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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Unsre Volkstrachten

selbst auf das Größere und Tiefere des Strebens nach Erhaltung der Tracht.
Man muß sie in ihre Umgebung versetzen. Mit ihr hängt sie uicht bloß in
dem geschichtlichen Sinne zusammen, daß die Volkstracht das kräftigste Leben
in der Zeit hatte, wo die Jahrhunderte das breite Holzhaus mit dem schon
geschnitzten Giebel brannten, in dessen Küche und Wohnraum der Kessel an
der Kette hing und der Kienspan im Spalt ein viel tieferes, farbigeres Licht,
wenn auch ein trüberes, ausstrahlte, als die Petroleumlampe; es war zugleich
die Zeit, wo die Axt im Haus den Zimmermann sparte, der Bauer sein eigner
Handwerker und die Bäuerin am Spinnrad ihre eigne Leinwandfabrikantin war.
Ich denke jetzt mehr an die licht- und farbenreiche Umgebung der Wiesen,
Äcker und Wälder, in die die farbenreichen Volkstrachten so recht hineinpassen, und
aus der so manche Farbenzusammenstellung unmittelbar genommen zu sein
scheint. Wer zum Kirchgang die Nose am Hut, hinterm Ohr oder im Munde
trägt, wie der Bursch, und den Strauß im Mieder wie das Mädchen, kleidet
sich auch nicht vom Kopf bis zu den Füßen in schwarz oder grau. Die Farben¬
furcht kommt dem Pfahlbürger natürlich vor, der in seiner sonnen- und farblosen
städtischen Umgebung mit aller Poesie auch den Farbensinn eingebüßt hat.
Für jene wäre es wider die Natur. Und nicht bloß wider die Natur, die
sie umgibt, sondern auch Wider die, die in ihnen ist. Kein Not und Grün an
sich leiden zu wollen, alles aus ödes Schwarz und Weiß zu reduziren, ist ein
Stück widernatürliche soziale Heuchelei, Wer seiner natürlichen Freude am
Dasein Ausdruck giebt, zeigt auch, daß er Farbe liebt. Aber in unsrer
deutschen bürgerlichen Gesellschaft braucht nur einer eine Nelke ins Knopfloch
zu stecken, so muß er gleich ein Sozialdemokrat oder ein Don Juan sein.

Damit sind wir bei dem schwierigsten Kapitel der Tracht, bei der Tracht
der Gebildeten und dem Verhältnis der Mode zur Tracht angekommen.
Darüber hier nur soviel, daß in keinem Lande der Welt gegenwärtig die Charakter¬
losigkeit und Schwunglosigkeit in allem, was Kleid und Schmuck heißt,
soweit gedeihen ist wie in Deutschland. Was die Franzosen und Engländer
vormachen, ahmen wir blind nach, zum Selbstschaffen fehlt uns der freie, mutige
Sinn. Die philiströsesten Bekleidungsweisen finden bei den deutscheu Männern
und Jünglinge die weiteste Verbreitung. Der schwarze Gehrock, geöffnet, so daß
er schlapp auf beiden Seiten herunterhängt, vielfach etwas schäbig, das Nöhren-
beinkleid, schlechtes Schuhwerk: das ist national. Dieses Zeichen mangelnden
Selbstgefühls ist sehr beachtenswert. Es ist dasselbe Sichwegwerfen wie beim
Aufgeben der bäuerliche" Tracht. Nur nicht hervortreten, nur nicht angesehen
werden! Zugleich steckt unser Nationallaster, das Phlegma darin. Wenn doch
die Trachtenbewegung vom Land in die Städte dränge und die Aufmerksamkeit
vieler auf diese Zustände richtete, die eigentlich beschämend sind! Wir werden
zwar keine Tracht im Handumdrehen schassen. Wieviel schöner und besser
flösse aber unser tägliches Leben, wenn viele Einzelne auch in ihrem äußern


Unsre Volkstrachten

selbst auf das Größere und Tiefere des Strebens nach Erhaltung der Tracht.
Man muß sie in ihre Umgebung versetzen. Mit ihr hängt sie uicht bloß in
dem geschichtlichen Sinne zusammen, daß die Volkstracht das kräftigste Leben
in der Zeit hatte, wo die Jahrhunderte das breite Holzhaus mit dem schon
geschnitzten Giebel brannten, in dessen Küche und Wohnraum der Kessel an
der Kette hing und der Kienspan im Spalt ein viel tieferes, farbigeres Licht,
wenn auch ein trüberes, ausstrahlte, als die Petroleumlampe; es war zugleich
die Zeit, wo die Axt im Haus den Zimmermann sparte, der Bauer sein eigner
Handwerker und die Bäuerin am Spinnrad ihre eigne Leinwandfabrikantin war.
Ich denke jetzt mehr an die licht- und farbenreiche Umgebung der Wiesen,
Äcker und Wälder, in die die farbenreichen Volkstrachten so recht hineinpassen, und
aus der so manche Farbenzusammenstellung unmittelbar genommen zu sein
scheint. Wer zum Kirchgang die Nose am Hut, hinterm Ohr oder im Munde
trägt, wie der Bursch, und den Strauß im Mieder wie das Mädchen, kleidet
sich auch nicht vom Kopf bis zu den Füßen in schwarz oder grau. Die Farben¬
furcht kommt dem Pfahlbürger natürlich vor, der in seiner sonnen- und farblosen
städtischen Umgebung mit aller Poesie auch den Farbensinn eingebüßt hat.
Für jene wäre es wider die Natur. Und nicht bloß wider die Natur, die
sie umgibt, sondern auch Wider die, die in ihnen ist. Kein Not und Grün an
sich leiden zu wollen, alles aus ödes Schwarz und Weiß zu reduziren, ist ein
Stück widernatürliche soziale Heuchelei, Wer seiner natürlichen Freude am
Dasein Ausdruck giebt, zeigt auch, daß er Farbe liebt. Aber in unsrer
deutschen bürgerlichen Gesellschaft braucht nur einer eine Nelke ins Knopfloch
zu stecken, so muß er gleich ein Sozialdemokrat oder ein Don Juan sein.

