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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Der geheilte j)an

Alles Volkstümliche, alles Natürliche und Gesunde hat uns auf seiner Seite, und
das Ungesunde ist in den ersten Heften des Pan hinlänglich zu seinem Rechte ge¬
kommen, teils in dem äußerlichen Wiederhole" früherer künstlerischer Motive und
in dem fexenhaften Nachahmen primitiver Stufen in Formgebung und Technik,
teils auch in den gezierten, angestochneu, halbfaulem Erzeugnissen einer auslän¬
dischen Kunst, deren Abfälle für uns noch gerade gut genug zu sein schienen.

Das also soll nun anders werden. Es wird damit ein Hauptgewicht auf
den belehrenden Aussatz gelegt werden, und das schadet auch nichts, und Wenns
gut gemacht wird, so kann das auch äußerlich ebenso vornehm aussehen, wie das ge¬
spreizte Geistreichthun hin und her. Nur müßte dabei zweierlei vermieden und
von vornherein unerbittlich ausgeschlossen werden. Erstens das Langweilige und
zweitens das Einseitig-Verkehrte, was wohl^ an dem Unterhaltungsabend eines Kunst¬
klubs gefallen mag, andre gewöhnliche und natürliche Menschen aber nur ab¬
stoßen und zu Verkehrten verleiten kann. Über solche Späße muß eine ernst¬
hafte Knnstzeitschrift hinweg sein. Sie darf sich dergleichen nicht erlauben, weil
in Bezug auf die allgemeine Bildung in Sachen der bildenden Kunst in Deutsch¬
land eigentlich noch alles zu thun ist, wenigstens nichts leichtsinnigerweise ver¬
dorben werden darf.

Langweilig sind nun aber z. B. die "Quellen zur Geschichte der Maltechnik"
von Berger, denu das ist nur eine Aufzählung von Titeln, die keinen Menschen
interessiren können, und wer etwas darüber wissen will, findet an verschiednen
Stellen ohne Mühe weit mehr, als ihm diese äußerst dürftige" Notizen sagen.
Langweilig sind ferner "Walfischstrandungen in ihrem Einfluß auf Kunst und Poesie"
von Cnrus Sterne. Man weiß manchmal nicht, ist der "Walfischstil" ernst
gemeint, oder soll es geistreicher Scherz sein? So etwas liest man in Westermanus
illustrirten Monatsheften -- wo dann auch die Abbildungen mehr Sinn zu haben
Pflegen -- ganz gern, aber in eine vornehme Kunstzeitschrift gehört es nicht. Verkehrt,
absolut verkehrt und jenseits jeder Unterscheidung verschiedener, möglicherweise berech¬
tigter Auffassungen ist der Aufsatz über Giovanni Scgantini, der in seineu Bildern
zuerst die wahre, große Seele der Alpennntur aufgeschlossen haben soll. Ein Bild
über diesen Aufsatz zeigt uns, fern vom Grat des Gebirges umgrenzt, ein weites
Thal, dessen Bodenfläche von dem Rückstand einer allgemeinen Überschwemmung
bedeckt erscheint. Es kann aber auch Nebel oder Schnee sein -- das Original
ist in Netzdtzuug wiedergegeben --, und aus diesem Wasser oder was es denn sein
mag, ragen blätterlose Bäume hervor, an deren einem ganz im Vordergrunde eine
Frau mit einem Kindchen an der Brust, wie nach einer zurückgetretnen Über¬
schwemmung, mit ihren Haaren hängen geblieben ist. Sehen wir näher zu, so
hält sie sich auch noch mit einer Hand an einem Zweige fest; sie lebt noch, und
durch ihren schönen Körper zuckt eine tiefe, schmerzliche Bewegung. Ist denn kein
rettender Kahn in der Nähe? Jetzt lesen wir den Text und lernen, daß wir mit
unser" einfältigen Beobachtungen ganz auf dem Holzwege gewesen sind. Der
italienische Maler schildert vielmehr den Kampf der armen verlassenen Bäume oben
auf dem Hochplateau. Das Kindchen ist die Seele des Baumes, und die Frau
ist der Engel, der kommt, ihn zu nähren. Das ist uun, wie der Verfasser
des Aufsatzes findet, ein ergreifendes und lebensfähiges (!) Mysterium, denn der
Künstler habe gläubig hingemalt, was er denkt. Wahrscheinlich wird den Leser
nicht mehr nach den zwei andern hier wiedergegebnen, nicht symbolischen Bildern
verlangen. Und wenn er nun mit seiner neuerwordnen Kenntnis in seinem
Urteil dem Künstler Unrecht thut, so ist das die Schuld der Redaktion, die


Grenzboten III 189K 42
Der geheilte j)an

Alles Volkstümliche, alles Natürliche und Gesunde hat uns auf seiner Seite, und
das Ungesunde ist in den ersten Heften des Pan hinlänglich zu seinem Rechte ge¬
kommen, teils in dem äußerlichen Wiederhole» früherer künstlerischer Motive und
in dem fexenhaften Nachahmen primitiver Stufen in Formgebung und Technik,
teils auch in den gezierten, angestochneu, halbfaulem Erzeugnissen einer auslän¬
dischen Kunst, deren Abfälle für uns noch gerade gut genug zu sein schienen.

