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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

daß er in einer Verfallzeit stand; über die moderne Bildungsdichtung ist er
trotzdem in der Regel hinaus- oder vielmehr selten in sie hineingekommen.

Schwächer, dabei aber liebenswürdiger als Anzengruber ist Rosegger, der
bekanntlich aus einem Schneidergesellen ein Dichter und im Jahre 1864 ent¬
deckt wurde, und zuerst 1870, uuter der Protektion Robert Hamerlings,
Gedichte in steirischer Mundart veröffentlichte. Die große Beliebtheit, die er
seitdem errungen hat, beruht auf seinen Geschichten und Skizzen aus der
steirischen Heimat, die sich, wie die Anzengrubers, von den ältern Dorf¬
geschichten dnrch viel größere Wahrheit, Frische und Unmittelbarkeit unter¬
scheiden. Daß Rosegger aber mehr als ein realistischer Dorfgeschichtenschreiber,
daß er ein Poet großer Entwürfe ist, hat er durch seine Romane: "Der
Gottsucher," "Jakob der Letzte," "Martin der Mann" bewiesen, die künstlerische
Ideen von großer Tragweite mit nicht gewöhnlicher Kraft durchführen. Ihre
Probleme sind religiöser und sozialer Natur, der Naturdichter ist allmählich
Kulturpoet geworden, hat aber seine besten Eigenschaften bewahrt.

Marie vou Ebner-Eschenbach, das dritte große österreichische Talent, war
schon in den sechziger Jahren als Dramatikerin aufgetreten und hatte sogar
die Aufmerksamkeit Otto Ludwigs erregt, ehe sie in den siebziger Jahren die
Aufmerksamkeit weiterer Kreise als Erzählerin auf sich zog. Gegen das Ende
der achtziger Jahre wurde sie dann als die größte zeitgenössische deutsche
Dichterin anerkannt. Ihre Bedeutung klar zu machen, ist nicht leicht; am
ersten könnte man sie mit Gottfried Keller vergleichen, mit dem sie das
wunderbar klare Auge, die reich ausgebildete Erzählungskunst und eine gewisse
Schalkhaftigkeit gemeinsam hat. Daß sich der demokratische Schweizer und
die östereichische Aristokratin in: übrigen gewaltig unterscheiden, brauche ich
uicht zu sagen. Auch für diese Österreicherin ist das stark ausgebildete Sozial-
gesühl charakteristisch.

An diese Reihe schließt sich dann wieder eine ganze Reihe kleinerer, aber
eben so echter Talente; ich nenne nur die Österreicher Ferdinand von Saar und
Stephan Milow, beide schon in den sechziger Jahren hervorgetreten, ferner
Karl Emil Franzos, der sich um die Mitte der siebziger Jahre in seinen
galizischen Geschichten eine Spezialität schuf, dann den Baiern Karl Stieler,
endlich die Norddeutschen Heinrich Seidel, Richard Leander (Vvlkmann) und
Viktor Blüthgen, die alle drei bald nach dem Kriege hervortraten und nicht
ohne Erfolg blieben, aber freilich nicht geschaffen waren, eine hervorragende
Stellung in der Litteratur einzunehmen. Diese hervorragende Stellung erhielten
aber auch die großen Talente der Zeit nicht, sie fiel ganz andern Leuten zu,
die in folgendem zu charakterisiren eine nicht besonders angenehme, ja nicht
einmal eine ganz reinliche Aufgabe sein wird.

(Fortsetzung folgt)




Die Alten und die Jungen

daß er in einer Verfallzeit stand; über die moderne Bildungsdichtung ist er
trotzdem in der Regel hinaus- oder vielmehr selten in sie hineingekommen.

Schwächer, dabei aber liebenswürdiger als Anzengruber ist Rosegger, der
bekanntlich aus einem Schneidergesellen ein Dichter und im Jahre 1864 ent¬
deckt wurde, und zuerst 1870, uuter der Protektion Robert Hamerlings,
Gedichte in steirischer Mundart veröffentlichte. Die große Beliebtheit, die er
seitdem errungen hat, beruht auf seinen Geschichten und Skizzen aus der
steirischen Heimat, die sich, wie die Anzengrubers, von den ältern Dorf¬
geschichten dnrch viel größere Wahrheit, Frische und Unmittelbarkeit unter¬
scheiden. Daß Rosegger aber mehr als ein realistischer Dorfgeschichtenschreiber,
daß er ein Poet großer Entwürfe ist, hat er durch seine Romane: „Der
Gottsucher," „Jakob der Letzte," „Martin der Mann" bewiesen, die künstlerische
Ideen von großer Tragweite mit nicht gewöhnlicher Kraft durchführen. Ihre
Probleme sind religiöser und sozialer Natur, der Naturdichter ist allmählich
Kulturpoet geworden, hat aber seine besten Eigenschaften bewahrt.