Damit sind wir bei dem schwierigsten Kapitel der Tracht, bei der Tracht
der Gebildeten und dem Verhältnis der Mode zur Tracht angekommen.
Darüber hier nur soviel, daß in keinem Lande der Welt gegenwärtig die Charakter¬
losigkeit und Schwunglosigkeit in allem, was Kleid und Schmuck heißt,
soweit gedeihen ist wie in Deutschland. Was die Franzosen und Engländer
vormachen, ahmen wir blind nach, zum Selbstschaffen fehlt uns der freie, mutige
Sinn. Die philiströsesten Bekleidungsweisen finden bei den deutscheu Männern
und Jünglinge die weiteste Verbreitung. Der schwarze Gehrock, geöffnet, so daß
er schlapp auf beiden Seiten herunterhängt, vielfach etwas schäbig, das Nöhren-
beinkleid, schlechtes Schuhwerk: das ist national. Dieses Zeichen mangelnden
Selbstgefühls ist sehr beachtenswert. Es ist dasselbe Sichwegwerfen wie beim
Aufgeben der bäuerliche» Tracht. Nur nicht hervortreten, nur nicht angesehen
werden! Zugleich steckt unser Nationallaster, das Phlegma darin. Wenn doch
die Trachtenbewegung vom Land in die Städte dränge und die Aufmerksamkeit
vieler auf diese Zustände richtete, die eigentlich beschämend sind! Wir werden
zwar keine Tracht im Handumdrehen schassen. Wieviel schöner und besser
flösse aber unser tägliches Leben, wenn viele Einzelne auch in ihrem äußern


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[0371] Unsre Volkstrachten selbst auf das Größere und Tiefere des Strebens nach Erhaltung der Tracht. Man muß sie in ihre Umgebung versetzen. Mit ihr hängt sie uicht bloß in dem geschichtlichen Sinne zusammen, daß die Volkstracht das kräftigste Leben in der Zeit hatte, wo die Jahrhunderte das breite Holzhaus mit dem schon geschnitzten Giebel brannten, in dessen Küche und Wohnraum der Kessel an der Kette hing und der Kienspan im Spalt ein viel tieferes, farbigeres Licht, wenn auch ein trüberes, ausstrahlte, als die Petroleumlampe; es war zugleich die Zeit, wo die Axt im Haus den Zimmermann sparte, der Bauer sein eigner Handwerker und die Bäuerin am Spinnrad ihre eigne Leinwandfabrikantin war. Ich denke jetzt mehr an die licht- und farbenreiche Umgebung der Wiesen, Äcker und Wälder, in die die farbenreichen Volkstrachten so recht hineinpassen, und aus der so manche Farbenzusammenstellung unmittelbar genommen zu sein scheint. Wer zum Kirchgang die Nose am Hut, hinterm Ohr oder im Munde trägt, wie der Bursch, und den Strauß im Mieder wie das Mädchen, kleidet sich auch nicht vom Kopf bis zu den Füßen in schwarz oder grau. Die Farben¬ furcht kommt dem Pfahlbürger natürlich vor, der in seiner sonnen- und farblosen städtischen Umgebung mit aller Poesie auch den Farbensinn eingebüßt hat. Für jene wäre es wider die Natur. Und nicht bloß wider die Natur, die sie umgibt, sondern auch Wider die, die in ihnen ist. Kein Not und Grün an sich leiden zu wollen, alles aus ödes Schwarz und Weiß zu reduziren, ist ein Stück widernatürliche soziale Heuchelei, Wer seiner natürlichen Freude am Dasein Ausdruck giebt, zeigt auch, daß er Farbe liebt. Aber in unsrer deutschen bürgerlichen Gesellschaft braucht nur einer eine Nelke ins Knopfloch zu stecken, so muß er gleich ein Sozialdemokrat oder ein Don Juan sein. Damit sind wir bei dem schwierigsten Kapitel der Tracht, bei der Tracht der Gebildeten und dem Verhältnis der Mode zur Tracht angekommen. Darüber hier nur soviel, daß in keinem Lande der Welt gegenwärtig die Charakter¬ losigkeit und Schwunglosigkeit in allem, was Kleid und Schmuck heißt, soweit gedeihen ist wie in Deutschland. Was die Franzosen und Engländer vormachen, ahmen wir blind nach, zum Selbstschaffen fehlt uns der freie, mutige Sinn. Die philiströsesten Bekleidungsweisen finden bei den deutscheu Männern und Jünglinge die weiteste Verbreitung. Der schwarze Gehrock, geöffnet, so daß er schlapp auf beiden Seiten herunterhängt, vielfach etwas schäbig, das Nöhren- beinkleid, schlechtes Schuhwerk: das ist national. Dieses Zeichen mangelnden Selbstgefühls ist sehr beachtenswert. Es ist dasselbe Sichwegwerfen wie beim Aufgeben der bäuerliche» Tracht. Nur nicht hervortreten, nur nicht angesehen werden! Zugleich steckt unser Nationallaster, das Phlegma darin. Wenn doch die Trachtenbewegung vom Land in die Städte dränge und die Aufmerksamkeit vieler auf diese Zustände richtete, die eigentlich beschämend sind! Wir werden zwar keine Tracht im Handumdrehen schassen. Wieviel schöner und besser flösse aber unser tägliches Leben, wenn viele Einzelne auch in ihrem äußern

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/371>, abgerufen am 01.09.2024.