/> <p xml:id="ID_1087"> Das Bild der deutschen Litteratur der siebziger Jahre vervollständigt<lb/> dann der Familienroman, von Frauenzimmern geschrieben und von Frauen¬<lb/> zimmern leidenschaftlich gelesen. Da ist die Gartenlaubenreihe: Marlitt-Werner-<lb/> Heimburg, dn sind die mehr aristokratischen Schriftstellerinnen von „Über Land<lb/> und Meer," später die Größen von „Schorers Familienblatt"; daß gegen die<lb/> meist industriellen Kräfte wirkliche Talente wie Louise v. Fran^vis u. ni.<lb/> schwer aufkamen, versteht sich von selbst. Als die „Höhe" dieser ganzen Ent¬<lb/> wicklung hat Nataly von Eschstruth zu gelten, bei der der Backfisch buchstäblich<lb/> Zuletzt in Hosen auftritt, aber dabei immer sehr anständig bleibt und deshalb<lb/> auch seinen Leutnant bekommt. Von Dichtern war zuletzt in der Litteratur<lb/> der siebziger Jahre einfach nichts mehr zu bemerken, selbst die noch rüstig<lb/> fvrtproduzirenden Münchner waren ganz zurückgetreten, mit Ausnahme von<lb/> Paul Heyse, dessen Novellen zu lesen zum guten Ton gehörte. Erst nach 1880<lb/> kamen allmählich die großen alten und neuen Talente, Gottfried Keller,<lb/> Konrad Ferdinand Meyer und Marie v. Ebner-Eschenbach zu allgemeinerer<lb/> Geltung.</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0379]
Die Alten und die Jungen
des Knaben Wunderhorn, da ist ein Quell erfrischenden Wassers, wie er aus
Felsenadern sprudelt, und hier ein Gebräusel, von Heu abgezogen. Dazu die
Romantik der Geschichte usw." Zunächst kamen solche Stimmen natürlich
nicht gegen die Mode auf, spater aber setzte die jüngstdeutsche Kritik gerade
gegen Ebers, Wolfs und Genossen mächtig ein, und daß die neue Richtung
siegte, verdankte sie vor allem dem Umstände, daß sie solche Gegner vor sich
hatte. Im übrigen ist wohl niemals eine Poesie in Deutschland bei den
Dichtern uiedernsten Ranges so beliebt gewesen wie diese, so einen „Sang"
oder eine „Märe" mit irgend einem Landstreicher als Helden konnte auch der
gottverlassenste Kerl unter ihnen zusammenstoppeln, und seine vorrätige Lyrik
wurde er bei dieser Gelegenheit auch gleich los. Ich beneide den neuen
Goedecke nicht, der die Werke dieser Art einst aus ganz Deutschland wird zu-
sammensuchen müssen. Und er soll sich alles genan ansehen, einiges wertvollere
ist doch dabei, indem manchmal die Heimatliebe des Verfassers aus dem Sang
etwas werden ließ, wenn auch meist nur von örtlicher Bedeutung. Da Fried¬
rich Wilhelm Webers „Dreizehnlinden" in der „katholischen" Litteratur als
klassisches Werk gilt, so nenne ich beispielsweise die beiden epischen Dichtungen
Friedrich Geßlers, des jungverstorbncn badischen Dichters (der nebenbei be¬
merkt wegen seiner „Sonette eines Feldsoldaten" auch in der Lyrik von 1870
einen Platz verdient): „Dieter und Walheide" und „Hohengeroldseck." Auch
hat der „Sang," der, ästhetisch betrachtet, zwischen dem alten objektiven und
dem modernen subjektiven Epos ja nicht ganz unglücklich die Mitte hält, sogar
den neuen Sturm und Drang überdauert und, realistischer geworden, in Josef
Laufs (geb. 1855 zu Köln) und Richard Nordhausen (geb. 1868 zu Berlin)
neuerdings begabte Vertreter gefunden.
Das Bild der deutschen Litteratur der siebziger Jahre vervollständigt
dann der Familienroman, von Frauenzimmern geschrieben und von Frauen¬
zimmern leidenschaftlich gelesen. Da ist die Gartenlaubenreihe: Marlitt-Werner-
Heimburg, dn sind die mehr aristokratischen Schriftstellerinnen von „Über Land
und Meer," später die Größen von „Schorers Familienblatt"; daß gegen die
meist industriellen Kräfte wirkliche Talente wie Louise v. Fran^vis u. ni.
schwer aufkamen, versteht sich von selbst. Als die „Höhe" dieser ganzen Ent¬
wicklung hat Nataly von Eschstruth zu gelten, bei der der Backfisch buchstäblich
Zuletzt in Hosen auftritt, aber dabei immer sehr anständig bleibt und deshalb
auch seinen Leutnant bekommt. Von Dichtern war zuletzt in der Litteratur
der siebziger Jahre einfach nichts mehr zu bemerken, selbst die noch rüstig
fvrtproduzirenden Münchner waren ganz zurückgetreten, mit Ausnahme von
Paul Heyse, dessen Novellen zu lesen zum guten Ton gehörte. Erst nach 1880
kamen allmählich die großen alten und neuen Talente, Gottfried Keller,
Konrad Ferdinand Meyer und Marie v. Ebner-Eschenbach zu allgemeinerer
Geltung.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |