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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der geheilte j)ein

Klinger auch mit diesem Bilde merklich über die meisten andern hervor, die zu dem
Bilderschmuck des Pan beigetragen haben.

Und nun wollen wir Pan, den muntern, vielseitigen Gesellen, seine Wege
weiter ziehen lassen.^) Uns liegt die Kunst nicht weniger am Herzen, als das
Interesse der Leser, denen sie vorgeführt werden soll. Es ist uns ebenso sehr
um die Künstler zu thun, wie um unser Volk, für das sie doch schaffen wollen.
Aber wir meinen: welchem viel gegeben ist -- ob man nun darunter hier die
100 000 Mark der Aktionäre oder die geistige Begabung der künstlerischen und
litterarischen Mitarbeiter verstehen will --, von dem darf man anch wohl etwas
fordern. --

Wir schließen hieran noch einige Bemerkungen über das erste und zweite
Heft des neuesten -- siebenten -- Jahrgangs von Franz Hcmfstaengls Kunst-
zcitschrift: "Die Kunst unserer Zeit". Die um die Veröffentlichung hoch verdiente
Firma bietet in diesem Doppelheft, das auch allein abgegeben wird, unter dem
Titel: "Die Radirer unserer Zeit" sechsunddreißig Nachbildungen moderner Radi-
rungen von deutschen (mit Ausnahme Klingers,) französischen und englischen Künstlern.
Die Auswahl ist zweckmäßig, die Wiedergabe (Photogravüre und Netzdruck) vor¬
züglich, und die kleine Sonderaufgabe macht einen angenehmen, vornehmen Ein¬
druck. Der Text von Hans Singer ist gut. Vermißt haben wir darin ein Wort
über Hertomers "Serpentinentnnz", der abgebildet ist. Aufgefallen ist uus ein
Urteil gleich im Anfange, wo von Klinger gesagt wird, er sei zu vielseitig, um
Schüler zu haben, während bei Michelangelo, "dessen Ausdrucksform so einseitig
ist," der schulbildende Einfluß selbstverständlich sei. Das ist unrichtig ausgedrückt,
vielleicht auch schon nicht ganz klar gedacht. Michelangelo hat nicht deswegen seinen
in der Kunstgeschichte einzig dastehenden Einfluß ausgeübt, Weil feine Kunst ein¬
seitig war, sondern weil sie charakteristisch und gewaltig groß war. Sie kounte
von Nachahmern leicht einseitig und äußerlich aufgefaßt werden, aber ihr inneres,
Persönliches, vielseitiges Wesen haben sie wohlweislich auf seinem tiefen, stillen
Grunde sitzen lassen, und das suchen wir nun bei Michelangelo ganz allein und
finden es auch, sofern wir uns bemühen, es zu verstehen. Wenn Klinger eine
ähnlich große Kunst hat, worüber wir nicht streiten wollen, und wenn er darin
mit Michelangelo verglichen werden könnte, woran wir bis jetzt noch nicht gedacht
haben, so wäre die vorausgesetzte größere Vielseitigkeit jedenfalls kein Hindernis
für die Aneignung seiner Kunst und keine Erschwerung für seine Nachfolge. Denn
große charakteristische Züge müssen sich, wenn sie überhaupt vorhanden sind, auch
vereinzelt unter vielen ihresgleichen erfassen lassen. Wenn also Klinger noch
keine Schüler gebildet hat, so muß der Grund anderswo liegen. Hätte er sie
über uuter der Voraussetzung einer Michelangelo adäquaten Größe und größerer
Vielseitigkeit haben müssen, so wird ein Fehler in den Voraussetzungen liegen.
Mit solchen Parallelen thut man, meinen wir, keinem modernen Künstler einen
Gefallen. Wenn aber der Verfasser des Textes weiterhin sogar die Radirungen
des amerikanisch-französischen Farbenharmonikers Whistler "ohne Zaudern" mit
den Meisterwerken der altgriechischen Skulptur und in demselben Satze -- mit
den Bildern Giovanni Bellinis in "eine Reihe" stellt, so gehört das zu den unbe¬
dachten und irreführender geistreichen Blitzen, womit mau das Publikum, das uoch
soviel an den Elementen richtiger Kunstbetrachtuug zu lernen hat, nicht verwirren
sollte, vollends wenn man bedenkt, daß andere Leute Whistler, ebenfalls "ohne



*) Soeben ist das sechste Heft erschienen. Wir werden es später besprechen.
Der geheilte j)ein

Klinger auch mit diesem Bilde merklich über die meisten andern hervor, die zu dem
Bilderschmuck des Pan beigetragen haben.

