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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Die Alten und die Jungen

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Der Krieg von 1870/71 hat ganz ohne Zweifel alles, was noch gut und
tüchtig im deutschen Volke war, aufgerüttelt und hervorgetrieben und den Ver¬
fall zunächst doch noch aufgehalten. Als aber der Krieg siegreich beendet und
das neue Reich gegründet war. da schoß die Decadence in Blüte, und wir
erlebten jene schauerliche Gründer- und Schwindelzeit, über deren Orgien wir uns
noch jetzt schämen und zu schämen auch alle Ursache haben. Wenn wir den¬
noch nicht in ganz Deutschland Zustände bekamen, wie sie das zweite franzö¬
sische Kaiserreich hervorgebracht hatte, so lag das daran, daß die Neugründung
des Reichs als die Erfüllung der nationalen Hoffnungen doch auf bestimmte
Teile unsers Volkes günstig einwirkte. Man hatte jetzt den Boden, auf dem
man fest und sicher stehen konnte, und rettete sich wenigstens die Gesundheit,
wenn man auch keinen neuen geistigen Aufschwung herbeizuführen vermochte.
Vielen erscheint der sogenannte Kulturkampf als ein solcher, aber er war wohl
nur die letzte, in der Hauptsache vergebliche Kraftäußerung des Liberalismus.
Seit 1870 haben wir im Gründe zwei Gesellschaften in Deutschland, eine
moderne, aus gemischten Bestandteilen zusammengesetzte, die die europäischen
Kultur- und Zeitkrankheiten getreulich mitmacht, und eine mit dem Deutschland
vor 1870 noch zusammenhängende, die in teilweise erstarrten Lebensformen
dahinlebt, aber sich doch auch einige der alten idealen Güter gerettet hat. Diesen
deutschen Dualismus darf man bei einer Betrachtung der neuern deutschen Ge¬
schichte und Litteratur nicht übersehen. Neuerdings hat sich dann noch eine
dritte Gesellschaftsschicht zu bilden begonnen, die zwischen den beiden andern
in der Mitte steht und auf Grund sozialer Grundsätze einen Ausgleich zwischen
dem Alten und Neuen anstrebt.

Gilt schon im allgemeinen, daß ein politisches Ereignis nicht immer
litterarische Folgen nach sich zieht, so hat wohl meine bisherige Darstellung
ergeben, daß der Krieg von 1870 für das künstlerische und geistige Leben
Deutschlands unmöglich sofort Bedeutung erlangen konnte. Wie hätte die
durchaus im Niedergang befindliche Litteratur dem großen Krieg poetisch ge¬
recht werden, wie ein einziges Kriegsjahr voller Erfolge ein neues kraftvolles
Dichtergeschlecht wachrufen sollen? Es war weiter nichts als eine große
Naivität, wenn man für 1870 eine vaterländische Dichtung wie die Lyrik der
Befreiungskriege verlangte, es war eine noch größere, wenn man sofort nach
der Gründung des Reiches auf die neue echt nationale Dichtung größten Stils
hoffte. Diese Hoffnung war freilich allgemein verbreitet, die Enttäuschung
daher um so größer; noch Litzmann beginnt seine Darstellung der neusten
Litteratur mit der Klage darüber. Aber die Litteratur ist doch kein Treibhaus,
wo Blüten und Früchte gleichsam auf Kommando entstehen, sie ist wie
ein Acker, der gepflügt und besät werden muß, ehe Saaten auf ihm sprießen
können, und auch dann noch steht die Ernte in Gottes Hand. Gewiß, die Kriegs-


Die Alten und die Jungen

6

Der Krieg von 1870/71 hat ganz ohne Zweifel alles, was noch gut und
tüchtig im deutschen Volke war, aufgerüttelt und hervorgetrieben und den Ver¬
fall zunächst doch noch aufgehalten. Als aber der Krieg siegreich beendet und
das neue Reich gegründet war. da schoß die Decadence in Blüte, und wir
erlebten jene schauerliche Gründer- und Schwindelzeit, über deren Orgien wir uns
noch jetzt schämen und zu schämen auch alle Ursache haben. Wenn wir den¬
noch nicht in ganz Deutschland Zustände bekamen, wie sie das zweite franzö¬
sische Kaiserreich hervorgebracht hatte, so lag das daran, daß die Neugründung
des Reichs als die Erfüllung der nationalen Hoffnungen doch auf bestimmte
Teile unsers Volkes günstig einwirkte. Man hatte jetzt den Boden, auf dem
man fest und sicher stehen konnte, und rettete sich wenigstens die Gesundheit,
wenn man auch keinen neuen geistigen Aufschwung herbeizuführen vermochte.
Vielen erscheint der sogenannte Kulturkampf als ein solcher, aber er war wohl
nur die letzte, in der Hauptsache vergebliche Kraftäußerung des Liberalismus.
Seit 1870 haben wir im Gründe zwei Gesellschaften in Deutschland, eine
moderne, aus gemischten Bestandteilen zusammengesetzte, die die europäischen
Kultur- und Zeitkrankheiten getreulich mitmacht, und eine mit dem Deutschland
vor 1870 noch zusammenhängende, die in teilweise erstarrten Lebensformen
dahinlebt, aber sich doch auch einige der alten idealen Güter gerettet hat. Diesen
deutschen Dualismus darf man bei einer Betrachtung der neuern deutschen Ge¬
schichte und Litteratur nicht übersehen. Neuerdings hat sich dann noch eine
dritte Gesellschaftsschicht zu bilden begonnen, die zwischen den beiden andern
in der Mitte steht und auf Grund sozialer Grundsätze einen Ausgleich zwischen
dem Alten und Neuen anstrebt.

