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Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr.

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Ein unbequemer Konservativer

notwendig werde, in aufgelösten Reihen, werde, wie die Militärschriftsteller
hervorhoben, weit mehr als früher auf die Gesinnung, Stimmung und Energie
des einzelnen Mannes ankommen, werde die Wirkung der den einzelnen fort¬
reißenden eng zusammengedrängten Masse ganz wegfallen und die Einwirkung
der Führer in der Schlacht auf ein sehr geringes Maß beschränkt bleiben.
Schlecht genährte und verkümmerte Reservisten würden die in solcher Lage
erforderliche Spannkraft nicht haben, auch wenn sie den Willen hätten, ein
jeder für sich ganz allein ihr Bestes zu leisten und ihr Leben zu opfern, sie
würden aber in einer Zeit des herrschenden Kapitalismus auch den Willen
nicht haben, denn für die Kupons der Reichen schlägt sich der gemeine Mann
nicht; soll er sich mit Begeisterung und Todesverachtung schlagen, so muß er
ein Vaterland haben, worin es ihm gut geht, und wo er sich wohlfühlt.
Man darf -- fügen wir hinzu -- bei den Erfolgen von 1870 nicht vergessen,
daß der Krieg in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen
Freiheit fiel, wo es nicht allein für die Großen, sondern auch für die Kleinen
eine Lust war zu leben, daß die Zahl der Unzufriednen, die sich in der Sozial¬
demokratie zusammenfanden, damals noch unbedeutend war, und daß bis
dahin weder die Katholiken noch die preußischen Unterthanen polnischer Zunge
zur Unzufriedenheit Anlaß gehabt hatten; die deutschen Reservisten und Land¬
wehrmänner wußten also sehr genau, wofür sie sich schlugen. Bei dieser Lage
der Dinge, meint Meyer, sei es Selbsterhaltungspflicht der Monarchie, sich
mit den Parteien gut zu stellen, die ihren Anhang in der Masse, namentlich
unter den Lohnarbeitern haben; wollte sie sich auf die Parteien stützen, die
das Kapital vertreten, und denen sich nur gezwungen ein Teil der ärmern
Bevölkerung anschließt, so würde ihr nichts übrig bleiben, als auf die all¬
gemeine Dienstpflicht zu verzichten und auf das Söldnerheer zurückzugreifen.
Wir stellen diese Gedankenreihe zur Erwägung, ohne sie zu kritisiren. Was
die Reformvorschläge des Verfassers betrifft, so fallen sie der Hauptsache nach
mit dem zusammen, was man gewöhnlich Sozialreform nennt. Der Über¬
führung eines Teils des Kapitals in den Besitz der arbeitenden Klassen durch
Produktivgenossenschaften haben nach seiner Ansicht die Jndustriekartelle gut
vorgearbeitet. Die Kartellleitung ermittelt den Bedarf und bestimmt das Was,
das Wie und das Wieviel der Produktion. Die Unternehmer spielen dabei
die überflüssigste Rolle von der Welt; sie sind nur noch Rentenberechtigte;
als Eigentümer sind sie expropriirt, wenn man zum Eigentumsbegriff das
Recht der freien Verfügung über das Eigentum rechnet (S. 317).

Meyer deckt unsers Erachtens die Tendenzen, die die gegenwärtige wirt¬
schaftliche und politische Lage unsers Vaterlandes bestimmen, durchweg richtig
auf und irrt sich nur darin, daß er sie, z. B. in Beziehung auf die Not der
ländlichen Grundbesitzer, für weiter fortgeschritten hält, als sie in Wirklichkeit
sind. In einem Punkte aber halten wir seine Ansicht für entschieden irrig


Ein unbequemer Konservativer

notwendig werde, in aufgelösten Reihen, werde, wie die Militärschriftsteller
hervorhoben, weit mehr als früher auf die Gesinnung, Stimmung und Energie
des einzelnen Mannes ankommen, werde die Wirkung der den einzelnen fort¬
reißenden eng zusammengedrängten Masse ganz wegfallen und die Einwirkung
der Führer in der Schlacht auf ein sehr geringes Maß beschränkt bleiben.
Schlecht genährte und verkümmerte Reservisten würden die in solcher Lage
erforderliche Spannkraft nicht haben, auch wenn sie den Willen hätten, ein
jeder für sich ganz allein ihr Bestes zu leisten und ihr Leben zu opfern, sie
würden aber in einer Zeit des herrschenden Kapitalismus auch den Willen
nicht haben, denn für die Kupons der Reichen schlägt sich der gemeine Mann
nicht; soll er sich mit Begeisterung und Todesverachtung schlagen, so muß er
ein Vaterland haben, worin es ihm gut geht, und wo er sich wohlfühlt.
Man darf — fügen wir hinzu — bei den Erfolgen von 1870 nicht vergessen,
daß der Krieg in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen
Freiheit fiel, wo es nicht allein für die Großen, sondern auch für die Kleinen
eine Lust war zu leben, daß die Zahl der Unzufriednen, die sich in der Sozial¬
demokratie zusammenfanden, damals noch unbedeutend war, und daß bis
dahin weder die Katholiken noch die preußischen Unterthanen polnischer Zunge
zur Unzufriedenheit Anlaß gehabt hatten; die deutschen Reservisten und Land¬
wehrmänner wußten also sehr genau, wofür sie sich schlugen. Bei dieser Lage
der Dinge, meint Meyer, sei es Selbsterhaltungspflicht der Monarchie, sich
mit den Parteien gut zu stellen, die ihren Anhang in der Masse, namentlich
unter den Lohnarbeitern haben; wollte sie sich auf die Parteien stützen, die
das Kapital vertreten, und denen sich nur gezwungen ein Teil der ärmern
Bevölkerung anschließt, so würde ihr nichts übrig bleiben, als auf die all¬
gemeine Dienstpflicht zu verzichten und auf das Söldnerheer zurückzugreifen.
Wir stellen diese Gedankenreihe zur Erwägung, ohne sie zu kritisiren. Was
die Reformvorschläge des Verfassers betrifft, so fallen sie der Hauptsache nach
mit dem zusammen, was man gewöhnlich Sozialreform nennt. Der Über¬
führung eines Teils des Kapitals in den Besitz der arbeitenden Klassen durch
Produktivgenossenschaften haben nach seiner Ansicht die Jndustriekartelle gut
vorgearbeitet. Die Kartellleitung ermittelt den Bedarf und bestimmt das Was,
das Wie und das Wieviel der Produktion. Die Unternehmer spielen dabei
die überflüssigste Rolle von der Welt; sie sind nur noch Rentenberechtigte;
als Eigentümer sind sie expropriirt, wenn man zum Eigentumsbegriff das
Recht der freien Verfügung über das Eigentum rechnet (S. 317).