Marie vou Ebner-Eschenbach, das dritte große österreichische Talent, war
schon in den sechziger Jahren als Dramatikerin aufgetreten und hatte sogar
die Aufmerksamkeit Otto Ludwigs erregt, ehe sie in den siebziger Jahren die
Aufmerksamkeit weiterer Kreise als Erzählerin auf sich zog. Gegen das Ende
der achtziger Jahre wurde sie dann als die größte zeitgenössische deutsche
Dichterin anerkannt. Ihre Bedeutung klar zu machen, ist nicht leicht; am
ersten könnte man sie mit Gottfried Keller vergleichen, mit dem sie das
wunderbar klare Auge, die reich ausgebildete Erzählungskunst und eine gewisse
Schalkhaftigkeit gemeinsam hat. Daß sich der demokratische Schweizer und
die östereichische Aristokratin in: übrigen gewaltig unterscheiden, brauche ich
uicht zu sagen. Auch für diese Österreicherin ist das stark ausgebildete Sozial-
gesühl charakteristisch.

An diese Reihe schließt sich dann wieder eine ganze Reihe kleinerer, aber
eben so echter Talente; ich nenne nur die Österreicher Ferdinand von Saar und
Stephan Milow, beide schon in den sechziger Jahren hervorgetreten, ferner
Karl Emil Franzos, der sich um die Mitte der siebziger Jahre in seinen
galizischen Geschichten eine Spezialität schuf, dann den Baiern Karl Stieler,
endlich die Norddeutschen Heinrich Seidel, Richard Leander (Vvlkmann) und
Viktor Blüthgen, die alle drei bald nach dem Kriege hervortraten und nicht
ohne Erfolg blieben, aber freilich nicht geschaffen waren, eine hervorragende
Stellung in der Litteratur einzunehmen. Diese hervorragende Stellung erhielten
aber auch die großen Talente der Zeit nicht, sie fiel ganz andern Leuten zu,
die in folgendem zu charakterisiren eine nicht besonders angenehme, ja nicht
einmal eine ganz reinliche Aufgabe sein wird.

(Fortsetzung folgt)




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[0330] Die Alten und die Jungen daß er in einer Verfallzeit stand; über die moderne Bildungsdichtung ist er trotzdem in der Regel hinaus- oder vielmehr selten in sie hineingekommen. Schwächer, dabei aber liebenswürdiger als Anzengruber ist Rosegger, der bekanntlich aus einem Schneidergesellen ein Dichter und im Jahre 1864 ent¬ deckt wurde, und zuerst 1870, uuter der Protektion Robert Hamerlings, Gedichte in steirischer Mundart veröffentlichte. Die große Beliebtheit, die er seitdem errungen hat, beruht auf seinen Geschichten und Skizzen aus der steirischen Heimat, die sich, wie die Anzengrubers, von den ältern Dorf¬ geschichten dnrch viel größere Wahrheit, Frische und Unmittelbarkeit unter¬ scheiden. Daß Rosegger aber mehr als ein realistischer Dorfgeschichtenschreiber, daß er ein Poet großer Entwürfe ist, hat er durch seine Romane: „Der Gottsucher," „Jakob der Letzte," „Martin der Mann" bewiesen, die künstlerische Ideen von großer Tragweite mit nicht gewöhnlicher Kraft durchführen. Ihre Probleme sind religiöser und sozialer Natur, der Naturdichter ist allmählich Kulturpoet geworden, hat aber seine besten Eigenschaften bewahrt. Marie vou Ebner-Eschenbach, das dritte große österreichische Talent, war schon in den sechziger Jahren als Dramatikerin aufgetreten und hatte sogar die Aufmerksamkeit Otto Ludwigs erregt, ehe sie in den siebziger Jahren die Aufmerksamkeit weiterer Kreise als Erzählerin auf sich zog. Gegen das Ende der achtziger Jahre wurde sie dann als die größte zeitgenössische deutsche Dichterin anerkannt. Ihre Bedeutung klar zu machen, ist nicht leicht; am ersten könnte man sie mit Gottfried Keller vergleichen, mit dem sie das wunderbar klare Auge, die reich ausgebildete Erzählungskunst und eine gewisse Schalkhaftigkeit gemeinsam hat. Daß sich der demokratische Schweizer und die östereichische Aristokratin in: übrigen gewaltig unterscheiden, brauche ich uicht zu sagen. Auch für diese Österreicherin ist das stark ausgebildete Sozial- gesühl charakteristisch. An diese Reihe schließt sich dann wieder eine ganze Reihe kleinerer, aber eben so echter Talente; ich nenne nur die Österreicher Ferdinand von Saar und Stephan Milow, beide schon in den sechziger Jahren hervorgetreten, ferner Karl Emil Franzos, der sich um die Mitte der siebziger Jahre in seinen galizischen Geschichten eine Spezialität schuf, dann den Baiern Karl Stieler, endlich die Norddeutschen Heinrich Seidel, Richard Leander (Vvlkmann) und Viktor Blüthgen, die alle drei bald nach dem Kriege hervortraten und nicht ohne Erfolg blieben, aber freilich nicht geschaffen waren, eine hervorragende Stellung in der Litteratur einzunehmen. Diese hervorragende Stellung erhielten aber auch die großen Talente der Zeit nicht, sie fiel ganz andern Leuten zu, die in folgendem zu charakterisiren eine nicht besonders angenehme, ja nicht einmal eine ganz reinliche Aufgabe sein wird. (Fortsetzung folgt)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/330>, abgerufen am 26.11.2024.