Gilt schon im allgemeinen, daß ein politisches Ereignis nicht immer
litterarische Folgen nach sich zieht, so hat wohl meine bisherige Darstellung
ergeben, daß der Krieg von 1870 für das künstlerische und geistige Leben
Deutschlands unmöglich sofort Bedeutung erlangen konnte. Wie hätte die
durchaus im Niedergang befindliche Litteratur dem großen Krieg poetisch ge¬
recht werden, wie ein einziges Kriegsjahr voller Erfolge ein neues kraftvolles
Dichtergeschlecht wachrufen sollen? Es war weiter nichts als eine große
Naivität, wenn man für 1870 eine vaterländische Dichtung wie die Lyrik der
Befreiungskriege verlangte, es war eine noch größere, wenn man sofort nach
der Gründung des Reiches auf die neue echt nationale Dichtung größten Stils
hoffte. Diese Hoffnung war freilich allgemein verbreitet, die Enttäuschung
daher um so größer; noch Litzmann beginnt seine Darstellung der neusten
Litteratur mit der Klage darüber. Aber die Litteratur ist doch kein Treibhaus,
wo Blüten und Früchte gleichsam auf Kommando entstehen, sie ist wie
ein Acker, der gepflügt und besät werden muß, ehe Saaten auf ihm sprießen
können, und auch dann noch steht die Ernte in Gottes Hand. Gewiß, die Kriegs-


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[0326] Die Alten und die Jungen 6 Der Krieg von 1870/71 hat ganz ohne Zweifel alles, was noch gut und tüchtig im deutschen Volke war, aufgerüttelt und hervorgetrieben und den Ver¬ fall zunächst doch noch aufgehalten. Als aber der Krieg siegreich beendet und das neue Reich gegründet war. da schoß die Decadence in Blüte, und wir erlebten jene schauerliche Gründer- und Schwindelzeit, über deren Orgien wir uns noch jetzt schämen und zu schämen auch alle Ursache haben. Wenn wir den¬ noch nicht in ganz Deutschland Zustände bekamen, wie sie das zweite franzö¬ sische Kaiserreich hervorgebracht hatte, so lag das daran, daß die Neugründung des Reichs als die Erfüllung der nationalen Hoffnungen doch auf bestimmte Teile unsers Volkes günstig einwirkte. Man hatte jetzt den Boden, auf dem man fest und sicher stehen konnte, und rettete sich wenigstens die Gesundheit, wenn man auch keinen neuen geistigen Aufschwung herbeizuführen vermochte. Vielen erscheint der sogenannte Kulturkampf als ein solcher, aber er war wohl nur die letzte, in der Hauptsache vergebliche Kraftäußerung des Liberalismus. Seit 1870 haben wir im Gründe zwei Gesellschaften in Deutschland, eine moderne, aus gemischten Bestandteilen zusammengesetzte, die die europäischen Kultur- und Zeitkrankheiten getreulich mitmacht, und eine mit dem Deutschland vor 1870 noch zusammenhängende, die in teilweise erstarrten Lebensformen dahinlebt, aber sich doch auch einige der alten idealen Güter gerettet hat. Diesen deutschen Dualismus darf man bei einer Betrachtung der neuern deutschen Ge¬ schichte und Litteratur nicht übersehen. Neuerdings hat sich dann noch eine dritte Gesellschaftsschicht zu bilden begonnen, die zwischen den beiden andern in der Mitte steht und auf Grund sozialer Grundsätze einen Ausgleich zwischen dem Alten und Neuen anstrebt. Gilt schon im allgemeinen, daß ein politisches Ereignis nicht immer litterarische Folgen nach sich zieht, so hat wohl meine bisherige Darstellung ergeben, daß der Krieg von 1870 für das künstlerische und geistige Leben Deutschlands unmöglich sofort Bedeutung erlangen konnte. Wie hätte die durchaus im Niedergang befindliche Litteratur dem großen Krieg poetisch ge¬ recht werden, wie ein einziges Kriegsjahr voller Erfolge ein neues kraftvolles Dichtergeschlecht wachrufen sollen? Es war weiter nichts als eine große Naivität, wenn man für 1870 eine vaterländische Dichtung wie die Lyrik der Befreiungskriege verlangte, es war eine noch größere, wenn man sofort nach der Gründung des Reiches auf die neue echt nationale Dichtung größten Stils hoffte. Diese Hoffnung war freilich allgemein verbreitet, die Enttäuschung daher um so größer; noch Litzmann beginnt seine Darstellung der neusten Litteratur mit der Klage darüber. Aber die Litteratur ist doch kein Treibhaus, wo Blüten und Früchte gleichsam auf Kommando entstehen, sie ist wie ein Acker, der gepflügt und besät werden muß, ehe Saaten auf ihm sprießen können, und auch dann noch steht die Ernte in Gottes Hand. Gewiß, die Kriegs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/326>, abgerufen am 01.09.2024.