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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Lin unbequemer Konservativer

weise, Brentano in Vreslau und Knapp in Straßburg zu dieser Partei. Zu
ihrer Unterstützung hatten diese Herren sich die Führer der Gewerkvereine,
Duncker und Hirsch, mitgebracht, die wieder ein Gefolge von Gewerkvereinlern
um sich sammelten, an die sich wieder einige Arbeitgeber und Verwaltungs¬
beamte wie Borcherdt aus Berlin und Wolfs aus Meerane anlehnten." Der
Streit zwischen den beiden Parteien bewegte sich vorzugsweise um die Orga¬
nisation der Arbeiterschaft. Die Liberalen wollten natürlich Koalitionsfreiheit
und Gewerkvereine nach englischem Muster, die konservativen Kathedersozialisten
dagegen die Zwangsversicherung; ja diese entschieden sich sogar für die Be¬
strafung des Kvntraktbruchs, obwohl der Referent, Held, dagegen gesprochen
hatte. Wagener mißbilligt diese Entscheidung. Er berichtet u. a.: "Wenn die
Verteidiger der Bestrafung des Kontraktbruchs auf die Schäden hinwiesen, die
aus dem Allgemeinwerden von Kontraktbrüchen für Industrielle und für die
Industrie im allgemeinen erwüchsen, so wurde ^dagegen^ geltend gemacht, daß
die Kontraktbrüche der Industriellen und namentlich der Handwerker weit
häufiger und eine von Alters her sehr wohlbekannte Thatsache seien, ohne daß
man bisher daran gedacht habe, sie kriminell bestrafen zu wollen. Das einzig
durchschlagende Motiv sür die ganz exzeptionelle Bestrafung der Arbeiter sei,
daß man bei der vollen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit den Arbeiter schwer
fassen und bei seiner notorischen Armut ihm auf zivilrechtlichen Wege keine
Entschädigung für den Kontraktbruch auferlegen könne. Acceptire man die
diesen Motiven zu Grunde liegenden Thatsachen, so sei es offenbar richtiger,
die Arbeiter zu organisiren und sie solidarisch haftbar zu machen. Die Sozial¬
demokratie werde übrigens dankbar dafür sein, daß die bettelhafte Armut der
Arbeiter jetzt selbst von der Gesetzgebung zugestanden werde."

Man muß gestehn, das Motto, das Meyer auf dieses Buch gesetzt hat,
paßt vortrefflich: "Alles Geschelte ist schou gedacht worden, man muß nnr
versuchen, es uoch einmal zu denken." Es auch immer und immer wieder zu
sagen, dazu gehört allerdings ein gewisser Mut. Meyer hat diesen Mut, wird
aber damit unter den heutigen Uniständen nicht viel ausrichten. Er hat seiner¬
zeit für einen bedeutenden Nationalökonomen gegolten und scheint sich in
Österreich und Frankreich noch heute eines gewissen Ansehens zu erfreuen.
Aber mit den Konservativen im deutschen Reiche hat er es gründlich verdorben,
die Liberalen mögen selbstverständlich nichts von ihm wissen, die Ultramontanen
und die Sozialdemokraten aber brauchen ihn nicht, denn die einen haben ihre
sozialpolitischen Jesuiten, und diese haben so schon mehr Gelehrte, als ihre
Kasse zu tragen vermag. Dazu erschwert Meyer seinen neuern Veröffent¬
lichungen den Eingang durch die Nachlässigkeit der Form -- seine Kränklichkeit,
die er öfter erwähnt, kann man einigermaßen als Entschuldigung gelten lassen --
und durch wegwerfende Urteile über verdiente Fachmänner wie die Professoren
von der Goltz und Max Weber und den badischen Minister Buchenberger.


Lin unbequemer Konservativer

weise, Brentano in Vreslau und Knapp in Straßburg zu dieser Partei. Zu
ihrer Unterstützung hatten diese Herren sich die Führer der Gewerkvereine,
Duncker und Hirsch, mitgebracht, die wieder ein Gefolge von Gewerkvereinlern
um sich sammelten, an die sich wieder einige Arbeitgeber und Verwaltungs¬
beamte wie Borcherdt aus Berlin und Wolfs aus Meerane anlehnten." Der
Streit zwischen den beiden Parteien bewegte sich vorzugsweise um die Orga¬
nisation der Arbeiterschaft. Die Liberalen wollten natürlich Koalitionsfreiheit
und Gewerkvereine nach englischem Muster, die konservativen Kathedersozialisten
dagegen die Zwangsversicherung; ja diese entschieden sich sogar für die Be¬
strafung des Kvntraktbruchs, obwohl der Referent, Held, dagegen gesprochen
hatte. Wagener mißbilligt diese Entscheidung. Er berichtet u. a.: „Wenn die
Verteidiger der Bestrafung des Kontraktbruchs auf die Schäden hinwiesen, die
aus dem Allgemeinwerden von Kontraktbrüchen für Industrielle und für die
Industrie im allgemeinen erwüchsen, so wurde ^dagegen^ geltend gemacht, daß
die Kontraktbrüche der Industriellen und namentlich der Handwerker weit
häufiger und eine von Alters her sehr wohlbekannte Thatsache seien, ohne daß
man bisher daran gedacht habe, sie kriminell bestrafen zu wollen. Das einzig
durchschlagende Motiv sür die ganz exzeptionelle Bestrafung der Arbeiter sei,
daß man bei der vollen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit den Arbeiter schwer
fassen und bei seiner notorischen Armut ihm auf zivilrechtlichen Wege keine
Entschädigung für den Kontraktbruch auferlegen könne. Acceptire man die
diesen Motiven zu Grunde liegenden Thatsachen, so sei es offenbar richtiger,
die Arbeiter zu organisiren und sie solidarisch haftbar zu machen. Die Sozial¬
demokratie werde übrigens dankbar dafür sein, daß die bettelhafte Armut der
Arbeiter jetzt selbst von der Gesetzgebung zugestanden werde."