Und nun wollen wir Pan, den muntern, vielseitigen Gesellen, seine Wege
weiter ziehen lassen.^) Uns liegt die Kunst nicht weniger am Herzen, als das
Interesse der Leser, denen sie vorgeführt werden soll. Es ist uns ebenso sehr
um die Künstler zu thun, wie um unser Volk, für das sie doch schaffen wollen.
Aber wir meinen: welchem viel gegeben ist — ob man nun darunter hier die
100 000 Mark der Aktionäre oder die geistige Begabung der künstlerischen und
litterarischen Mitarbeiter verstehen will —, von dem darf man anch wohl etwas
fordern. —

Wir schließen hieran noch einige Bemerkungen über das erste und zweite
Heft des neuesten — siebenten — Jahrgangs von Franz Hcmfstaengls Kunst-
zcitschrift: „Die Kunst unserer Zeit". Die um die Veröffentlichung hoch verdiente
Firma bietet in diesem Doppelheft, das auch allein abgegeben wird, unter dem
Titel: „Die Radirer unserer Zeit" sechsunddreißig Nachbildungen moderner Radi-
rungen von deutschen (mit Ausnahme Klingers,) französischen und englischen Künstlern.
Die Auswahl ist zweckmäßig, die Wiedergabe (Photogravüre und Netzdruck) vor¬
züglich, und die kleine Sonderaufgabe macht einen angenehmen, vornehmen Ein¬
druck. Der Text von Hans Singer ist gut. Vermißt haben wir darin ein Wort
über Hertomers „Serpentinentnnz", der abgebildet ist. Aufgefallen ist uus ein
Urteil gleich im Anfange, wo von Klinger gesagt wird, er sei zu vielseitig, um
Schüler zu haben, während bei Michelangelo, „dessen Ausdrucksform so einseitig
ist," der schulbildende Einfluß selbstverständlich sei. Das ist unrichtig ausgedrückt,
vielleicht auch schon nicht ganz klar gedacht. Michelangelo hat nicht deswegen seinen
in der Kunstgeschichte einzig dastehenden Einfluß ausgeübt, Weil feine Kunst ein¬
seitig war, sondern weil sie charakteristisch und gewaltig groß war. Sie kounte
von Nachahmern leicht einseitig und äußerlich aufgefaßt werden, aber ihr inneres,
Persönliches, vielseitiges Wesen haben sie wohlweislich auf seinem tiefen, stillen
Grunde sitzen lassen, und das suchen wir nun bei Michelangelo ganz allein und
finden es auch, sofern wir uns bemühen, es zu verstehen. Wenn Klinger eine
ähnlich große Kunst hat, worüber wir nicht streiten wollen, und wenn er darin
mit Michelangelo verglichen werden könnte, woran wir bis jetzt noch nicht gedacht
haben, so wäre die vorausgesetzte größere Vielseitigkeit jedenfalls kein Hindernis
für die Aneignung seiner Kunst und keine Erschwerung für seine Nachfolge. Denn
große charakteristische Züge müssen sich, wenn sie überhaupt vorhanden sind, auch
vereinzelt unter vielen ihresgleichen erfassen lassen. Wenn also Klinger noch
keine Schüler gebildet hat, so muß der Grund anderswo liegen. Hätte er sie
über uuter der Voraussetzung einer Michelangelo adäquaten Größe und größerer
Vielseitigkeit haben müssen, so wird ein Fehler in den Voraussetzungen liegen.
Mit solchen Parallelen thut man, meinen wir, keinem modernen Künstler einen
Gefallen. Wenn aber der Verfasser des Textes weiterhin sogar die Radirungen
des amerikanisch-französischen Farbenharmonikers Whistler „ohne Zaudern" mit
den Meisterwerken der altgriechischen Skulptur und in demselben Satze — mit
den Bildern Giovanni Bellinis in „eine Reihe" stellt, so gehört das zu den unbe¬
dachten und irreführender geistreichen Blitzen, womit mau das Publikum, das uoch
soviel an den Elementen richtiger Kunstbetrachtuug zu lernen hat, nicht verwirren
sollte, vollends wenn man bedenkt, daß andere Leute Whistler, ebenfalls „ohne