Das also soll nun anders werden. Es wird damit ein Hauptgewicht auf
den belehrenden Aussatz gelegt werden, und das schadet auch nichts, und Wenns
gut gemacht wird, so kann das auch äußerlich ebenso vornehm aussehen, wie das ge¬
spreizte Geistreichthun hin und her. Nur müßte dabei zweierlei vermieden und
von vornherein unerbittlich ausgeschlossen werden. Erstens das Langweilige und
zweitens das Einseitig-Verkehrte, was wohl^ an dem Unterhaltungsabend eines Kunst¬
klubs gefallen mag, andre gewöhnliche und natürliche Menschen aber nur ab¬
stoßen und zu Verkehrten verleiten kann. Über solche Späße muß eine ernst¬
hafte Knnstzeitschrift hinweg sein. Sie darf sich dergleichen nicht erlauben, weil
in Bezug auf die allgemeine Bildung in Sachen der bildenden Kunst in Deutsch¬
land eigentlich noch alles zu thun ist, wenigstens nichts leichtsinnigerweise ver¬
dorben werden darf.

Langweilig sind nun aber z. B. die „Quellen zur Geschichte der Maltechnik"
von Berger, denu das ist nur eine Aufzählung von Titeln, die keinen Menschen
interessiren können, und wer etwas darüber wissen will, findet an verschiednen
Stellen ohne Mühe weit mehr, als ihm diese äußerst dürftige» Notizen sagen.
Langweilig sind ferner „Walfischstrandungen in ihrem Einfluß auf Kunst und Poesie"
von Cnrus Sterne. Man weiß manchmal nicht, ist der „Walfischstil" ernst
gemeint, oder soll es geistreicher Scherz sein? So etwas liest man in Westermanus
illustrirten Monatsheften — wo dann auch die Abbildungen mehr Sinn zu haben
Pflegen — ganz gern, aber in eine vornehme Kunstzeitschrift gehört es nicht. Verkehrt,
absolut verkehrt und jenseits jeder Unterscheidung verschiedener, möglicherweise berech¬
tigter Auffassungen ist der Aufsatz über Giovanni Scgantini, der in seineu Bildern
zuerst die wahre, große Seele der Alpennntur aufgeschlossen haben soll. Ein Bild
über diesen Aufsatz zeigt uns, fern vom Grat des Gebirges umgrenzt, ein weites
Thal, dessen Bodenfläche von dem Rückstand einer allgemeinen Überschwemmung
bedeckt erscheint. Es kann aber auch Nebel oder Schnee sein — das Original
ist in Netzdtzuug wiedergegeben —, und aus diesem Wasser oder was es denn sein
mag, ragen blätterlose Bäume hervor, an deren einem ganz im Vordergrunde eine
Frau mit einem Kindchen an der Brust, wie nach einer zurückgetretnen Über¬
schwemmung, mit ihren Haaren hängen geblieben ist. Sehen wir näher zu, so
hält sie sich auch noch mit einer Hand an einem Zweige fest; sie lebt noch, und
durch ihren schönen Körper zuckt eine tiefe, schmerzliche Bewegung. Ist denn kein
rettender Kahn in der Nähe? Jetzt lesen wir den Text und lernen, daß wir mit
unser» einfältigen Beobachtungen ganz auf dem Holzwege gewesen sind. Der
italienische Maler schildert vielmehr den Kampf der armen verlassenen Bäume oben
auf dem Hochplateau. Das Kindchen ist die Seele des Baumes, und die Frau
ist der Engel, der kommt, ihn zu nähren. Das ist uun, wie der Verfasser
des Aufsatzes findet, ein ergreifendes und lebensfähiges (!) Mysterium, denn der
Künstler habe gläubig hingemalt, was er denkt. Wahrscheinlich wird den Leser
nicht mehr nach den zwei andern hier wiedergegebnen, nicht symbolischen Bildern
verlangen. Und wenn er nun mit seiner neuerwordnen Kenntnis in seinem
Urteil dem Künstler Unrecht thut, so ist das die Schuld der Redaktion, die


