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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Zur Jrrenpflege

geht nur von ganz Unkundigen aus. Man revidire, man thue es gründlich
und oft, aber man lasse die Revisionen von Leuten vornehmen, die das Fach
verstehen. Kein Beruf kann sich eine Aufsicht oder irgend ein Eingreifen ge¬
fallen lassen von Leuten, die keine Sachkunde haben und, statt Belehrung zu
erteilen, erst Belehrung empfangen müssen.

Alle Revisionen, auch die besten, dürfen nicht überschätzt werden. Gute
staatliche Aufsicht ist gewiß nicht zu verachten, sie hilft Mißstände abstellen und
verallgemeinert erst vereinzelt bestehende Errungenschaften, aber eigentlich
schöpferisch wirkt sie nicht. Alle Fortschritte in der Pflege und Heilung von
Geisteskranken können nur von den mitten in dieser Thätigkeit stehenden, d. h.
von den behandelnden Ärzten herrühren. Der Geist, in dem die Jrrenpflege
einer Anstalt gehnndhabt wird, geht von ihrem Leiter aus, teilt sich den Hilfs¬
ärzten mit und wird vou diesen dem ganzen Wartepersvnal eingeimpft. Daß
Ärzte und Wärter ans der Höhe ihrer Aufgabe stehen, das ist in der ganzen
Angelegenheit die Hauptfache.

Verweilen wir zunächst bei der Wärterfrage, der der Verfasser besondre
Aufmerksamkeit widmet. Er wünscht, daß zur bessern Ausbildung die Jrrenwärter
in eignen Schulen vorbereitet werden und erst uach Ablegung einer Prüfung
in ihren Beruf eintreten. Auch in der Anstalt sollen sie von den Ärzten in
besondern Kursen fortgebildet werden. Nach ihrem Dicnstalter und ihrer
Tüchtigkeit sollen sie dann in Anwärter, HilfsWärter und Wärter eingeteilt
werden. Die Stellung des Oberwärters wünscht der Verfasser aufgehoben
zu sehen. Von den Militäranwärtern, denen diese Stellung meist ohne
genügende Vorbereitung übertragen wird, behauptet er, daß sie eiuen
barschen militärischen Ton in die Krankenpflege brächten, der nicht hineingehöre.
Außerdem sei es viel besser, wenn der Arzt unmittelbar mit den Wärtern Ver¬
kehre und sie in allem anleite. Zwei bis drei Krankenbesuche an einem Tage
halt Erlenmeyer nicht für ausreichend, er wünscht den Arzt womöglich den
ganzen Tag auf den verschiednen Abteilungen zu sehen.

Hier scheint uns vieles grane Theorie zu sein. Vou der Ausbildung in
Würtcrschulen können wir uns nicht viel versprechen, weil sie vorwiegend
theoretisch sein würde. Jetzt wird in einer gut geleiteten Anstalt der neu-
eintretcnde Wärter planmäßig ausgebildet, indem er der Reihe nach den ver¬
schiednen Abteilungen: Wachsaal, Krankensaal, Station für Unruhige, Halb¬
ruhige, Ruhige usw. zugeteilt wird. Überall wird er von dem alten, erfahrnen
Stationswärter und in allen wichtigern Angelegenheiten von dem Arzte selbst
angeleitet. Eine solche Schulung versetzt ihn unmittelbar in die Praxis und
macht ihn am sichersten und schnellsten zu einem brauchbaren Wärter. Auch
besondre Fortbildungskurse innerhalb der Anstalt erscheinen uns gekünstelt.
In der Praxis des Krankensaales bietet sich alle Tage Gelegenheit, den an¬
gehenden Wärter unmittelbar auf seiue mannichfachen Obliegenheiten und auf


Zur Jrrenpflege

geht nur von ganz Unkundigen aus. Man revidire, man thue es gründlich
und oft, aber man lasse die Revisionen von Leuten vornehmen, die das Fach
verstehen. Kein Beruf kann sich eine Aufsicht oder irgend ein Eingreifen ge¬
fallen lassen von Leuten, die keine Sachkunde haben und, statt Belehrung zu
erteilen, erst Belehrung empfangen müssen.

Alle Revisionen, auch die besten, dürfen nicht überschätzt werden. Gute
staatliche Aufsicht ist gewiß nicht zu verachten, sie hilft Mißstände abstellen und
verallgemeinert erst vereinzelt bestehende Errungenschaften, aber eigentlich
schöpferisch wirkt sie nicht. Alle Fortschritte in der Pflege und Heilung von
Geisteskranken können nur von den mitten in dieser Thätigkeit stehenden, d. h.
von den behandelnden Ärzten herrühren. Der Geist, in dem die Jrrenpflege
einer Anstalt gehnndhabt wird, geht von ihrem Leiter aus, teilt sich den Hilfs¬
ärzten mit und wird vou diesen dem ganzen Wartepersvnal eingeimpft. Daß
Ärzte und Wärter ans der Höhe ihrer Aufgabe stehen, das ist in der ganzen
Angelegenheit die Hauptfache.