*) Soeben ist das sechste Heft erschienen. Wir werden es später besprechen.
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[0341] Der geheilte j)ein Klinger auch mit diesem Bilde merklich über die meisten andern hervor, die zu dem Bilderschmuck des Pan beigetragen haben. Und nun wollen wir Pan, den muntern, vielseitigen Gesellen, seine Wege weiter ziehen lassen.^) Uns liegt die Kunst nicht weniger am Herzen, als das Interesse der Leser, denen sie vorgeführt werden soll. Es ist uns ebenso sehr um die Künstler zu thun, wie um unser Volk, für das sie doch schaffen wollen. Aber wir meinen: welchem viel gegeben ist — ob man nun darunter hier die 100 000 Mark der Aktionäre oder die geistige Begabung der künstlerischen und litterarischen Mitarbeiter verstehen will —, von dem darf man anch wohl etwas fordern. — Wir schließen hieran noch einige Bemerkungen über das erste und zweite Heft des neuesten — siebenten — Jahrgangs von Franz Hcmfstaengls Kunst- zcitschrift: „Die Kunst unserer Zeit". Die um die Veröffentlichung hoch verdiente Firma bietet in diesem Doppelheft, das auch allein abgegeben wird, unter dem Titel: „Die Radirer unserer Zeit" sechsunddreißig Nachbildungen moderner Radi- rungen von deutschen (mit Ausnahme Klingers,) französischen und englischen Künstlern. Die Auswahl ist zweckmäßig, die Wiedergabe (Photogravüre und Netzdruck) vor¬ züglich, und die kleine Sonderaufgabe macht einen angenehmen, vornehmen Ein¬ druck. Der Text von Hans Singer ist gut. Vermißt haben wir darin ein Wort über Hertomers „Serpentinentnnz", der abgebildet ist. Aufgefallen ist uus ein Urteil gleich im Anfange, wo von Klinger gesagt wird, er sei zu vielseitig, um Schüler zu haben, während bei Michelangelo, „dessen Ausdrucksform so einseitig ist," der schulbildende Einfluß selbstverständlich sei. Das ist unrichtig ausgedrückt, vielleicht auch schon nicht ganz klar gedacht. Michelangelo hat nicht deswegen seinen in der Kunstgeschichte einzig dastehenden Einfluß ausgeübt, Weil feine Kunst ein¬ seitig war, sondern weil sie charakteristisch und gewaltig groß war. Sie kounte von Nachahmern leicht einseitig und äußerlich aufgefaßt werden, aber ihr inneres, Persönliches, vielseitiges Wesen haben sie wohlweislich auf seinem tiefen, stillen Grunde sitzen lassen, und das suchen wir nun bei Michelangelo ganz allein und finden es auch, sofern wir uns bemühen, es zu verstehen. Wenn Klinger eine ähnlich große Kunst hat, worüber wir nicht streiten wollen, und wenn er darin mit Michelangelo verglichen werden könnte, woran wir bis jetzt noch nicht gedacht haben, so wäre die vorausgesetzte größere Vielseitigkeit jedenfalls kein Hindernis für die Aneignung seiner Kunst und keine Erschwerung für seine Nachfolge. Denn große charakteristische Züge müssen sich, wenn sie überhaupt vorhanden sind, auch vereinzelt unter vielen ihresgleichen erfassen lassen. Wenn also Klinger noch keine Schüler gebildet hat, so muß der Grund anderswo liegen. Hätte er sie über uuter der Voraussetzung einer Michelangelo adäquaten Größe und größerer Vielseitigkeit haben müssen, so wird ein Fehler in den Voraussetzungen liegen. Mit solchen Parallelen thut man, meinen wir, keinem modernen Künstler einen Gefallen. Wenn aber der Verfasser des Textes weiterhin sogar die Radirungen des amerikanisch-französischen Farbenharmonikers Whistler „ohne Zaudern" mit den Meisterwerken der altgriechischen Skulptur und in demselben Satze — mit den Bildern Giovanni Bellinis in „eine Reihe" stellt, so gehört das zu den unbe¬ dachten und irreführender geistreichen Blitzen, womit mau das Publikum, das uoch soviel an den Elementen richtiger Kunstbetrachtuug zu lernen hat, nicht verwirren sollte, vollends wenn man bedenkt, daß andere Leute Whistler, ebenfalls „ohne *) Soeben ist das sechste Heft erschienen. Wir werden es später besprechen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/341>, abgerufen am 25.11.2024.