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[0337] Der geheilte j)an Alles Volkstümliche, alles Natürliche und Gesunde hat uns auf seiner Seite, und das Ungesunde ist in den ersten Heften des Pan hinlänglich zu seinem Rechte ge¬ kommen, teils in dem äußerlichen Wiederhole» früherer künstlerischer Motive und in dem fexenhaften Nachahmen primitiver Stufen in Formgebung und Technik, teils auch in den gezierten, angestochneu, halbfaulem Erzeugnissen einer auslän¬ dischen Kunst, deren Abfälle für uns noch gerade gut genug zu sein schienen. Das also soll nun anders werden. Es wird damit ein Hauptgewicht auf den belehrenden Aussatz gelegt werden, und das schadet auch nichts, und Wenns gut gemacht wird, so kann das auch äußerlich ebenso vornehm aussehen, wie das ge¬ spreizte Geistreichthun hin und her. Nur müßte dabei zweierlei vermieden und von vornherein unerbittlich ausgeschlossen werden. Erstens das Langweilige und zweitens das Einseitig-Verkehrte, was wohl^ an dem Unterhaltungsabend eines Kunst¬ klubs gefallen mag, andre gewöhnliche und natürliche Menschen aber nur ab¬ stoßen und zu Verkehrten verleiten kann. Über solche Späße muß eine ernst¬ hafte Knnstzeitschrift hinweg sein. Sie darf sich dergleichen nicht erlauben, weil in Bezug auf die allgemeine Bildung in Sachen der bildenden Kunst in Deutsch¬ land eigentlich noch alles zu thun ist, wenigstens nichts leichtsinnigerweise ver¬ dorben werden darf. Langweilig sind nun aber z. B. die „Quellen zur Geschichte der Maltechnik" von Berger, denu das ist nur eine Aufzählung von Titeln, die keinen Menschen interessiren können, und wer etwas darüber wissen will, findet an verschiednen Stellen ohne Mühe weit mehr, als ihm diese äußerst dürftige» Notizen sagen. Langweilig sind ferner „Walfischstrandungen in ihrem Einfluß auf Kunst und Poesie" von Cnrus Sterne. Man weiß manchmal nicht, ist der „Walfischstil" ernst gemeint, oder soll es geistreicher Scherz sein? So etwas liest man in Westermanus illustrirten Monatsheften — wo dann auch die Abbildungen mehr Sinn zu haben Pflegen — ganz gern, aber in eine vornehme Kunstzeitschrift gehört es nicht. Verkehrt, absolut verkehrt und jenseits jeder Unterscheidung verschiedener, möglicherweise berech¬ tigter Auffassungen ist der Aufsatz über Giovanni Scgantini, der in seineu Bildern zuerst die wahre, große Seele der Alpennntur aufgeschlossen haben soll. Ein Bild über diesen Aufsatz zeigt uns, fern vom Grat des Gebirges umgrenzt, ein weites Thal, dessen Bodenfläche von dem Rückstand einer allgemeinen Überschwemmung bedeckt erscheint. Es kann aber auch Nebel oder Schnee sein — das Original ist in Netzdtzuug wiedergegeben —, und aus diesem Wasser oder was es denn sein mag, ragen blätterlose Bäume hervor, an deren einem ganz im Vordergrunde eine Frau mit einem Kindchen an der Brust, wie nach einer zurückgetretnen Über¬ schwemmung, mit ihren Haaren hängen geblieben ist. Sehen wir näher zu, so hält sie sich auch noch mit einer Hand an einem Zweige fest; sie lebt noch, und durch ihren schönen Körper zuckt eine tiefe, schmerzliche Bewegung. Ist denn kein rettender Kahn in der Nähe? Jetzt lesen wir den Text und lernen, daß wir mit unser» einfältigen Beobachtungen ganz auf dem Holzwege gewesen sind. Der italienische Maler schildert vielmehr den Kampf der armen verlassenen Bäume oben auf dem Hochplateau. Das Kindchen ist die Seele des Baumes, und die Frau ist der Engel, der kommt, ihn zu nähren. Das ist uun, wie der Verfasser des Aufsatzes findet, ein ergreifendes und lebensfähiges (!) Mysterium, denn der Künstler habe gläubig hingemalt, was er denkt. Wahrscheinlich wird den Leser nicht mehr nach den zwei andern hier wiedergegebnen, nicht symbolischen Bildern verlangen. Und wenn er nun mit seiner neuerwordnen Kenntnis in seinem Urteil dem Künstler Unrecht thut, so ist das die Schuld der Redaktion, die Grenzboten III 189K 42

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/337>, abgerufen am 26.11.2024.