Verweilen wir zunächst bei der Wärterfrage, der der Verfasser besondre
Aufmerksamkeit widmet. Er wünscht, daß zur bessern Ausbildung die Jrrenwärter
in eignen Schulen vorbereitet werden und erst uach Ablegung einer Prüfung
in ihren Beruf eintreten. Auch in der Anstalt sollen sie von den Ärzten in
besondern Kursen fortgebildet werden. Nach ihrem Dicnstalter und ihrer
Tüchtigkeit sollen sie dann in Anwärter, HilfsWärter und Wärter eingeteilt
werden. Die Stellung des Oberwärters wünscht der Verfasser aufgehoben
zu sehen. Von den Militäranwärtern, denen diese Stellung meist ohne
genügende Vorbereitung übertragen wird, behauptet er, daß sie eiuen
barschen militärischen Ton in die Krankenpflege brächten, der nicht hineingehöre.
Außerdem sei es viel besser, wenn der Arzt unmittelbar mit den Wärtern Ver¬
kehre und sie in allem anleite. Zwei bis drei Krankenbesuche an einem Tage
halt Erlenmeyer nicht für ausreichend, er wünscht den Arzt womöglich den
ganzen Tag auf den verschiednen Abteilungen zu sehen.

Hier scheint uns vieles grane Theorie zu sein. Vou der Ausbildung in
Würtcrschulen können wir uns nicht viel versprechen, weil sie vorwiegend
theoretisch sein würde. Jetzt wird in einer gut geleiteten Anstalt der neu-
eintretcnde Wärter planmäßig ausgebildet, indem er der Reihe nach den ver¬
schiednen Abteilungen: Wachsaal, Krankensaal, Station für Unruhige, Halb¬
ruhige, Ruhige usw. zugeteilt wird. Überall wird er von dem alten, erfahrnen
Stationswärter und in allen wichtigern Angelegenheiten von dem Arzte selbst
angeleitet. Eine solche Schulung versetzt ihn unmittelbar in die Praxis und
macht ihn am sichersten und schnellsten zu einem brauchbaren Wärter. Auch
besondre Fortbildungskurse innerhalb der Anstalt erscheinen uns gekünstelt.
In der Praxis des Krankensaales bietet sich alle Tage Gelegenheit, den an¬
gehenden Wärter unmittelbar auf seiue mannichfachen Obliegenheiten und auf


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[0349] Zur Jrrenpflege geht nur von ganz Unkundigen aus. Man revidire, man thue es gründlich und oft, aber man lasse die Revisionen von Leuten vornehmen, die das Fach verstehen. Kein Beruf kann sich eine Aufsicht oder irgend ein Eingreifen ge¬ fallen lassen von Leuten, die keine Sachkunde haben und, statt Belehrung zu erteilen, erst Belehrung empfangen müssen. Alle Revisionen, auch die besten, dürfen nicht überschätzt werden. Gute staatliche Aufsicht ist gewiß nicht zu verachten, sie hilft Mißstände abstellen und verallgemeinert erst vereinzelt bestehende Errungenschaften, aber eigentlich schöpferisch wirkt sie nicht. Alle Fortschritte in der Pflege und Heilung von Geisteskranken können nur von den mitten in dieser Thätigkeit stehenden, d. h. von den behandelnden Ärzten herrühren. Der Geist, in dem die Jrrenpflege einer Anstalt gehnndhabt wird, geht von ihrem Leiter aus, teilt sich den Hilfs¬ ärzten mit und wird vou diesen dem ganzen Wartepersvnal eingeimpft. Daß Ärzte und Wärter ans der Höhe ihrer Aufgabe stehen, das ist in der ganzen Angelegenheit die Hauptfache. Verweilen wir zunächst bei der Wärterfrage, der der Verfasser besondre Aufmerksamkeit widmet. Er wünscht, daß zur bessern Ausbildung die Jrrenwärter in eignen Schulen vorbereitet werden und erst uach Ablegung einer Prüfung in ihren Beruf eintreten. Auch in der Anstalt sollen sie von den Ärzten in besondern Kursen fortgebildet werden. Nach ihrem Dicnstalter und ihrer Tüchtigkeit sollen sie dann in Anwärter, HilfsWärter und Wärter eingeteilt werden. Die Stellung des Oberwärters wünscht der Verfasser aufgehoben zu sehen. Von den Militäranwärtern, denen diese Stellung meist ohne genügende Vorbereitung übertragen wird, behauptet er, daß sie eiuen barschen militärischen Ton in die Krankenpflege brächten, der nicht hineingehöre. Außerdem sei es viel besser, wenn der Arzt unmittelbar mit den Wärtern Ver¬ kehre und sie in allem anleite. Zwei bis drei Krankenbesuche an einem Tage halt Erlenmeyer nicht für ausreichend, er wünscht den Arzt womöglich den ganzen Tag auf den verschiednen Abteilungen zu sehen. Hier scheint uns vieles grane Theorie zu sein. Vou der Ausbildung in Würtcrschulen können wir uns nicht viel versprechen, weil sie vorwiegend theoretisch sein würde. Jetzt wird in einer gut geleiteten Anstalt der neu- eintretcnde Wärter planmäßig ausgebildet, indem er der Reihe nach den ver¬ schiednen Abteilungen: Wachsaal, Krankensaal, Station für Unruhige, Halb¬ ruhige, Ruhige usw. zugeteilt wird. Überall wird er von dem alten, erfahrnen Stationswärter und in allen wichtigern Angelegenheiten von dem Arzte selbst angeleitet. Eine solche Schulung versetzt ihn unmittelbar in die Praxis und macht ihn am sichersten und schnellsten zu einem brauchbaren Wärter. Auch besondre Fortbildungskurse innerhalb der Anstalt erscheinen uns gekünstelt. In der Praxis des Krankensaales bietet sich alle Tage Gelegenheit, den an¬ gehenden Wärter unmittelbar auf seiue mannichfachen Obliegenheiten und auf

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/349>, abgerufen am 01.09.2024.