Meyer deckt unsers Erachtens die Tendenzen, die die gegenwärtige wirt¬
schaftliche und politische Lage unsers Vaterlandes bestimmen, durchweg richtig
auf und irrt sich nur darin, daß er sie, z. B. in Beziehung auf die Not der
ländlichen Grundbesitzer, für weiter fortgeschritten hält, als sie in Wirklichkeit
sind. In einem Punkte aber halten wir seine Ansicht für entschieden irrig


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[0318] Ein unbequemer Konservativer notwendig werde, in aufgelösten Reihen, werde, wie die Militärschriftsteller hervorhoben, weit mehr als früher auf die Gesinnung, Stimmung und Energie des einzelnen Mannes ankommen, werde die Wirkung der den einzelnen fort¬ reißenden eng zusammengedrängten Masse ganz wegfallen und die Einwirkung der Führer in der Schlacht auf ein sehr geringes Maß beschränkt bleiben. Schlecht genährte und verkümmerte Reservisten würden die in solcher Lage erforderliche Spannkraft nicht haben, auch wenn sie den Willen hätten, ein jeder für sich ganz allein ihr Bestes zu leisten und ihr Leben zu opfern, sie würden aber in einer Zeit des herrschenden Kapitalismus auch den Willen nicht haben, denn für die Kupons der Reichen schlägt sich der gemeine Mann nicht; soll er sich mit Begeisterung und Todesverachtung schlagen, so muß er ein Vaterland haben, worin es ihm gut geht, und wo er sich wohlfühlt. Man darf — fügen wir hinzu — bei den Erfolgen von 1870 nicht vergessen, daß der Krieg in eine Zeit des wirtschaftlichen Aufschwungs und der politischen Freiheit fiel, wo es nicht allein für die Großen, sondern auch für die Kleinen eine Lust war zu leben, daß die Zahl der Unzufriednen, die sich in der Sozial¬ demokratie zusammenfanden, damals noch unbedeutend war, und daß bis dahin weder die Katholiken noch die preußischen Unterthanen polnischer Zunge zur Unzufriedenheit Anlaß gehabt hatten; die deutschen Reservisten und Land¬ wehrmänner wußten also sehr genau, wofür sie sich schlugen. Bei dieser Lage der Dinge, meint Meyer, sei es Selbsterhaltungspflicht der Monarchie, sich mit den Parteien gut zu stellen, die ihren Anhang in der Masse, namentlich unter den Lohnarbeitern haben; wollte sie sich auf die Parteien stützen, die das Kapital vertreten, und denen sich nur gezwungen ein Teil der ärmern Bevölkerung anschließt, so würde ihr nichts übrig bleiben, als auf die all¬ gemeine Dienstpflicht zu verzichten und auf das Söldnerheer zurückzugreifen. Wir stellen diese Gedankenreihe zur Erwägung, ohne sie zu kritisiren. Was die Reformvorschläge des Verfassers betrifft, so fallen sie der Hauptsache nach mit dem zusammen, was man gewöhnlich Sozialreform nennt. Der Über¬ führung eines Teils des Kapitals in den Besitz der arbeitenden Klassen durch Produktivgenossenschaften haben nach seiner Ansicht die Jndustriekartelle gut vorgearbeitet. Die Kartellleitung ermittelt den Bedarf und bestimmt das Was, das Wie und das Wieviel der Produktion. Die Unternehmer spielen dabei die überflüssigste Rolle von der Welt; sie sind nur noch Rentenberechtigte; als Eigentümer sind sie expropriirt, wenn man zum Eigentumsbegriff das Recht der freien Verfügung über das Eigentum rechnet (S. 317). Meyer deckt unsers Erachtens die Tendenzen, die die gegenwärtige wirt¬ schaftliche und politische Lage unsers Vaterlandes bestimmen, durchweg richtig auf und irrt sich nur darin, daß er sie, z. B. in Beziehung auf die Not der ländlichen Grundbesitzer, für weiter fortgeschritten hält, als sie in Wirklichkeit sind. In einem Punkte aber halten wir seine Ansicht für entschieden irrig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 55, 1896, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341863_222941/318>, abgerufen am 01.09.2024.