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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Gin unbequemer Konservativer

"Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am
Alten und durch strenge Verfolgung ihrer Grundsätze entgegentreten könne, hat
besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und ihr eine stets
wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß,
sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht
Freiwillige annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungnen An¬
nahme entgegensehen muß. Also eine Revolution in gutem Sinne, geradehin
führend zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menschheit, dnrch Weisheit
der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsiv" von innen oder außen --
das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip." Freilich sprach und schrieb man
so erst, nachdem die "gewaltsame Impulsion von anßen" schon erfolgt war und
dazu genötigt hatte. Ein paar Jahre vorher war Ernst Moritz Arndt von
den Edelleuten des damals noch schwedischen Neuvorpommerns als Leutever-
derber und Bauernaufhetzer verfolgt worden, weil er die Vauernlegerei des
Fürsten Putbus gegeißelt hatte; aber der König Gustav IV. schlug die Unter¬
suchung gegen ihn nieder und reformirte ebenfalls.

In der Zeit, wo in England der brutalste Kapitalismus seine Orgien
feierte, deren Lust eben erst anfing von der chartistischen Lärmtrompete gestört
zu werden, war in Deutschland der humane Geist der Klassikerzeit uoch lebendig,
der erst später in Verruf erklärt werden sollte. So schrieb Bodz Rehmond
in seinem Werte: Staatswesen und Menschenbildung (1837--1839), es sei
nicht die Aufgabe des Staats, dafür zu sorgen, daß jemand reich werde, hier
oder dort Reichtümer auf Reichtümer sich häuften, sondern, daß keiner arm
bleibe, nicht einer Not leide, und die Schriften und Briefe Thurms sind ganz
von dem Geiste edelster Humanität beseelt. In einem Briefe an seinen Bruder
Christian vom Jahre 1830 heißt es: "In einem sehr lebhaften Gespräch mit
Heinrich über die großen Gegenstände war es mir, als wenn sich plötzlich die
Zukunft den Blicken öffnete, und ich sah in den kommenden Jahrhunderten einen
andern furchtbaren Kampf beginnen, der zu seiner Entscheidung vielleicht ein
halbes Jahrtausend voller Zerstörung und Elend bedarf. Ich meine den
Kampf zwischen dem gebildeten Mittelstand und dem gemeinen Volk, oder
eigentlich zwischen dem Kapitalisten und dem Handarbeiter. In der gegen¬
wärtigen Krisis ist zwar alles durch das Volk, aber nichts für das Volk ge¬
schehen. Nur der Mittelstand hat Rechte gewonnen, kann diese künftig vertreten,
der Handarbeiter hat nirgends Zutritt zu den Kammern gefunden, kann auch
auf seiner jetzigen Bildungsstufe sich nicht selbst vertreten. Wem aber ist die
Vertretung der Rechte des Volkes -- der Handarbeiter -- anvertraut? Alle
Schriftsteller über Nationalökonomie sind darin einverstanden, daß die Summe
der zum Lebensunterhalt notwendigen Subsistenzmittel der natürliche Arbeits¬
lohn sei. Die Wissenschaft beherrscht notwendig die Meinung aller Menschen,
und so finden wir anch, daß alle Regierungen, alle Repräsentanten diesem


Gin unbequemer Konservativer

„Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am
Alten und durch strenge Verfolgung ihrer Grundsätze entgegentreten könne, hat
besonders dazu beigetragen, die Revolution zu befördern und ihr eine stets
wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß,
sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht
Freiwillige annimmt, entweder seinem Untergange oder der erzwungnen An¬
nahme entgegensehen muß. Also eine Revolution in gutem Sinne, geradehin
führend zu dem großen Zwecke der Veredlung der Menschheit, dnrch Weisheit
der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsiv» von innen oder außen —
das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip." Freilich sprach und schrieb man
so erst, nachdem die „gewaltsame Impulsion von anßen" schon erfolgt war und
dazu genötigt hatte. Ein paar Jahre vorher war Ernst Moritz Arndt von
den Edelleuten des damals noch schwedischen Neuvorpommerns als Leutever-
derber und Bauernaufhetzer verfolgt worden, weil er die Vauernlegerei des
Fürsten Putbus gegeißelt hatte; aber der König Gustav IV. schlug die Unter¬
suchung gegen ihn nieder und reformirte ebenfalls.

In der Zeit, wo in England der brutalste Kapitalismus seine Orgien
feierte, deren Lust eben erst anfing von der chartistischen Lärmtrompete gestört
zu werden, war in Deutschland der humane Geist der Klassikerzeit uoch lebendig,
der erst später in Verruf erklärt werden sollte. So schrieb Bodz Rehmond
in seinem Werte: Staatswesen und Menschenbildung (1837—1839), es sei
nicht die Aufgabe des Staats, dafür zu sorgen, daß jemand reich werde, hier
oder dort Reichtümer auf Reichtümer sich häuften, sondern, daß keiner arm
bleibe, nicht einer Not leide, und die Schriften und Briefe Thurms sind ganz
von dem Geiste edelster Humanität beseelt. In einem Briefe an seinen Bruder
Christian vom Jahre 1830 heißt es: „In einem sehr lebhaften Gespräch mit
Heinrich über die großen Gegenstände war es mir, als wenn sich plötzlich die
Zukunft den Blicken öffnete, und ich sah in den kommenden Jahrhunderten einen
andern furchtbaren Kampf beginnen, der zu seiner Entscheidung vielleicht ein
halbes Jahrtausend voller Zerstörung und Elend bedarf. Ich meine den
Kampf zwischen dem gebildeten Mittelstand und dem gemeinen Volk, oder
eigentlich zwischen dem Kapitalisten und dem Handarbeiter. In der gegen¬
wärtigen Krisis ist zwar alles durch das Volk, aber nichts für das Volk ge¬
schehen. Nur der Mittelstand hat Rechte gewonnen, kann diese künftig vertreten,
der Handarbeiter hat nirgends Zutritt zu den Kammern gefunden, kann auch
auf seiner jetzigen Bildungsstufe sich nicht selbst vertreten. Wem aber ist die
Vertretung der Rechte des Volkes — der Handarbeiter — anvertraut? Alle
Schriftsteller über Nationalökonomie sind darin einverstanden, daß die Summe
der zum Lebensunterhalt notwendigen Subsistenzmittel der natürliche Arbeits¬
lohn sei. Die Wissenschaft beherrscht notwendig die Meinung aller Menschen,
und so finden wir anch, daß alle Regierungen, alle Repräsentanten diesem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/360>, abgerufen am 01.09.2024.