Man muß gestehn, das Motto, das Meyer auf dieses Buch gesetzt hat,
paßt vortrefflich: „Alles Geschelte ist schou gedacht worden, man muß nnr
versuchen, es uoch einmal zu denken." Es auch immer und immer wieder zu
sagen, dazu gehört allerdings ein gewisser Mut. Meyer hat diesen Mut, wird
aber damit unter den heutigen Uniständen nicht viel ausrichten. Er hat seiner¬
zeit für einen bedeutenden Nationalökonomen gegolten und scheint sich in
Österreich und Frankreich noch heute eines gewissen Ansehens zu erfreuen.
Aber mit den Konservativen im deutschen Reiche hat er es gründlich verdorben,
die Liberalen mögen selbstverständlich nichts von ihm wissen, die Ultramontanen
und die Sozialdemokraten aber brauchen ihn nicht, denn die einen haben ihre
sozialpolitischen Jesuiten, und diese haben so schon mehr Gelehrte, als ihre
Kasse zu tragen vermag. Dazu erschwert Meyer seinen neuern Veröffent¬
lichungen den Eingang durch die Nachlässigkeit der Form — seine Kränklichkeit,
die er öfter erwähnt, kann man einigermaßen als Entschuldigung gelten lassen —
und durch wegwerfende Urteile über verdiente Fachmänner wie die Professoren
von der Goltz und Max Weber und den badischen Minister Buchenberger.


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[0364] Lin unbequemer Konservativer weise, Brentano in Vreslau und Knapp in Straßburg zu dieser Partei. Zu ihrer Unterstützung hatten diese Herren sich die Führer der Gewerkvereine, Duncker und Hirsch, mitgebracht, die wieder ein Gefolge von Gewerkvereinlern um sich sammelten, an die sich wieder einige Arbeitgeber und Verwaltungs¬ beamte wie Borcherdt aus Berlin und Wolfs aus Meerane anlehnten." Der Streit zwischen den beiden Parteien bewegte sich vorzugsweise um die Orga¬ nisation der Arbeiterschaft. Die Liberalen wollten natürlich Koalitionsfreiheit und Gewerkvereine nach englischem Muster, die konservativen Kathedersozialisten dagegen die Zwangsversicherung; ja diese entschieden sich sogar für die Be¬ strafung des Kvntraktbruchs, obwohl der Referent, Held, dagegen gesprochen hatte. Wagener mißbilligt diese Entscheidung. Er berichtet u. a.: „Wenn die Verteidiger der Bestrafung des Kontraktbruchs auf die Schäden hinwiesen, die aus dem Allgemeinwerden von Kontraktbrüchen für Industrielle und für die Industrie im allgemeinen erwüchsen, so wurde ^dagegen^ geltend gemacht, daß die Kontraktbrüche der Industriellen und namentlich der Handwerker weit häufiger und eine von Alters her sehr wohlbekannte Thatsache seien, ohne daß man bisher daran gedacht habe, sie kriminell bestrafen zu wollen. Das einzig durchschlagende Motiv sür die ganz exzeptionelle Bestrafung der Arbeiter sei, daß man bei der vollen Freizügigkeit und Gewerbefreiheit den Arbeiter schwer fassen und bei seiner notorischen Armut ihm auf zivilrechtlichen Wege keine Entschädigung für den Kontraktbruch auferlegen könne. Acceptire man die diesen Motiven zu Grunde liegenden Thatsachen, so sei es offenbar richtiger, die Arbeiter zu organisiren und sie solidarisch haftbar zu machen. Die Sozial¬ demokratie werde übrigens dankbar dafür sein, daß die bettelhafte Armut der Arbeiter jetzt selbst von der Gesetzgebung zugestanden werde." Man muß gestehn, das Motto, das Meyer auf dieses Buch gesetzt hat, paßt vortrefflich: „Alles Geschelte ist schou gedacht worden, man muß nnr versuchen, es uoch einmal zu denken." Es auch immer und immer wieder zu sagen, dazu gehört allerdings ein gewisser Mut. Meyer hat diesen Mut, wird aber damit unter den heutigen Uniständen nicht viel ausrichten. Er hat seiner¬ zeit für einen bedeutenden Nationalökonomen gegolten und scheint sich in Österreich und Frankreich noch heute eines gewissen Ansehens zu erfreuen. Aber mit den Konservativen im deutschen Reiche hat er es gründlich verdorben, die Liberalen mögen selbstverständlich nichts von ihm wissen, die Ultramontanen und die Sozialdemokraten aber brauchen ihn nicht, denn die einen haben ihre sozialpolitischen Jesuiten, und diese haben so schon mehr Gelehrte, als ihre Kasse zu tragen vermag. Dazu erschwert Meyer seinen neuern Veröffent¬ lichungen den Eingang durch die Nachlässigkeit der Form — seine Kränklichkeit, die er öfter erwähnt, kann man einigermaßen als Entschuldigung gelten lassen — und durch wegwerfende Urteile über verdiente Fachmänner wie die Professoren von der Goltz und Max Weber und den badischen Minister Buchenberger.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/364>, abgerufen am 26.11.2024.